"Sie konnten Ihre Identität nicht nachweisen"

Seite 5: Jean Renoir muss draußen bleiben

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Ich kannte mal eine französische Buchhandlung, in der auch französische Filme angeboten wurden. Plötzlich waren die aus Frankreich importierten Klassiker von Jean Renoir, Jean Cocteau und Max Ophüls verschwunden. Bei einer Kontrolle hatte man den Ladenbesitzer darauf aufmerksam gemacht, dass er Filme ohne FSK-Freigabe nur in einem vom Rest des Sortiments abgetrennten Bereich anbieten dürfe und kenntlich machen müsse, dass es sich um Ware handele, die ausschließlich an Volljährige abgegeben werden dürfe. Dem Besitzer war das zu kompliziert, er wollte keine Filme unter dem Ladentisch verkaufen, ein Regal mit Ware ab 18 Jahren wollte er nicht haben, weil er geschäftsschädigende Gerüchte über Schweinkram in seinem Laden fürchtete (ein substantieller Teil seiner Kundschaft kam aus dem Volkshochschul-Milieu). Wer will, kann sich über den übervorsichtigen Buchhändler lustig machen. Das ändert nichts daran, dass die französischen Filmklassiker aus dem Sortiment flogen. Kein Partie de campagne von Renoir mehr, kein La Tendre ennemie von Ophüls, und Cocteaus La Belle et la Bête war auch verschwunden, weil dieser Film zwar mittlerweile ohne Altersauflage vertrieben werden darf, nicht aber auf der in Frankreich gepressten DVD, denn diese hat keine FSK-Freigabe. Alles für den Jugendschutz.

Häufig empfiehlt es sich, selbst dann die Importware zu kaufen, wenn ein Film auch in Deutschland auf DVD erschienen ist. Man weiß nie genau, ob wegen einer Uralt-Freigabe der FSK mit damaligen Schnittauflagen etwas fehlt, und es ist alles andere als selten, dass ein großer Unterhaltungskonzern ein paar Schätze aus dem Archiv in das Bonusmaterial einer US-DVD packt, während die deutsche DVD so tolle Sachen wie finnische Untertitel und fünf von einem Lexikon übernommene Sätze zur Karriere des Regisseurs enthält. Man muss noch immer damit rechnen, dass im Ausland eine restaurierte Fassung angeboten wird und in Deutschland eine abgenudelte Kopie auf VHS-Niveau. Jeder kriegt, was er verdient. Mich würde es überhaupt nicht wundern, wenn sich ein Konzern hin und wieder sagen würde: In einem Land, in dem man so mit Filmen umgeht, kann man zur Kostenreduzierung auch mal mindere Ware abladen, die man uns in Ländern mit weniger Jugendschutz von Anno Dazumal, dafür aber mit einer kritischeren Öffentlichkeit, um die Ohren hauen würde.

Wer haben will, was in anderen Ländern selbstverständlich ist, landet mitunter im virtuellen Pornoladen, wo uns das deutsche Jugendschutzgesetz eine kurios anmutende Nische für Filmkultur beschert hat. Eines meiner Lieblingsmusicals ist Broadway Melody of 1940. Nie gab es eine bessere Steppnummer als "Begin the Beguine", nie zuvor und nie danach hatte Fred Astaire eine Partnerin, die ihm so ebenbürtig war wie Eleanor Powell. In Deutschland ist das Musical nicht auf DVD erschienen. Bei Filmen, die hierzulande nicht im Kino liefen, ist das häufig so (1940 mühte sich Marika Röck erfolglos mit dem Versuch ab, es Eleanor Powell gleichzutun). Das muss nicht unbedingt daran liegen, dass es keine Synchronfassung gibt und der Markt für untertitelte Filme sehr klein ist.

Eine Deutsch synchronisierte Version von Broadway Melody of 1940 lief erstmals 1983 im Fernsehen, zuletzt zeigte die ARD den Film 2010. Eine FSK-Freigabe gibt es offenbar nicht - nicht weil an dem Film etwas auszusetzen wäre, sondern weil eine Freigabe nicht beantragt wurde. Des Rätsels Lösung könnte in dieser Mitteilung der FSK zu finden sein: "Die öffentlich-rechtlichen Sender sind grundsätzlich an die Freigaben der FSK gebunden, über Ausnahmen können sie selbst entscheiden." Man darf also vielleicht hoffen, dass ausnahmsweise die Vernunft siegte und sich die zuständigen Leute bei der ARD sagten: Das ist ein Musical von 1940, und wir entscheiden jetzt, dass Kinder Eleanor Powell und Fred Astaire sehen dürfen, auch wenn ihr Tanz von der FSK nicht geprüft und darum nicht freigegeben wurde. Ein DVD-Anbieter allerdings müsste eine solche Freigabe beantragen (und dafür bezahlen), wenn er Broadway Melody of 1940 auf den deutschen Markt bringen will. Wenn der potentielle Anbieter entscheidet, sich das Geld für die Prüfung zu sparen, weil es sich nicht rechnet, gibt es keine DVD.

Das könnte die Erklärung dafür sein, dass viele Filme, die nach der Gründung der FSK nicht in deutschen Kinos liefen und die ARD und ZDF irgendwann synchronisieren ließen, nie auf DVD erschienen sind. Und es könnte meine private Verschwörungstheorie sein, denn beweisen kann ich es nicht. Je größer der Unterhaltungskonzern (bei Broadway Melody ist es die Firma Warner), desto allgemeiner die Floskeln, mit denen Anfragen beantwortet werden. Private Fernsehsender übrigens dürfen nicht selbständig über Ausnahmen von der Regel entscheiden. Sie müssen bei der FSK einen Antrag stellen. Das bringt mich auf einen Gedanken. Nach der Einführung des Privatfernsehens wurden da Filme wie Veit Harlans Verwehte Spuren und Josef von Bákys Annelie (1941) ausgestrahlt. Annelie vermittelt auf eine nicht ungeschickte Weise - das Drehbuch schrieb die Indoktrinationsexpertin Thea von Harbou -, warum das Frauenideal der Nazis (Pflichterfüllung, Aufopferung für Volk und Vaterland, Kinder kriegen, dem Mann eine ihm untergeordnete Kameradin sein) das einzig richtige ist. Die FSK gab den Film 1952 und 1963 mit Schnittauflagen frei, die an der ideologischen Botschaft nichts änderten.

Keine Filmfeierstunde für Eleanor Powell und Fred Astaire

Könnte es also sein, dass Annelie gezeigt wurde, weil es einfacher war, das Programm mit Nazi-Propagandafilmen mit dubioser FSK-Freigabe aus der Nachkriegszeit zu bestücken als mit Filmen, gegen die kein Kinderschützer etwas einwenden würde, die aber von der FSK nie geprüft und darum auch nicht freigegeben wurden? Wer das ganz genau wissen will: Viel Glück. Ich gebe zu, dass mir inzwischen die Zeit für solche Recherchen zu schade ist. Man gerät da in ein Gestrüpp aus Bestimmungen, Zuständigkeiten und Pseudo-Antworten und ist am Ende so schlau wie am Anfang. Festzuhalten bleibt, dass die in Großbritannien erschienene DVD mit Fred Astaire und Eleanor Powell von Amazon.de nur an Erwachsene geliefert werden darf, mit Identitäts- und Altersprüfung. Bei Annelie, den ich Kindern auf keinen Fall zeigen würde, gibt es solche Hürden nicht. Die Heldin schenkt dem Vaterland drei Söhne, von denen zwei im Weltkrieg sterben. 1941, als wieder Weltkrieg ist, kann sie an ihrem 70. Geburtstag ruhig einschlafen, nachdem sie erfahren hat, dass ihr dritter Sohn noch lebt (und für den Führer an der Front steht). So wünschten sich die Nazis die deutsche Mutter.

Einer der "Kundenrezenten" von Amazon gibt fünf Sterne und ist immer noch fasziniert von dem Film, den er als Jugendlicher im Fernsehen gesehen hat. Die unheimliche Kontinuität vervollständigt der Kommentar einer alten Dame, die sich über die Wiederbegegnung mit Annelie freut, weil das der erste Film war, den sie 1944 in einer der "Jugendfilmstunden des Deutschen Reiches" sehen durfte (musste). Da hat die Nostalgie ein Stelldichein mit dem Grauen der NS-Diktatur. Diese von der Hitlerjugend und vom Bund Deutscher Mädel organisierten Propagandaveranstaltungen fanden ein- bis zweimal im Monat statt, und das vorzugsweise am Sonntagvormittag, weil die Kinder, statt zur Kirche zu gehen, Filme wie Annelie ("Volkstümlich wertvoll", "Staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvoll") sehen sollten, mit denen ihnen die Nazis einimpften, was sie denken sollten. Sehr wichtig war das Gruppenerlebnis, weil es die Wirkung verstärkte. Die Betreiber der größten Kinos mussten ihre Säle zur Verfügung stellen. Bei den "Filmfeierstunden", wie die Veranstaltungen zum Eintrichtern von Nazidreck auch hießen, versammelten sich die Kinder vor dem Kino. Mit wehenden Fahnen, Musik und militärischem Drill marschierten sie dann in den Vorführsaal, wo sie durch Filme wie Annelie erfuhren, dass die Disziplin über alles geht. Die FSK prüfte zuletzt 2004. Resultat: Geeignet für alle Altersgruppen. Und selbstverständlich schützen wir die Jugend.

Wenn Annelie mit "FSK 0"-Aufdruck vertrieben wird ist das nicht lustig, weil es den Eltern suggeriert, dass sich ein Gremium von Experten nach eingehender Prüfung davon überzeugt hat, dass der Nazischinken keiner ist und den Kindern nicht schaden kann. Andere Aspekte des real existierenden Jugendschutzes sind eher kurios. Vor einiger Zeit habe ich mit Hilfe einer Suchmaschine einen privaten deutschen Verkäufer ausfindig gemacht, der die vergriffene US-DVD (keine FSK-Freigabe) von Broadway Melody of 1940 anbot. Vielleicht hatte er auch Schmuddelware im Sortiment, oder er wusste um die Fährnisse des Jugendschutzes und wollte auf Nummer Sicher gehen. Ich weiß es nicht. Jedenfalls musste ich mich, um die DVD erwerben zu können, bei einem auf Filme ab 18 spezialisierten Portal anmelden, nach vorheriger Altersprüfung. Zu 99 Prozent sind es Pornos, die da angeboten werden. Aber man kann eben auch erstaunliche Entdeckungen machen wie Broadway Melody of 1940.

Nachdem mir die Herausgabe des Pakets mit "Le cinéma premier" verweigert worden war sah ich mich nach alternativen Bezugsquellen um: bei Amazon.fr, bei Amazon.com und - man weiß ja nie - beim Portal für Pornofilme, bei dem ich angemeldet bin, weil ich ein Musical mit Eleanor Powell und Fred Astaire kaufen wollte und weil wir hier ganz toll die Jugend schützen. Seitdem kriege ich Mails mit allerlei Angeboten. Amazon.fr teilt mir mit, dass "Le cinéma premier" zum Sonderpreis zu haben ist. Amazon.com rät zum Kauf von "Gaumont Treasures: 1897-1913" (die um die Hälfte gekürzte US-Version der Box aus Frankreich). Und auch das Pornoportal informiert mich, was gerade günstig und zu empfehlen ist. Den Algorithmen, die ermittelt haben, dass ich mich für Evil Anal 4, A Prayer For the Fucking und Big Tits Victimized interessieren könnte, möchte ich auf diesem Wege herzlich danken. Eigentlich waren es aber doch die Blumenkohlfee von Alice Guy und die Bibelfilme von Louis Feuillade, die ich gern haben wollte, nicht Tamed by a Lesbian und DP Sluts mit Mea Melone. Doch ich greife vor.

Teuflischer Plan

Mein Problem hatte ich jetzt schon so oft geschildert, dass ich es kurz und knapp zusammenfassen konnte, als ich von der DHL aus der Warteschleife entlassen und zu einem Herrn im Callcenter durchgestellt wurde: Hans Schmid, Johann Michael Schmid, Alters- und Identitätsprüfung, Herausgabe des Pakets verweigert. Der Herr am anderen Ende der Leitung wirkte verunsichert. Also wiederholte ich das Ganze. Nachdem ich zweimal die Sendungsnummer vorgelesen hatte revanchierte er sich, indem er mir seinerseits meine Adresse vorlas. Ich wusste aber schon, wo ich wohne. Also das Ganze nochmal von vorn. Er wolle sehen, was er für mich tun könne, versprach der Herr. Das klang nach "Don’t call us, we’ll call you" und war vermutlich auch so gemeint. Von dem Herrn im Callcenter habe ich nie mehr etwas gehört. Geistesgegenwärtig bat ich ihn vor dem Ende des Gesprächs um eine Mail-Adresse, an die ich mich wenden könne. Dadurch ersparte ich mir erneutes Herumklicken auf der "Mein Kundenservice"-Seite der DHL. Wer auch ein Problem mit einem DHL-Paket hat: Eine Mail an kundenservice.de@dhl.com geht am schnellsten. Aber etwas dauern tut es natürlich schon.

Während ich auf eine Antwort wartete durfte ich per Sendungsverfolgung miterleben, wie es mit meinem Paket weiterging. Die Frist von sieben Werktagen für die Aufbewahrung des Pakets entfiel, weil ich bereits erfolglos versucht hatte, es abzuholen. Hans war nicht Johann und Johann war nicht Hans, sagte die Regel. Es würde nun nichts anderes übrig bleiben, sagte die Chefin der Postfiliale, als das Paket an den Absender zurückzuschicken, denn: "Sie konnten Ihre Identität nicht nachweisen." Als von einer Minute zur anderen identitätslos gewordener Mensch las ich unter "DHL Sendungsverfolgung" diese Informationen: "Aufgrund einer negativen Identitätsprüfung konnte die Sendung nicht zugestellt werden" und "Die Sendung wurde dem Empfänger per vereinfachter Firmenzustellung ab Eingangspaketzentrum zugestellt". Im ersten Moment der Verwirrung dachte ich, mit beidem gemeint zu sein. Da Hans Schmid und Johann Michael Schmid zwei verschiedene Personen sind hatte man mir das Paket gleichzeitig zugestellt und nicht zugestellt. Aber das war natürlich Unsinn (wobei: Unsinn schließt beim Jugendschutz gar nichts aus). Die vereinfachte Firmenzustellung galt dem Versandhändler, bei dem ich die DVDs bestellt hatte und der sie nun - ohne Identitäts- und Altersprüfung - zurückbekam. Bei Privatpersonen wie mir ist gar nichts vereinfacht, auch wenn das Ergebnis Schwachsinn ist.

Oder fällt jemandem ein Szenario ein, in dem die Nichtherausgabe des Pakets dem Schutz der Jugend dient? Etwas in der Art: Hans Schmid ist ein Kind, das sieben Stummfilm-DVDs bestellt hat (oder meinetwegen auch Pornos: Evil Anal 1-7), von denen sich ohne FSK-Freigabe nicht sagen lässt, ob sie jugendgefährdend sind oder nicht. Mit FSK-Freigabe lässt sich das ebenfalls nicht sagen, weil es sich beispielsweise um Nazi-Propagandafilme handeln könnte, die in einer Zeit freigegeben wurden, als die deutsche Gesellschaft (und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das Prüfgremium der FSK ebenso, als Abbild der Gesellschaft) noch mit Altnazis durchsetzt war, aber das soll uns hier so wenig interessieren wie sich der Jugendschutz dafür interessiert. Das Kind Hans Schmid also schickt seinen verantwortungslosen Vater oder Onkel vor, den im selben Haus wohnenden Johann Michael Schmid (Adresse von Hans und Johann ist identisch), der die brisante Ware abholen soll, weil er schon volljährig ist. Die Bestimmungen zum Jugendschutz durchkreuzen den teuflischen Plan.

In dem Fall würde ich Hans und Johann beim nächsten Mal raten, das Gewünschte einfach herunterzuladen oder gleich im Ausland zu bestellen (das kann der kleine Hans ganz allein). Als Alternative könnte Johann Michael die Blumenkohlfee selbst ordern, auf seinen Namen und nicht auf den von Hans, sich korrekt ausweisen, das Paket in Empfang nehmen und an den kleinen Hans weiterreichen. Damit wäre den Bestimmungen Genüge getan, wir hätten die Einhaltung der Regeln geschützt und die Welt könnte endlich wieder eine Scheibe sein, die vom Jugendschutz bewacht wird, damit kein Kind herunterfällt.

Die dritte (und letzte) Episode wird "Eine Lieferung ist nicht möglich" heißen. Das klingt resignativ und ist doch kein Grund zum Verzagen. Der Weg zur Blumenkohlfee ist äußerst einfach. Man umschifft das Eiland des Postident-Verfahrens, lässt die Regeln Regeln sein und kümmert sich nicht mehr darum. Glücklicherweise ist die Alternativlosigkeit nur eine Fiktion der Politik. Bis diese Einsicht bei den Funktionären des Jugendschutzes angekommen ist wird es wohl noch etwas dauern.

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