"Sie nahmen Kunst sehr ernst"

Aus: "Nostalghia", sowjetisch-italienischer Film, 1983. Mit Drehorten in der Toskana und in Latium.

"Das ist nicht nur eine Kommunikation zwischen Russen" - Andrej Tarkowski, Sohn des Regisseurs von "Solaris" im Interview

"Meine Entdeckung von Tarkowski war wie ein Wunder. Plötzlich fand ich mich vor der Tür zu einem Raum stehen, dessen Schlüssel mir bis dahin nie gegeben worden waren. Es war der Raum, den ich immer betreten wollte und wo er sich frei und voller Leichtigkeit bewegte."

Ingmar Bergman

"Für mich ist Tarkowski Gott."

Lars von Trier

Welche Bedeutung hatten Italien und die Toskana im Leben des Regisseurs von Solaris, Stalker und Nostalghia - um nur die bekanntesten zu nennen - und wie verstand er Poetik? Ein Gespräch mit Andrej Andreevič Tarkowski, Leiter des Andrey Tarkowsky International Institute und Sohn des berühmten Filmemachers Andrej Arsenjewitsch Tarkowski.

Wie viel von Ihrem Vater steckt in Ihnen, wie viel von Ihrer Mutter? Wessen Weltanschauung lebt in Ihnen weiter?

Tarkowski: Ich kann mich selbst nicht so weit analysieren. Was das Temperament und die Weltanschauung angeht, so stimmt sie, denke ich, sehr mit der meines Vaters überein. Ich habe seine Art des Sehens weitgehend geerbt. Der Film, den ich über ihn gedreht habe, hat dies wahrscheinlich bestätigt. Ich habe nach vielen Jahren versucht, mich mit seiner Denkweise auseinanderzusetzen und konnte feststellen, dass sich unser künstlerischer Geschmack sehr ähnelt.

Auch meine Mutter war eine besondere und sehr intuitive Künstlerin. Neben einem außergewöhnlichen Mann steht immer eine außergewöhnliche Frau. Sie war sehr stark. Dann ist da natürlich ein Teil in mir, der sich nicht von meinen Eltern ableiten lässt.

Wie geht die Arbeit im Andrey Tarkowsky International Institute (mit Sitz in Florenz, Paris und Moskau) voran? An welchen Projekten arbeiten Sie gerade? Welche Ambitionen oder Zweifel haben Sie?

Andrei Andreevič Tarkowski. Bild: Screenshot Youtube

Tarkowski: Es gibt viele Ambitionen. Auch viele Projekte, gerade im Hinblick auf das nächste Jahr, zum 90. Geburtstag meines Vaters. Wir möchten eine Reihe von Projekten in Italien, Russland und auch in anderen Ländern umsetzen, weshalb ich gerade etwas gestresst bin. In einigen Tagen fahre ich nach Russland, wo gerade unser Landhaus in Myasnoe - das man oft in den Filmen sieht - restauriert und zu einem kulturellen Museumszentrum, einem Tarkowski-Zentrum, umgewandelt wird.

Dieses Haus lag meinem Vater sehr am Herzen - war es doch das einzige Haus, das er je besessen hat. Er liebte es und wann immer er konnte, fuhr er dorthin. Darüber hinaus sind Veröffentlichungen von Nachdrucken und neuen Buchbändern in Russland geplant; Erzählungen aus seiner Jugend sowie die Neuauflage von Drehbuchsammlungen sollen hier in Italien erscheinen. Parallel dazu läuft gerade ein Restaurierungsprojekt der Vollversion des Andrei Rubljow, das bereits vor einigen Monaten begonnen hat und ebenfalls nächsten Jahr zum Jubiläum präsentiert werden soll.

Das Thema der Spiritualität, der russischen Seele

Neben einem ersten Dokumentarfilm über Ihren Vater hatten Sie vor, einen Spielfilm zu drehen. Welches Sujet hat der Film?

Tarkowski: Ich arbeite immer noch am Drehbuch, das das Thema der Spiritualität, der russischen Seele, des Zugangs zur Natur und zum eigenen Land aufgreift. Es basiert auf klassischen Schriftstellern wie Turgenew und seinen Aufzeichnungen eines Jägers. Interessant finde daran die Perspektive des Kindes. Im Moment musste ich das Projekt allerdings auf Eis legen, weil die Arbeit im Institut meine ganze Zeit in Anspruch nimmt.

Ich erkenne darin die Sichtweise Ihres Vaters in seinem ersten Film Iwans Kindheit.

Tarkowski: Auch des zweiten, denn auch in Die Straßenwalze und die Geige geht es um ein kleines Kind. Mein Vater sagte immer, dass Kinder eine unvermittelte Beziehung zum Absoluten und eine direkte Verbindung zum Unterbewusstsein besitzen, die im Erwachsenenalter unterbrochen wird, weil wir dann zu viel wissen, zu viel lernen und zu autark sind. In den Aufzeichnungen eines Jägers erzählen die Kinder von ihrer Beziehung zur Realität, zur Magie, zum Glauben, zum Übernatürlichen… Das ist in gewisser Weise ein sehr russisches Thema.

Was bedeutet es, in einer Familie von Poeten geboren und aufgewachsen zu sein?

Tarkowski: Ich gebe zu: es ist sehr schön. Für mich war es eine wunderbare Erfahrung, auch wenn sie sehr früh unterbrochen wurde. Mit einem Poeten zu leben, lässt dich die Welt mit anderen Augen sehen. Es öffnet dir die Augen. Dieses Beisammensein gewährt unglaubliche Einblicke auf die Realität. Das ist etwas, das ich mit meinem Vater sehr genossen habe und das ich vielleicht am meisten vermisse, seit er von uns gegangen ist und eine große Leere hinterlassen hat.

Seine Art, eine ganz besondere Atmosphäre um sich herum zu schaffen, fast wie die in seinen Filmen, fehlt mir sehr. Mein Vater war nicht nur ein Regisseur, er war vor allem ein Poet. Ein Poet lebt ständig in seinen Werken und wenn man in seiner Nähe ist, erlebt man in gewisser Weise auch sein Werk mit. Leider habe ich nicht viel Zeit mit meinem Großvater verbracht, der ebenfalls ein außergewöhnlicher Mensch und Dichter war. Mein Vater hat seine Poetik geerbt. Er hat sie nicht erlernt, sondern hat sie vielmehr mit der Muttermilch aufgesaugt. Arsenis Poesie und die meines Vaters ähneln sich sehr, auch wenn letztere in Bildern projiziert wird.

Was hat Italien für Ihren Vater bedeutet? Schließlich hat er seine erste Auszeichnung in Venedig erhalten.

Tarkowski: Ja, richtig. Den Goldenen Löwen, im Jahr 1962. Es war eine seiner ersten Auslandsreisen. Italien hat ihm sehr gut gefallen. Nicht nur wegen der Schönheit des Landes, sondern auch wegen der italienischen Filmkunst, die er studierte und liebte. Italien war für ihn daher ein Land, in dem er sich sehr wohlfühlte. Für sein Exil wählte er gerade Italien, weil es das einzige Land war, in dem er ohne sein Russland überleben konnte. Dies milderte den für ihn tödlichen Schlag der Trennung von der Heimat.

Nostalghia

War ihm nicht die ganze Welt, einschließlich Italien, zuwider, nachdem er erkannt hatte, nicht mehr nach Russland zurückkehren zu können?

Tarkowski: In gewisser Weise ist ein Künstler immer im Exil, sogar bei sich daheim. Nostalghia widmet sich eben diesem Thema. Ein wahrer Künstler ist immer auch ein Visionär, der in die Zukunft sieht. Das erschreckt seine Mitmenschen. Aus diesem Grund wird er meist sehr viel später verstanden. Ein Intellektueller, ein Poet ist daher immer isoliert und distanziert, auch wenn er im eigenen Land lebt. Mein Vater wurde aus politischen Gründen von Russland getrennt.

Ich glaube, Italien, Florenz, die Renaissance, die Malerei und die Kunst waren ihm auch aus humanistischer Sicht wichtig. Einige Journalisten fragten ihn, ob sich seine Art zu filmen ändern würde, weil er in Italien lebe. Er verneinte das und betonte, er sei ein russischer Künstler. Er werde seine Filme in Italien machen, materiell werde er mit den Mitteln arbeiten, die ihm zur Verfügung stünden, doch seine Vision und seine Poetik würden sich sicherlich nicht ändern.

War seine Suche nach den wunderschönen Drehorten in der Toskana und Mittelitalien (Bagno Vignoni, San Galgano, die versunkene Kirche etc..) nicht auch ein Abschied? Können wir es im Nachhinein als ein unbewusstes, romantisches, verträumtes Lebewohl deuten? Als er Nostalghia drehte, war er bereits Exil und somit in der letzten Phase seines Lebens.

Tarkowski: Während der Dreharbeiten zu Nostalghia konnte er noch nicht vorausahnen, dass er nie wieder nach Russland zurückkehren würde. Letztendlich führt ein Kunstwerk ein Eigenleben. Der Autor bringt nicht nur das ein, was er will, sondern auch seine Stimmung, sein Unterbewusstsein, seinen momentanen Zustand.

Als er den fertigen Film Nostalghia sah, war er selbst über die düstere und traurige Atmosphäre überrascht. Er wunderte sich später, wie prophetisch das für ihn gewesen war, denn, wie die Hauptfigur Gortschakow, kehrt er nicht mehr nach Russland zurück, sondern stirbt im Exil. Auch Opfer ist letztendlich autobiografisch. In der ersten Fassung des Drehbuchs ist der Held krebskrank und steht kurz vor dem Tod.

Es gab keinen Atomkrieg, sondern eine persönliche Katastrophe. Ja, Opfer können wir in diesem Sinne als sein spirituelles und künstlerisches Testament interpretieren. Es ist auch sein letzter Film. Während der Dreharbeiten erkrankte er. Er war bereits erschöpft und konnte die Trennung von mir und den Rest der Familie nicht länger ertragen. Ich wurde damals noch als Geisel in Russland festgehalten. All dies forderte seinen Tribut. Die Postproduktion erfolgte dann im Krankenhaus in Paris.

"Seine Filme zu analysieren, ist grundlegend falsch"

Bagno Vignoni ist wirklich ein magischer Ort. Ich glaube, Ihr Vater hat die Magie dieses Ortes zur Gänze erfasst. Ich gehe oft dorthin.

Tarkowski: Ich bin auch oft dort. Es ist noch unberührt - vor allem im Winter, wenn niemand da ist.

Ihr Vater muss intuitiv erfasst werden, denke ich. In der kreativen oder vorkreativen Phase lässt er sich sehr fallen. Das hat er selbst immer gesagt, dass Intuition und Instinkt etwas sehr Menschliches sind.

Tarkowski: Ja, er nährte sich von diesem sehr ausgeprägten, fast weiblichen Instinkt. Um sich seinen Filmen auf die richtige Weise zu nähern, bedarf es Einfühlungsvermögen. Man braucht sie nicht zu analysieren. Der Betrachter spürt sie, sie dringen in ihn ein.

Wie jedes Kunstwerk von jedem verstanden werden sollte. Es darf kein Rätsel sein, keine Scharade, die man erst studieren muss, um sie zu verstehen, wie uns die zeitgenössische Kunst leider weismachen will. Ein Kunstwerk muss auch von Kindern verstanden werden.

Für mich sind seine Filme eine emotionale und spirituelle Reise. Dahinter steckt natürlich auch eine Philosophie, die allerdings ihrerseits immer auf diesem emotionalen, zwischenmenschlichen Kontakt basiert und auch einen religiösen Aspekt birgt. Seine Filme zu analysieren, ist grundlegend falsch, denn daraus entsteht nichts Interessantes. Das Geheimnis der Kunst besteht doch gerade darin, auf mysteriöse und unerklärliche Weise etwas zu vermitteln.

Deshalb werden seine Filme von allen auf universelle und gleiche Weise verstanden. Das ist nicht nur eine Kommunikation zwischen Russen. Wir mögen aus verschiedenen Nationen stammen, aber in unserem Menschsein, in unserer Struktur, in unserer Seele sind wir gleich. In gleicher Weise geschaffen, nach dem gleichen Ebenbild.

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