"Sie nahmen Kunst sehr ernst"

Seite 2: "Diese Kunstform ist extrem gewalttätig"

Poesie ist Instinkt und vor allem Sprache. Hat Ihr Vater die russische Sprache geliebt? Er spricht von der Unübersetzbarkeit der Sprachen und damit vielleicht auch von der Unmöglichkeit ein Kunstwerk zu reproduzieren. Welchen Wert hatte die russische Sprache für ihn?

Tarkowski: Er spricht vor allem von Sprache, Semiotik und der traditionellen schriftlich festgehaltenen Poesie, die auf Sprache basiert. Es ist unmöglich, ein Gedicht in einer Sprache, die nicht unsere ist, perfekt zu verstehen. Wie kann ein Russe Dantes Gedichte in der Originalsprache verstehen? Wie kann jemand, dessen Muttersprache nicht Russisch ist, Puschkin verstehen? Das ist unmöglich. Man kann das Gedicht erahnen und lieben, dennoch wird man es nicht verstehen.

Mit dem Film verläuft das anders, denn im Film wird mit der Wirklichkeit gearbeitet. Deshalb sind die Werke meines Vaters universell verständlich, denn darin ist ein Baum ein Baum und kein Gemälde. Es handelt sich nicht um eine Sprache, die gedeutet werden muss.

Während die Dialoge eher zweitrangig sind, sind die Atmosphäre und die visuellen Eindrücke enorm wichtig. Es bedarf keiner Vermittlung durch irgendeine Art von Übersetzung. Wir gehen ins Kino, sehen uns 1,5 Stunden an, was uns gegeben wird, ja, werden mit dem, was der Regisseur uns mitteilen will, regelrecht bombardiert.

Diese Kunstform ist extrem gewalttätig - und doch gibt sie uns die Möglichkeit, die Unübersetzbarkeit der Poesie zu umgehen.

Erfasst ein Russe die Filme Ihres Vaters dennoch besser?

Tarkowski: Ein Russe würde sofort "ja" sagen. Ich treffe viele Menschen, auch durch meine Arbeit im Institut, für das ich seit fast 30 Jahren tätig bin, und ich konnte feststellen, dass die Filme meines Vaters überall die gleichen Eindrücke hinterlassen.

Unter uns Russen herrscht natürlich ein "idem sentire", eine kulturelle Homogenität, die uns stark verbindet. Aber es wird oft mit zu viel Eifer behauptet, ein Tarkowski könne nur von seinen eigenen Leuten verstanden werden. Das ist einfach nicht wahr. Ich, als sein Sohn, kann darin Dinge sehen, die andere nicht erkennen können: persönliche Erfahrungen, Träume, Familiengeschichten, Erinnerungen usw…

Die Begegnung mit seinen Filmen ist jedoch immer sehr persönlich, wie bei jedem großen Kunstwerk. Es scheint uns zu gehören, es scheint allein für uns gemacht, für uns geschrieben. Dies ist meine Art, Kunstwerke zu sehen und auszuwählen.

Ich glaube, diesen Zugang zur Kunst habe ich von ihm geerbt. Und dieses Einverständnis mit dem Autor stellt immer einen menschlichen Kontakt dar - und durch das Menschliche kommen wir dem Absoluten ein wenig näher. Deshalb sind Kunstwerke so schön: Sie geben uns das Gefühl, nicht allein zu sein.

"Kunst ist zur kontinuierlichen, inhaltslosen Selbstverherrlichung des Künstlers geworden"

Strecken Sie Ihre Hand nach dem Göttlichen und Transzendenten, wie es Ihr Vater tat?

Tarkowski: Ich bin kein religiöser Mensch im klassischen Sinne. Meine Lebenserfahrung sagt mir allerdings, dass es etwas gibt, das über unser Verständnis hinausgeht. Für mich ist das etwas Immanentes und sehr Reales. Man muss es nur zu spüren wissen. Im Alltag tun wir es nicht; wir neigen dazu, unser Leben oberflächlich zu leben. Aber hin und wieder sollten wir daran denken, dass wir Teil von etwas Größerem sind.

Auch etwa durch ein Kunstwerk kann ich das spüren, das in mir die Idee weckt, nicht mehr dem Menschen oder seinem Schöpfer zu gehören, sondern darüber hinauszugehen. Deshalb sind Kunstwerke ewig. Leider gibt es heute nur noch sehr wenige davon, weil niemand mehr an irgendetwas glaubt. Kunst ist nicht einmal mehr dieselbe.

Kunst ist fast zum Beruf und zur kontinuierlichen, inhaltslosen Selbstverherrlichung des Künstlers geworden. Ich komme aus den 1970-er Jahren in Russland, wo es Künstler gab, die ihr ganzes Leben auf ihre Kunst setzten. Sie nahmen das sehr ernst.

Ich habe den Eindruck, dass jetzt niemand mehr etwas riskieren will. Vielleicht liege ich falsch, aber ich denke, dass in vielen Bereichen (Film, Malerei, Literatur…) eine totale Verarmung im Gange ist. Ich dachte, das sei eine Einstellung, die mit dem Alter kommt, aber das stimmt nicht.

Wir erleben tatsächlich eine dunkle Phase unserer Geschichte. Doch alles verläuft zyklisch, weshalb ich denke und hoffe, dass auch diese Phase vergehen wird. Vielleicht wird es eine neue Renaissance geben. Ich werde sie nicht zwar nicht miterleben, aber ich hoffe, es wird sie geben.

Corona-Lockdown: "In den Filmen in gewisser Weise vorausgesehen"

Was hätte Ihr Vater zu dieser bedauernswerten pandemischen Situation gesagt, die wir gerade erleben?

Tarkowski: In gewisser Weise hatte er das in seinen Filmen bereits vorausgesehen. Er lebte und arbeitete in den schrecklichsten Situationen, in denen es keinerlei kreative Freiheit gab und er sich jedes Werk erkämpfen musste. Damals war es also nicht unbedingt einfacher als jetzt. In 20 Jahren hat er fünf Filme unter enormen Schwierigkeiten gedreht. Nur sein Charakter, sein Glaube an sich selbst und an seine Arbeit haben es ihm ermöglicht, diese Filme fertigzustellen.

Aber er sagte immer, dass besonders der Künstler, wenn er glaubt, ein solcher zu sein und Talent zu haben, ungeachtet der Bedingungen weitermachen müsse. Er war in diesen Dingen sehr, vielleicht zu kategorisch. Man sollte jeder Situation etwas Positives abgewinnen, auch diesem Lockdown, der es uns erlaubt hat, ein wenig allein zu sein und ein wenig in uns hineinzuhorchen. Das hat die tägliche Routine unterbrochen. Die vielen Todesfälle waren natürlich eine Katastrophe. Mein Vater war sehr energisch und voller Lebenskraft.

Es war nicht negativ eingestellt, sondern war, im Gegenteil offen, neugierig. Er stand nie still, er loderte. Er war immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten. Er hat sich nur bis zu einem gewissen Grad beschwert. Immer blickte er nach vorne.

Vielleicht ist dies eine Eigenschaft von Genies, die das Talent haben, sich auf ihre Arbeit, auf einen Punkt, auf ein Thema zu konzentrieren, ohne sich durch irgendetwas ablenken zu lassen. Im Leben gibt es so viele Ablenkungen; doch er hatte die Fähigkeit, mit großer Bescheidenheit fokussiert zu bleiben.

Hielt er das Wissen nicht für eine gewöhnliche und etwas banale Größe, das Nichtwissen hingegen für eine Dimension mit großem Potenzial?

Tarkowski: Durchaus! Er meinte, man könne Gott nicht kennen - es gebe keinen konkreten mathematischen Beweis. Gerade das Unbekannte mache das Leben interessant und wecke die Neugier. Das Gleiche gilt für das Konzept des Symbols. Er verabscheute Symbole, denn wenn man sie einmal aufgeschlüsselt hat, sind sie nutzlos.

Welche ist Ihre letzte Erinnerung an Ihren Vater?

Tarkowski: Die letzten Monate der Krankheit waren sehr schwierig, aber es gab da einen sehr schönen Moment, an den ich mich gerne erinnere. Zwischendurch gab es Zeiten, in denen es ihm etwas besser ging. Er konnte dann das Haus verlassen und irgendwann gingen wir an einem solchen Tag in ein Café in einem Pariser Boulevard.

Nur wir zwei. Wir saßen so in der Sonne, Vater und Sohn, tranken zusammen ein Bier und beobachteten die Passanten. Das war sehr schön. Ich war 16 und begann, mich für wichtige und tiefgründige Argumente zu interessieren. An diesen zarten und innigen Augenblick kann ich mich sehr gut erinnern.

Berlin: "Ein ruiniertes, zerstörtes Nest"

Ihr Vater fühlte sich sehr zur deutschen Kultur hingezogen. Er liebte Bach und die deutsche Romantik…

Tarkowski: Er liebte Goethe, Thomas Mann, Hesse, Hoffmann... Das waren Autoren, die er auch mir immer zu lesen gab. Hoffmanniana wäre nach Opfer sein nächstes Projekt gewesen. Die Verbindung zur deutschen Kunst war sehr eng. Er hat auch in Berlin gelebt, das ihm allerdings nicht besonders gefallen hat. Das war im Jahr 1986. Er nannte es ein ruiniertes, zerstörtes Nest.

Haben Sie jemals darüber nachgedacht, Hoffmanniana zu vollenden?

Tarkowski: Das ist ein wunderschönes Projekt, aber ich glaube, nur ein Tarkowski kann einen Tarkowski drehen. Er hat das Drehbuch für sich selbst geschrieben. Es könnte ein wunderbarer Film werden, wenn er hinter der Kamera stehen und Regie führen würde.

"Filmkritiker konnte er nicht leiden"

Journalisten konnte er nicht sonderlich gut leiden, nicht wahr?

Tarkowski: Filmkritiker konnte er nicht leiden. Er hatte das Gefühl, sie verstünden seine Filme nicht. Das stimmt auch, denn gerade damals gab es nur wenige Kritiker, die vom klassischen Schema der Filmkritik abwichen. Doch da es schwer ist, seine Werke als reine Filmkunst zu definieren, gab es etliche Missverständnisse. Um einen Tarkowski zu verstehen, sollte man statt Filmgeschichte und Regie besser russische Philosophie und Literatur studieren.

Kritiker sollten besser Florenskij und Berdjaev lesen. Deshalb konnte er bei der x-ten Frage von Kritikern und Journalisten, die seine Filme total fehlinterpretiert hatten, recht ungemütlich werden. Aber er hat viele Interviews gegeben und Vorträge gehalten. Er sprach gerne vor Publikum. Mein Film basierte auf diesen Vorträgen.

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