"Sie töten uns! Diese Teufel killen unsere Träume!"

Bild: Mirella Avila/CC BY-2.0

Gespräch mit Renata Avila Pinto, Kopf des Anwalts-Teams des globalen Staatsfeindes No. 1, Julian Assange, über den Relaunch von "Progressive International" mit Sanders, Varoufakis, Sennett und die Haft ihres Mandanten

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Die junge Renata Avila Pinto ist die Sprecherin des größeren internationalen Teams von Rechtsanwälten, das Julian Assange (WikiLeaks) in seiner vermutlichen Spionage- und Hochverratsanklage betreut und juristisch vertritt, analog zur Snowden-Vertretung durch die Berliner Kanzlei Kaleck/Scharmer/Gerloff.

Pinto, spezialisiert auf "geistiges Eigentum" und Technologie, leitet auch die Intelligent Citizenship Foundation in Santiago de Chile und in Rio de Janeiro. Bekannt wurde sie durch Genozid-Klagen in Guatemala und als Advokatin von Rigoberta Menchu, nachdem sie in Italien und Den Haag Internationales Recht studierte, sehr rar unter Juristen. Heute ist sie auch u.a. Vorstand von Creative Commons und DiEM25 Europe. Sie äußerte sich kritisch im Film "Hacking Justice" und mit Justiz-Legende Baltasar Garzon betreute sie auch global Whistleblower und Journalisten in Sachen Personen- und Rechtsschutz. Assanges Anwälte waren vermutlich bereits verdeckten Maßnahmen der CIA ausgesetzt. Renata lebt derzeit in Berlin.

"Progressive International" (PI) ist ein seit heute globaler Zusammenschluss von Politikern, Künstlern, Aktivisten und Bürgern, entstanden aus dem Paneuropa-Netzwerkes DiEM25 von Yanis Varoufakis und US-Präsidentschaftsbewerber Bernie Sanders. Bekannteste Mitglieder und Unterstützer sind zudem u.a. der Ex-Präsident von Ecuador, Rafael Correa, die Premierministerin Islands, Jakobsdottir, Fernando Haddad (BRA), Eli Acorta (Ministerin Argentinien), Naomi Klein, Mike Davis, Arundhati Roy, Aruna Roy, Apolena Rychlikova, Schauspieler Gael Garcia Bernal, Gender-Internationalistin Lyn Ossome, Sexwork-Aktivistin Sarika Sinha, Nanjala Nyabola, CEO Harry Halpin, Wang Hui, Vanessa Nakate, Regisseur Avi Lewis, Ertuglu Kürkcu, sowie zahlreiche (Ex-)Minister und Ex-Diplomaten aus aller Welt. Nach einer Pause nach der Europawahl 2019 startet PI heute mit einer neuen, weltweiten Kampagne für eine "Global Progressive Front" gegen die tödlichen sozialen Folgen von Covid-19, assoziiert mit "The Nation". Die PI hat zum Ziel die Wiederaufnahme und massive Ausweitung der keynesianistischen Wirtschafts- und Finanzpolitik von US-Präsident Barack Obama, die Abschaffung von vermeidbarem Tod und gesellschaftlich produzierter Armut.

Varoufakis, der mit der DiEM-Partei MeRA25 (Realistische Ungehorsamkeits-Front, Mera griechisch auch für: "Ein schöner Tag wird kommen!") Fraktionschef in Athen ist, meint zu Telepolis:

Der Preis für die politischen Fehler vor Covid-19 - den bezahlen jetzt die Toten und die, deren Leben nun zerstört wird durch neue Armut. Wir sind im Widerstand gegen die Feigheit der Nationalen, den tyrannischen Rassismus, räuberische Oligarchen weltweit. Wir wollen Grenzen niederrreißen an allen Fronten - gegen die Faschos und gegen die Markt-Fundis. Das jetzt ist unser Moment für eine gemeinsame Front der Menschlichkeit.

Yanis Varoufakis

Der Filmemacher Juan Aguon sagte uns: "Wir brauchen einander. Dafür steht die PI. Mit ganzem Herzen." HOMEF-Direktor Nnimmo Bassey formuliert es aus Benin City, Nigeria, für so: "Wir brauchen die Verschiedenheit von Imaginationen und Träumen für die Würde." Noam Chomsky betont gegenüber Telepolis, worum es der PI geht: "Corona zeigt nun, was der Markt angerichtet hat. Meiner Meinung ist die Gefahr da, dass das Experiment Menschheit zu Ende geht - oder wir weden unglorios enden."

Srecko Horvat erklärt: "Die PI ist die letzte Chance für die Menschheit!" Und Kapitänin Carola Rackete betont: "Was wir wollen: Eine Wirtschaft für das well-being der Menschen." Die PI-Fördererin und in der Türkei per Haftbefehl wegen Spionage gesuchte Ece Tumelkuran, zur Zeit in Berlin, sagte uns: "Der Faschismus ist dabei, die Welt in Besitz zu nehmen. Diese Weltkatastrophe muss verhindert werden durch die Erfrischung unseres menschlichen Glaubens an die Liebe."

Covid-19 zeigt der Welt das zuvor nur Verborgene:

75 Jahre nach dem vernichtenden Sieg der Roten Armee Russlands und ihrer westlichen Verbündeten über die nachtschwarze Hölle, in die die Deutschen die Welt verwandelten, scheint es, als habe sich seit Auschwitz, T4, dem versuchten Vernichtungskrieg gegen Russland nicht viel verändert, Auschwitz wiederholt sich jeden Tag, heutzutage tötet man Menschen nur auf andere Weise. "Die Welt wusste es und die Welt hat zugesehen" (Bat Sheva-Dagan. Die Welt hat nichts dazugelernt und wahrscheinlich ist die "Hölle nichts, was uns bevorstünde, die Hölle, das ist das Leben hier und jetzt." (Walter Benjamin) Renata, wozu brauchen wir da noch die Progressive Internationale? Ist nicht schön längst alles verloren und jede Hoffnung begraben?
Renata Avila Pinto: Ich denke, die Welt, in der wir heute leben, ist eine sehr überprivilegierte - für sehr viele … Das hat gute Seiten und schlechte. Aber die Hoffnung, die dürfen wir nie aufgeben. Die systemischen und ganz alltäglichen Symptome der neuen, rechtlich immer "entgrenzteren" Wirtschaft und nun von Covid-19 aber haben einen kritischen Prozess von Ereignissen in die Welt gebracht, der alle Privilegien der Wohlstandswelt in Frage stellen und das Alltagsleben auch der Menschen im Wohlstand nun sehr existenziell beeinträchtigen könnte. Das, was wir alles in den letzten Jahren gesehen haben und auch aktuell sehen, das ist nur der Anfang dieses grausamen Prozesses … Ich möchte keine Angst machen, ich beschreibe nur das, was ich sehe, mit meinen Augen.
Aber die Welt steht doch nicht vor dem Untergang? Das behaupten doch nur Spinner. Auch wenn die Toten bleiben werden …
Renata Avila Pinto: Nein, natürlich nicht, um Himmels willen … der Himmel wird bleiben und die Sonne wird weiter strahlen. Es geht nicht um Untergangsphantasien oder gar um Wünsche danach. Es geht doch jetzt nur erstmal darum, diesen Zustand des physischen Sterbens von Millionen zu konstatieren, um nun Hoffnung zu säen, all dieses Leiden und Sterben zu beenden. Covid-19 zeigt der Welt das zuvor nur Verborgene: We have a state of emergency … right now!
Und konkret, Renata?
Renata Avila Pinto: Also, die Progressive Internationale will etwas in Gang bringen … Wir haben keine Patentlösung, wir sind keine Erlöser, keine Engel, kein Messias, wir kämpfen nur für unser Recht, wir haben nur Vorschläge und Vorstellungen. Wir sind nicht der Volkstribun, der die Massen in unnütze Hysterie stürzen möchte. Die Progressive Internationale ist eine Plattform, keine feste Partei im starren Sinne - aber eine offene Plattform. Wir starteten nicht mit Zielen, nur mit sechs erarbeiteten Grundsätzen, wir starteten mit Unwohlsein an der Welt, mit Kritik an den Strukturen, mit Vorstellungen: Was könnte anders sein? Es geht um kleine gemeinsame Nenner: das Sterben durch eine ungerechte Wirtschaft zu beenden und durch staatliche Sparpolitiken in verschiedenster Form … Und, ja gut, es geht erstmal nicht um das ganz Unrealistische. Es geht um eine bessere Wirtschaftspolitik auch im Rahmen gegebener Verhältnisse.

"Alles geht von Freiheit aus!"

Das heißt, die Progressive Internationale versteht sich als realpolitische Kraft? Macht das denn überhaupt Spaß? Und man könnte sagen: Naja, Bewegungen gab es ja schon viele, und oft war alles eher nur mehr Gedöns … Linke streiten sich doch oft über Kleinigkeiten, könnte man beobachten …
Renata Avila Pinto: Ja, das stimmt. Davon wollen wir uns abheben. Wir sind nicht elitär - im Gegenteil. Der kleine gemeinsame Nenner muss darin bestehen, progressive und liberale Kräfte zu vereinen, in dem Sinne, dass Veränderung niemals autoritär stattfinden darf. Alles geht von Freiheit aus, aber danach dann geht alles von den materiellen Möglichkeiten aus, die alle Menschen haben müssen und zur Zeit, in den letzten tausenden Jahren der Unterdrückung und wohl in der nächsten Zukunft, nicht haben werden. Und noch eines, schenke mir ein paar Sekunden: Ideologische Politik macht keinen Spaß, praktische Politik aber schon.
Wissen das alle Politiker? Aber im Ernst, auch wenn's keinen Spaß macht bei dem Berliner Sonnenschein am 8. Mai: Die Nachrichtenlagen, wie man so schön sagt, der letzten Jahre deuten ja nicht gerade auf eine progressive Politikentwicklung hin - und die Lebensbedingungen oder gar die Überlebensbedingungen von Milliarden Menschen im Trikont, aber auch in West- wie Ost-Metropolen haben sich nicht gerade verbessert, teils genozidal verschärft, wie etwa im Jemen, zuvor ein wundervolles Land trotz aller üblichen Schwierigkeiten …
Renata Avila Pinto: Jetzt ist ein guter Moment, genau das anzuprangern, zu verurteilen, zu verändern. Am besten, für immer. Das sage ich! Und genau deshalb sage ich das, weil es eben ansonsten nicht besser wird! 2019 war furchtbar! 2020 - jetzt geht es um was. Der pulse of the globe, kannst Du ihn nicht hören? Könnt Ihr alle ihn nicht hören? Die Menschheit atmet und will weiteratmen.
Das klingt südamerikanisch, a sound like this … otro planeta, eine andere Welt, wie man in Bolivien sagt.
Renata Avila Pinto: Ja, warum nicht? In Südamerika passiert sehr viel Schönes, nicht alles ist dunkel … Da ist Energie. Der PI geht es darum, Energien aus dem Leben, aus den Kämpfen woanders aufzunehmen, sie weiterzutragen in den Norden, in den Westen, auf alle Plätze dieser Welt. Es geht um zwei Dinge: Vor Sars-CoV-2 war es so: The right things to do! And now: The urgent things … Das ist unser Verlangen! Das inspiriert uns, treibt uns an, dieses Verlangen macht auch mir persönlich Hoffnung!

"Ich sage den Europäern: Kämpft für das Leben! Es gibt nichts Schöneres …"

Aber was ist denn bitte Hoffnung wert, wenn es kein Brot gibt? Und selbst, wenn es Brot am Tage gäbe … auch die Nächte brauchen Wein, oder konkret: In der Welt scheint sehr vieles verarmt an Sinnlichkeit, an Leben, an Wahrnehmung, auch im Wohlstand, oder nicht?
Renata Avila Pinto: Naja, also den perfekten Moment, den gibt es ja im Leben nie. Das weiß man, oder? Weder gesellschaftlich, noch politisch, noch privat. Mit dem Leben ist es nicht so, wie wenn man ein Steinway-Piano spielt, hahaha … man findet ja eh nie die perfekten Tasten, weder auf dem Klavier noch im Leben. Aber man kann es versuchen. Und wenn man jetzt sagen würde, es ist eh alles zu spät, die Gesellschaft ist so weit weg von Menschlichkeit, ja, dann stimmt das, da hast Du Recht, aber wollen wir aufgeben? Jetzt schon etwa? Never. Die Welt ist verstörend. Aber was heißt das für uns, die wir uns zwingen müssen, die Hoffnung nie aufzugeben, nie? Ich sage, es heißt: Go for it! Verzweifelt nicht! Holt euch euer Leben zurück!
Diese Notsituation jetzt mit Corona, die bedeutet ja auch: Es geht nicht um Einzelfälle, um kleine Fehler, um kleines Versagen. Es geht um Strukturen. Es ist ein globale state of emergency. Diese Ausmaße jetzt verdeutlichen, in welcher Welt wir eigentlich leben. Es zeigt uns die ach so sauberen, normalen Strukturen in ihren mörderischen Höhepunkten auf, in ihrem wahrem Charakter. Die Corona-Krise zeigt die Strukturen, die unvernünftig, die mörderisch sind.
Genau so wenig wie Auschwitz vom Himmel fiel, fielen Corona und die jetzigen Toten vom Himmel, auch wenn die jetzigen body counts, auf CNN beiläufig eingeblendet im screen-on-screen, fast so menschenverachtend wirken wie wohl die Zählappelle von Auschwitz ...
Renata Avila Pinto: … verändern müssen wir die Strukturen aber deshalb, weil sie auch schon vorher unvernünftig waren. Sind das denn alles nur Kalamitäten, die jetzt passieren und jetzt so drastisch zu sehen sind? Nein, wohl kaum, oder? Nicht der Notfall und der Notstand jetzt sind das große Problem, die zuvor schon vorhandenen Strukturen und Hierarchien von Macht und Ohnmacht, von Gewinn zu Lasten von Ausbeutung, diese Strukturen, die zwar nicht Covid-19 in die Welt brachten, aber die jetzt das tausendfache Sterben zulassen und einfach nicht aufhören lassen, die sind das Problem. Die tödlichen Strukturen von Macht und Ohnmacht müssen beseitigt werden. Die Welt braucht sie nicht. Kein vernünftiger Mensch braucht sie.
In Südamerika und bei mir in Mittelamerika haben wir damit Erfahrung. Ausbeutung, Faschismus, Vernichtung - all das ist nicht so weit voneinander entfernt. Es geht um das Leben. Der Widerstand bei uns war immer lebendig. Ich sage den Europäern: Seid lebendig! Kämpft für das Leben! Es gibt nichts Schöneres. Oder willst Du etwa widersprechen? Oder rede ich zuviel? Sag es ruhig! Unterbrich mich ruhig …

"Nehmen wir den Kampf an!"

Keine Sorge … Aber bereitet euch bei der PI nicht Sorgen, wie sich die Situation hier in Europa entwickelt. Du bist ja gerade in Berlin, was besorgt Dich? Polen ist nicht weit von hier, es vollzieht sich dort ein Demokratieabbau, in Ungarn kann man eigentlich gar nicht von Demokratie sprechen, die Regierung betreibt Judenhass-PR, spricht in Nazi-Vokabular über Muslime, über Roma, über Queere, über selbstständige Frauen, über Langhaarige, über andersartige junge Leite, über Bücherleser und Musikhörer, für die die Welt weiter ist als zwischen Buda und Pest zwischen der Donau. Sind die Pläne der PI denn überhaupt realistisch, in solche Zustände überhaupt noch intervenieren zu können?
Renata Avila Pinto: Ja, gut, das sind zwei verschiedene Dinge … We need to elevate. We need unity. Vernünftige Menschen kennen keine Grenzen zwischen verschiedenen Gesellschaften … Die Mächtigeren versuchten immer in der Menschheitsgeschichte, die Ohnmächtigen gegeneinander auszuspielen, um deren Interessen zu unterminieren, zu diskreditieren, sie gegeneinander in Stellung zu bringen, um von berechtigter Kritik an ihnen selber abzulenken, um ihre eigene Macht nicht aufteilen oder gar abgeben zu müssen. Verzweifeln wir nicht. Suchen wir Alternativen. Was wollen wir im Leben? Vernünftige Menschen auf allen Kontinenten müssen sich verbünden, um die Welt zurückzuerobern für das Leben. Wer braucht Streit, Differenzen, Gräben? Nur die, denen es nutzt.
Deshalb ist ja unser Versuch mit der Progressiven Internationalen gewesen, Menschen durchaus verschiedener Überzeugungen zusammenzubringen. Unser Nenner aber ist: Bitte, eine andere Wirtschaftspolitik! Aber wir bitten nicht, wir fordern. Es ist unser Recht. Je national und vor allem international. Nicht jedes Land für sich und solchen alten Kram, wen interessiert das, oder? Daher unser "Open Call" zur Mitarbeit aller progressiven Kräfte, egal von wo … who cares? Boundaries kill us! Der Kampf für eine lebenswerte Welt findet für mich in Europa statt und in Mittelamerika, in Indien, nicht nur mit Varshini Prakash und natürlich auch in Brasilien, ein phantastisches Land.
Was man in Polen sehen kann: Das ist fast Faschismus. Es macht mir Angst, es macht mich oft traurig, so etwas zu hören aus vielen Ländern in Europa und in der ganzen Welt. Aber ich will nicht traurig sein, deshalb kämpfe ich … Menschen mit Würde gehen aufrecht durch dass Leben, auch wenn es oft schwerfällt. Wir alle haben uns unseren Kampf nicht ausgesucht, er wurde uns aufgezwungen. Durch diese Welt. Nehmen wir den Kampf also an! Und verzweifeln wir nicht an der Traurigkeit …
… sondern verwandeln sie in Schönes? Aber man sollte nur die Kämpfe führen, die man gewinnen kann.
Renata Avila Pinto: Ach, weißt Du, wenn ich mit meinen Schwestern zu Hause in Guatemala in der Küche beim Gemüseschneiden spreche, da reden wir immer über Politik. Es ist ja nicht so, dass wir nichts Wichtigeres zu tun hätten bei Frauengesprächen, aber Politik ist es nun mal, die die Regeln unseres Lebens gestaltet. Das, was wir aus uns machen können. In Mittelamerika sind wir alle sehr politisch … Es sind wundervolle Länder - mit falscher Politik. Wir tun es, weil wir uns selber so lieben, unsere Länder lieben. Nicht, weil sie besser sind als andere Länder. Sondern, weil wir es lieben, in ihnen zu leben. Und wenn man schon einmal in Brasilien war zum Beispiel, dann weiß man, dass …
… Du arbeitest ja auch in Rio de Janeiro für politische Netzwerke und für Bürgerrechte vor Ort und im Alltag gegen Behörden …
Renata Avila Pinto: Ja, ich mag Rio und die Menschen dort. Wir sollten fröhlich sein, aber auch das macht mich traurig. Die Frauen dort sind wundervoll, sie kämpfen jeden Tag um Geld für ihre Kinder … Und sehen wir uns die Situation aber genauer an, auch und gerade jetzt unter Corona: Die Sterblichkeit für Covid-19 ist am höchsten in den favelas, den Armenvierteln an den Hängen vor Rio. Überrascht mich das? All die Toten? Nein, leider nicht. Das sind die Strukturen, die töten. Das ist die Welt, die mordet. Die Ärmsten. Es trifft immer die Ärmsten.
Und soll ich noch was sagen? Auch, wenn ich zu viel rede? Die größte black comunity, ja, gibt es die in den USA? Nein, die größte schwarze community außerhalb Afrikas, die lebt in Brasilien. Und natürlich leidet diese community nun, die Menschen sterben. Kriegen die Leute da draußen das eigentlich gar nicht mit? Ich bin sowas von wütend und könnte mich schon wieder so aufregen.

"Die Welt macht uns depressiv, geben wir der Welt unsere Traurigkeit und unsere Wut zurück"

Aber was lässt Dich hoffen, wenn Du in Rio bist? Außer der Samba in der Sonne?
Renata Avila Pinto: Der Stolz der Wütenden, ihr immerwährender Kampf, der hoffentlich immer erfolgreich ohne Verluste und psychische Traumata enden wird. Jeden Tag auf's Neue, das fängt doch schon morgens mit den Brotpreisen im Supermarkt an. Ihre Wut inspiriert mich, auch meine Wut mit Freude weiterzutragen. Soll ich rufen "Victoria siempre!", haha (lacht) …
Wie siehst Du die Entwicklungen in Rio de Janeiro und Brasilien in den letzten Jahren?
Renata Avila Pinto: Es ist einfach furchtbar, zum Heulen, obwohl wir nicht weinen sollten. EEs sind doch schreckliche Resultate, die wir jetzt dort sehen als Ergebnis von alldem, was einige diesem wunderschönen Land in den letzten Jahren angetan haben, oder nicht? Aber ich hoffe und hoffe und hoffe … auf Frauen wie Carolina zum Beispiel.
Carolina ist bekennende Marxistin und sitzt für den Traditionsstaat Minas Gerais im nationalen Parlament. Sogar das alles bestimmende Hauptmedium Brasiliens, GloboTv, zählt sie zu den einflussreichsten Personen Brasiliens.
Renata Avila Pinto: Sie ist wundervoll. Carolina steht für das, was wir alle sein sollten, was die Progressive Internationale sein will, wie die Welt sein muss: Internationalistisch! Etwas anderes geht nicht. Ist langweilig. Wir brauchen Menschen wie sie - überall auf der Welt. Verzweifelt, aber mutig. Traurig, aber freundlich. Die Welt macht uns depressiv, geben wir der Welt unsere Traurigkeit und unsere Wut zurück. Zeigen wir unsere Schmerzen und unser Leid. Niemand darf uns das antun, was uns angetan wird. Weißt Du, man muss an Träume glauben. Carolina steht für den Kampf der Ausgebeuteten, der Verlorenen. Und ich lerne eines von ihr: Gib nie auf! Nie!
Aber die Welt scheint doch in viele Teile zu zerfallen. Separation, Segregation, Nord gegen Süd? Oben gegen unten? Mitte gegen oben und unten? Stadt gegen Land? Oder irre ich mich, Renata?
Renata Avila Pinto: Hmm, ja … Ich befürchte … Ach, ich weiß auch nicht … (lacht) … Was soll ich jetzt nur sagen? Solche Beobachtungen sollten uns alle nur zu einem Schluss kommen lassen: It‘s a urgent call to action. Als Menschen, die wir sind, sollten wir uns immer wieder fragen: Was willst Du eigentlich? Was sind die Ziele? Welche Perspektiven hast Du? Wie willst Du leben?

"Das ist die Welt, in der wir leben: Leiden und Sterben!"

Renata Avila Pinto: Was natürlich begrenzt ist durch die Behinderungen durch die Gesellschaft. Hafenstädte waren ja immer schon Horte der Begegnung, des Neuen, der sozialen Revolutionen, der sexuellen Aufklärung … ob Alexandria als "Braut des Meeres", Dschidda, Napoli, Hamburg, Tel Aviv, Shanghai, Kalifornien, NYC, Rio, das jüdische Odessa, Mumbai, Beirut, Marseille, Barcelona, Athen. Es scheint, als lebe dort der eine, liberale Teil der Welt. Wie will denn aber die PI auch andere Leute erreichen, die weder "links" noch politisch interessiert sind, z.B. im Osten Russlands oder Rumäniens?
We have to open this space, wir alle müssen experimentierfreudiger werden. Wir auch. Wir alle. Und auch Menschen, die sich noch nie mit Politik beschäftigt haben, sollten sich fragen: Warum haben einige wenige sehr viel, wenige viel und sehr, sehr viele fast gar nichts. Ich hoffe, es wird passieren. EEs geht um Impulse, um Wahrnehmungen, um die Überwindung der Enge. In jeder Weise, gedanklich, finanziell, sozial, städtebaulich, Grenzen betreffend. Niemand darf verharren, wir nicht, andere sollten es auch nicht, Leben ist lebendig. Was niemand braucht, ist unfreiwillige Isolation, ob soziale Isolation, gedankliche oder in den Knästen ...
Du sprichst auch Julian Assange an, der lange in der Botschaft Ecuadors in London politisches Asyl fand. In Südamerika hat sich in den letzten Jahren viel getan: eine Rochade im einst hoffnungsvollen Venezuela, Verarmung, Aufstände und sinnlose Tote in Chile, parafaschistischer Militärputsch in Bolivien. Wie schätzt Du die Situation im schönen Bolivien ein?
Renata Avila Pinto: So etwas dürfen wir nicht erlauben. Sie töten uns! Diese Teufel killen unsere Träume, unseren Reichtum, unser Leben. Das ist wirklich parafaschistisch, wenn nicht schon faschistisch. Aber es wäre falsch, zu glauben, nur Blei aus Gewehren könnte töten, auch Blei im Grundwasser tötet. Killed by circumstances, das ist die Welt, in der wir leben, leiden und sterben: Die Lebensumstände, die die Gesellschaft zu verantworten hat, sie töten uns. Aber, ja, auch in Bolivien sehe ich Hoffnung bei einer selbstbewussten Jugend, die ihre materiellen Rechte einfordert. Und in Guatemala rede ich von Vicenta Jeronimo, einer großartigen Frau und Politikerin, sie ist Mitglied des dortigen Parlamentes. Ich mag kluge Frauen, die sich für andere einsetzen und anderen helfen - im Kleinen wie im Großen.
Sie ist eine Maya?
Renata Avila Pinto: Ja, eine "echte" Maya. Und ja, die Situation in den einzelnen südamerikanischen Ländern ist wirklich sehr anders, aber doch, eine große Gemeinsamkeit gibt es: Die Unterdrückung der Indigenen. Das ist einfach nach wie vor so …
… in Bolivien sogar wieder extrem verstärkt, man behandelt sie fast wie die Juden in Nazi-Deutschland, sie haben nicht alle Bürgerrechte …
Renata Avila Pinto: … ja, es ist grausam. Es gibt Anklagen ohne Grund, Verurteilungen ohne richtige Anklage. Das hat mit Justiz doch überhaupt nichts mehr zu tun. Bolivien ist jetzt kein Rechtsstaat mehr. Es eint leider fast alle Nativen überall auf der Welt: Sie werden nicht als vollwertige Menschen betrachtet. Unglaublich! Immer noch. Tja, und wohl nicht zufällig ist die Todesrate von Covid-19 am allerhöchsten bei der community der Navajo in den USA. Es sind die Umstände, die töten, die Folgen der Armut. Nicht die Krankheiten an sich, welche bekämpfbar wären.
In Guatemala, Honduras und El Salvador beherrschen Jugend-Gangs tatsächlich die Straßen, dagegen ist Neukölln ein Witz. Sie leben nach dem Motto Roberto Savianos: "Lieber tot sein als arm". Meinst Du, es wird irgendwann gelingen, sie vor dem Tod zu bewahren? Sie hatten nie irgendeine Chance im Leben.
Renata Avila Pinto: Ich denke, es kann gelingen. Ich denke, fast alles kann gelingen. Die politischen Strukturen in diesen Ländern müssen wirklich komplett umgewälzt werden. Und wer profitiert denn von der Bewaffnung? Wenn es politisch gewollt ist, Menschen aller Chancen im Leben zu berauben, dann muss man sich nicht wundern, wenn diese irgendwann anderen den Tod bringen. Wenn diese Gesellschaften dort und wenn auch der Rest der Welt das weiter ignoriert, dann wird es noch stärker explodieren irgendwann.
Niemand lebt alleine auf der Welt und alle werden irgendwann die Folgen spüren, wenn Einzelne ausgegrenzt werden. Warum sind wir oft zu feige, ganz neue Vorstellungen vom Leben zu entwickeln? Bei der Progressiven Internationalen wollen wir das tun: Neue Pläne, ganz neue Ansätze, bisher Ungedachtes einfach einmal in Erwägung ziehen - fern ideologischer Grenzen. Wir haben zwar eine Vorstellung davon, wie diese Welt besser sein könnte, aber kein Plan ist pefekt. Ja, und das wollen wir kultivieren. Ich hoffe, das wird unser Vorteil.
Die Todeszahlen unter den Ärmsten in den USA sind mehr als schockierend. Wer wird nach Deiner Meinung der nächste US-Präsident?
Renata Avila Pinto: Tja, ich befürchte, naja, vermutlich wieder Trump.

"Der Bernie-Effekt ist nicht tot"

Was war mit Bernie Sanders los? Um ein Haar wäre er der Nachfolger Trumps geworden?
Renata Avila Pinto: Bernie is great! Es war bestimmt nicht sein Fehler, so, so viele junge Leute standen hinter ihm. Und das ist für mich uns ein politisches Zeichen, dass wir richtig liegen, dass es weitergehen muss, das ist ein Signal für unseren jetzigen neuen Launch der Progressiven Internationalen.
Der sogenannte "Bernie effect" ist nicht tot, im Gegenteil, er prangerte all die Ungerechtigkeiten an, und jetzt fangen wir an, sie so richtig zu bekämpfen. Und ja, die Situation in den USA ist für mich ein Symptom einer "kranken" Gesellschaft, einer "sick society". Es geht um Angst, uneingestandene Angst. In den USA stimmt sehr viel nicht. Dort kommt aufgrund der Diversitäten zwischen den Bundesstaaten eine zusätzliche Komplexität hinzu, denke ich. All das Hassreden, das ist doch grauenhaft. Die Situation ist ja auch ein Spiegelbild dafür, ein sehr freundlicher Bundesstaat, aber die sozialen Widersprüche, alles verschärft sich. Es ist so schade, die Situation, in der das ganze Land ist. Aber auch in Großbritannien zum Beispiel: Also, dort hat man nicht mal mehr den Eindruck, dass die Bevölkerung die Politiker irgendwie interessiert, die medizinische Versorgung ist katastrophal. Und nun das Ergebnis: Tote, Tote, Tote.
Aber ein Problem kann man mittlerweile in vielen Ländern beobachten, leider: Die "Rules of Law", sie gelten einfach nicht mehr in der Rechtspraxis. Eine schreckliche Rückwärtsentwicklung in die Zeit vor das Recht. Die Staatsgewalten werden faktisch außer Kraft gesetzt. Das Ergebnis ist die unmenschliche Behandlung eigentlich aller Ausgegrenzten, egal, aus welchem Grund sie ausgegrenzt werden. Diese Entwicklung ist wirklich neu. Schockierend! Beunruhigend! Verstörend! Nicht nur juristisch. Menschlich.
Was bewegt Dich sonst noch menschlich?
Renata Avila Pinto: Naja, klar, die sozialen Auswirkungen der Klimakrise. Es geht nicht um blöde Streitereien, wer Recht hat. Und was mich daran vor allem sehr stört, ist die völlig mangelnde Synchronizität der verschiedensten Maßnahmen global. Das ist doch alles überhaupt nicht aufeinander abgestimmt. Also, so geht das nicht. Was im Mittelpunkt der Klimapolitik stehen sollte, das ist auch die Veränderung der Arbeitswelt, die Digitalisierung, der Rechte der Arbeiter und der Ausgegrenzten. Es wird alle Arbeitnehmer treffen, in Schweden, in Frankreich, in Israel, gleich wo. Die Highlights der Zerstörung kommen erst noch. Das ist meine und unsere Befürchtung.
Haben die Politiker denn überhaupt noch nicht begriffen, um was es hier geht? Arbeit wird nie wieder sein, was sie war. Unser Vorschlag ist deshalb eine wirkliche Reform: Der Green New Deal for Europe. Wir müssen uns vom alten Begriff der Arbeit und der Lohnarbeit befreien und etwas Neues an dessen Stelle setzen, etwas Menschenwürdiges. Different layers of complexity …
… das hört sich nicht nur mit hispanischem Akzent diskussionswürdig an, verschiedene Schichten?
Renata Avila Pinto: Ja, damit meine ich die Schichten der verschiedenen Formen der Ausgrenzung, Entrechtung und Verunwürdigung von menschlichem Leben. Die klugen Teile der Klimabewegung sollten aber das alles zusammendenken und ihre Handlungen danach ausrichten, auch ihre größeren Aktionen. Es geht nicht nur um einen Punkt, nicht nur um die Klimakrise. Aber wenn ich mir das alles so ansehe, was aus der Klimaproblematik geworden ist, dann kann ich nur leise sagen: Ich habe Angst!

"Julian geht es sehr, sehr schlecht - physisch und psychisch"

Große Sorgen machen sich viele auch um Julian Assange. Man muss nicht alles mögen, was er getan hat oder gesagt hat, aber es ist doch ein Fanal. Wann hast Du ihn zuletzt gesehen?
Renata Avila Pinto: Im Februar diesen Jahres. Es war schockierend und ich bin immer noch schockiert. Es war bei der Anhörung in London. Nur hinter Glasscheiben durften wir mit ihm reden. Das ist doch wohl eine Zumutung?
Wie geht es ihm denn?
Renata Avila Pinto: Ich muss leider sagen: Im Moment sehr, sehr schlecht. Ich mache mir sehr große Sorgen um ihn. Er sitzt in Isolationshaft, aber in totaler Isolation, hat quasi null Kontakt zur Außenwelt. He's in a very, very bad situation.
Kann euer Team ihn regelmäßig besuchen?
Nein, totale Isolation. Nur für dringende Anwaltsgespräche ist es uns erlaubt. Wir fordern auch, dass Journalisten ins Gefängnis gelassen werden. Das ist sein Recht. Er ist Untersuchungshäftling und zu noch nichts verurteilt in dieser Sache wegen irgendetwas. Das hat mit Justiz nichts mehr zu tun. Ich sage es ganz klar: Wenn er an den Haftbedingungen sterben würde, wäre es Staatsmord. Schon jetzt ist es Mord in Zeitlupe.
Und was ich bis heute überhaupt nicht verstanden habe, ist diese Einbindung und das tatsächliche Engagement von spanischen, privaten Sicherheitsfirmen für seine Überwachung und Ausspähung. Unglaublich, das in Europa. Das ist in der EU passiert!
Und wie geht es Julian physisch?
Renata Avila Pinto: Ich würde sagen: sehr schlecht auch körperlich. Die lange Haft und die Isolation hinterlassen Spuren. ES geht ihm wirklich nicht gut.
Macht Dich das wütend?
Renata Avila Pinto: Si, of course! Aber, was noch schlimmer ist: Fast niemand tut etwas.
Was würdest Du Dir wünschen?
Renata Avila Pinto: Bundeskanzlerin Angela Merkel muss intervenieren. Denn auch das ist ihre Aufgabe in Europa. Führende Vertreter der Politik in Deutschland und in Europa müssen endlich eine Ansage machen, was da abgeht. Und dass das nicht sein darf. Menschenrechte müssen eingehalten werden, auch bei schweren juristischen Vorwürfen.

"Der Fall Assange ist eine Gefahr für alle Journalisten"

Was bedrückt Dich daran noch?
Renata Avila Pinto: Es ist eine Gefahr für alle Journalisten - weltweit und auch in Deutschland. Und dadurch auch für die Demokratie und für die liberalen Werte des Westens. Es geht im Fall eures Kollegen Julian auch um das Recht auf Schreiben, auf Meinung, auf Veröffentlichung. Hallo, Hallo, wir leben in Europa, oder nicht? Wie kann so etwas hier möglich sein? Auch das muss sich Europa fragen. Srecko Horvat hat es sehr schön formuliert: "Julian is a man of us."
Was meinst Du denn damit?
Renata Avila Pinto: Wenn es Julian treffen kann, kann es uns alle treffen. Davor habe ich Angst - vor der ungerechten Macht gegenüber Einzelnen. Sein Fall darf nicht vergessen werden. Es geht um die Art, wie wir zusammen leben möchten. Ich möchte, dass wir zusammenleben als Menschen "wunderbar" … eines der wenigen deutschen Wörter, die ich beherrsche.
Wenn endlich die soziale Isolation überwunden wäre, dann könnten wir jetzt noch ein Glas Rotwein trinken gehen, um auf Kommendes, Schöneres anzustoßen und Grenzen zu überwinden. Und dass das Leid nicht ewig auf Erden bleibt. "Auf Wiedersehen!"
In Zeiten von Covid-19 wird alles Politische ja wieder persönlich. Im Spanischen zitiert man ja gerne aus einem Gedicht von Victor Hugo die Sehnsucht herbei - es wirkt sehr progressiv und international: "Los que padeceis porque amais: amad mas todavia ... morir de amor es vivir!"
Renata Avila Pinto: "Danke schön!"

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