Simulation mit System

Die Allegorie der Macht in "The Matrix"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Vor den Augen der Hauptfigur verschwindet die Wirklichkeit oder das, was sie bislang dafür gehalten hat. Der Körper nimmt eine andere Form an. Die Selbstwahrnehmung wird in einen Strudel der Auflösung gerissen ... und die Figur wacht - umhüllt von Flüssigkeit und am ganzen Körper verkabelt - in einem Brutkasten auf, in einer dunklen bedrückenden Welt der Zukunft, die von den Maschinen beherrscht wird.

Mit diesem abrupten Übergang von einer simulierten in eine reale Welt haben die Brüder Andy und Larry Wachowski in ihrem Film The Matrix einen der denkwürdigsten Identitätswechsel im Science Fiction-Genre geschaffen. Man mag die Plausibilität dieser Vision in Zweifel ziehen, man mag allein Gefallen finden an den aufregenden Visual Effects und Action-Sequenzen oder allerlei Anspielungen entziffern und feststellen, dass auch Hollywood-Regisseure französische Philosophen lesen. Darüberhinaus verbirgt sich in der Matrix aber eine gesellschaftskritische Aussage.

Mit "The Matrix" ist ein überraschender Hit des US-Marktes in die bundesdeutschen Kinos gekommen. Seit einigen Jahren schon kursierte das Skript in der kalifornischen Filmmetropole, bis der auf Actionstreifen spezialisierte Produzent Joel Silver sich überzeugen ließ. "Niemand verstand das Skript," meint Larry Wachowski in einem Interview für die britische Science Fiction-Zeitschrift Starburst, "niemand in Hollywood mochte es, sie dachten, es sei zu dicht. Es verwirrte sie zu sehr." Und das ist auch kein Wunder. Der Film sucht die riskante Synthese von Versatzstücken aus asiatischer Spiritualität und Kampfkunst, Hacker-Underground, zeitgeistigem Hinterfragen der Wirklichkeit und SF-Konzeptionen, und das ist ihm über weite Strecken auch gelungen. Es ist kein vordergründiges Comicspektakel, das da über die Leinwände flimmert.

Unser Ziel war es, einen intellektuellen Action-Film zu machen. Wir mögen Action-Filme, wir mögen das Kämpfen, wir mögen Waffen. Aber wir sind all der Filme ziemlich müde, die keinerlei Ideen haben. Wir versuchten, diesem Film so viele relevante Ideen zu geben, wie wir konnten.

Larry Wachowski

Vielleicht ist der SF-Aspekt des Films auch nicht der entscheidende Faktor des Erfolgs. Gerade die "sehr komplexe Geschichte", wie immer wieder betont wird, weist Schwachpunkte auf. Die zunehmend intelligenter werdenden Maschinen haben irgendwann in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts einen Krieg gegen die Menschen geführt, und aller menschlichen Abwehrmaßnahmen zum Trotz (zu denen offenbar auch die ökologische Verwüstung des Planeten gehörte) haben die Maschinen gewonnen. Das (vorläufige) Ende der menschlichen Gesellschaft wird drastisch illustriert. Die Menschen sind versklavt, werden in riesigen Plantagen gezüchtet, um den Maschinen als Energiespender zu dienen.

Die Matrix ist ein Computerprogramm, das den Menschen die Wirklichkeit des Jahres 1999 vorgaukelt (den "Höhepunkt ihrer Zivilisation", wie eine Künstliche Intelligenz, die im Programm als Agent dargestellt wird, sarkastisch anmerkt) und ihnen zur "unterbewußten" Beruhigung in ihren Brutkammern direkt ins Gehirn gespeist wird. Als SF-Konzept ist das nicht unbedingt überzeugend: abgesehen davon, ob dieser berüchtigte Kampf zwischen Menschen und Maschinen, den ja auch schon James Camerons "Terminator" (1984) als Hintergrund benutzt hat, noch von Interesse ist - warum sollten die Maschinen ausgerechnet Menschen als "Batterien" züchten und nicht andere Säugetiere, wenn die Menschen dazu offenbar eine gigantische hochkomplexe Simulation benötigen, deren technischer Aufwand in keinem Verhältnis zum Ergebnis stehen dürfte?

Der kulturelle Schockeffekt ist allerdings beachtlich, wie er auch in SF-Filmen, zu deren Möglichkeiten die Verlängerung und Verzerrung bestehender gesellschaftlicher Tendenzen gehören, nur selten erreicht wird - versetzt man sich in die Hauptfigur, so ist es eine absolute Horrorvorstellung, sich bewusst machen zu müssen, dass die erlebte Wirklichkeit aus der "Vergangenheit" nur eine Täuschung ist und die Menschen in einer deprimierenden aussichtslosen Zukunft leben.

Die Geschichte

Auf der Ebene der erzählten Geschichte ist ja auch nicht alles verloren. Morpheus (Laurence Fishburne) ist der Anführer einer kleinen Gruppe von Techno-Partisanen, die im Krieg mit den Maschinen in ihrem Hovercraft "Nebukadnezar" durch die Kanalisationen der ehemaligen Großstädte streifen und mit ihrer High-Tech-Ausrüstung in der Lage sind, sich in die Matrix einzuklinken. Im Inneren des Planeten existiert Zion, die letzte Zuflucht der Menschen. Sie haben es außerdem irgendwie geschafft, den Mainframe von Zion in der Matrix zu verstecken, der dort ist, wo sich das "Orakel" befindet. Die Agenten, die KI-Programme in Menschengestalt, verfolgen Morpheus, weil er zu den wenigen gehört, die die Zugangscodes für Zion kennen. Wird Zion von den Maschinen geknackt, ist der letzte Widerstand der Menschheit gebrochen.

Der Hacker Neo (Keanu Reeves) wird in der Matrix von Morpheus kontaktiert, der ihn vor den Agenten warnt, die es auf ihn abgesehen hätten. Neo, der tagsüber seinem Job als Programmierer nachgeht, wird verhaftet und bekommt einen Vorgeschmack auf den Alptraum, der ihn erwartet: die Agenten scheinen über Fähigkeiten zu verfügen, ihn im wahrsten Sinne des Wortes mundtot zu machen - sein Mund wird "verschlossen" -, und sie verwanzen ihn mit einem Biomechanismus, der sich einen Weg in seinen Körper sucht. Als er in seinem Bett aufwacht, hält er das Erlebnis in seiner Erinnerung noch für einen schlechten Traum.

Trinity (Carrie-Anne Moss), eine Mitstreiterein von Morpheus, trifft Neo in einer Disco und hat alle Hände voll zu tun, seinen Körper zu "debuggen", bevor sie ihn zu Morpheus bringt. Neo ist beeindruckt, der legendären Hackergestalt Morpheus endlich zu begegnen. Doch die Antwort auf die Frage, die Neo umtreibt und die er sich von Morpheus erhofft, was denn die geheimnisvolle Matrix eigentlich sei, übertrifft seine schlimmsten Befürchtungen. Neo schluckt eine Pille - sie ist in der Matrix Teil eines Tracking-Programms der Hacker - und "seine" Wirklichkeit löst sich auf. Völlig benommen wacht er in der wahren Welt um 2200 auf und wird von den Maschinen, die die "Betriebsstörung" bemerken, als Müll entsorgt. Die Crew der Nebukadnezar hat seine Position aber rechtzeitig orten können und nimmt ihn auf.

Neo wird mit der Wahrheit des Krieges konfrontiert und einem harten Trainingsprogramm unterzogen. Kampfkunst-Übungen werden ihm direkt über ein neuronales Interface vermittelt. Neo gewöhnt sich an seine neue Umgebung und er erfährt die Vorgeschichte der Partisanentruppe, die unter schlechten Bedingungen seit vielen Jahrzehnten ihren Kampf führt. Morpheus hält ihn für den "Auserwählten", für denjenigen, der die Kontrolle über die Matrix gewinnen und die Menschheit befreien kann.

Einer aus der Gruppe, Cypher (Joe Pantoliano), verrät die Gruppe an die Maschinen; als sie in die Matrix einloggen, um Neo zum Orakel zu bringen, geraten sie in einen Hinterhalt, bei dem Morpheus gefangengenommen wird. Cypher gelangt vor den anderen zu einem "Ausgang" und tötet diverse Mitglieder der Gruppe, bevor er gestoppt werden kann. Trinity und Neo bleiben übrig, und Neo bemerkt, dass das Orakel ihm die eingetretene Situation prophezeit hat. Entgegen aller Warnungen macht er sich mit Trinity auf den Weg in die Matrix, um Morpheus aus den Händen der Agenten zu befreien. Die Befreiungsaktion gelingt, Trinity und Morpheus können rechtzeitig entkommen. Im Showdown wird Neo getötet, doch seine neu erwachenden Kräfte lassen ihn "wiederauferstehen" - die Agenten sind keine Gegner mehr für ihn, da er die Bedingungen der Matrix manipulieren kann. Das Schlussbild zeigt ihn fliegend über der simulierten Stadt.

Ein religiöser Unterton, in vielen Kritiken des Films moniert, ist in der Erzählung nicht von der Hand zu weisen. Es geht um Selbstüberwindung, das Bewußtwerden der "Wahrheit" und andere kleine Lektionen in paradoxer spiritueller Logik. Auch das uralte Löffelverbiegen per Gedankenkraft feiert seine "Wiederauferstehung". Die Szene mit dem Orakel in Gestalt einer schwarzen Hausfrau mittleren Alters gehört denn auch zu den schwächeren Passagen des Films, und spätestens dann, wenn Neo die Szenerie mit einem Keks in der Hand verläßt und über das Gesagte grübelt, das natürlich nur für ihn "bestimmt" ist, spürt man eine gewisse Ironie. Ich sehe in den spirituellen Anspielungen und Hinweisen zum Teil auch mehr einen dramaturgischen Notbehelf, da die Aktionen der Partisanen und Agenten nicht in einem technologisch klar "funktionierenden" Zusammenhang stattfinden, sondern in einem mystischen Raum, der offen bleibt für Interpretationen. Doch dazu später mehr.

Inszenierung neuer Medien

Warum ist der Film so erfolgreich ? Er zeigt rasante Action-Szenen - das Shooting out im Hochhaus, wo Morpheus gefangen ist, stellt eine elegant ästhetisierte Gewaltchoreographie im Stile des Hongkongkinos dar. Mit der Bullet-Time Photography setzten die Regisseure desweiteren eine Technik ein, die einen sehr dynamischer Eindruck von Objekten im Raum erzeugt und die auch schon in der Werbung benutzt wurde: die Kamera bewegt sich scheinbar um Ereignisse im Raum, die "festgefroren" scheinen. Klar, dass Computeranimationen und Morphing-Effekte eingesetzt werden. Das Design der Nebukadnezar und der Sentinels, der KI-gesteuerten Roboter, die sie bedrohen, stammt von einem bekannten amerikanischen Comiczeichner.

Einem Problem geht der Film genial aus dem Weg, das in den letzten Jahren schon manchem der Cyberfilme zum Verhängnis geworden ist. Er scheitert nicht an dem Versuch, die Simulation aufwendig mit Computeranimationen o.a. zu gestalten und eine künstliche, am Design erkennbare Trennung zwischen Wirklichkeit/Simulation aufrechtzuerhalten, wie zum Beispiel Robert Longos "Johnny Mnemonic" (1995), in dem Keanu Reeves auch schon einen cyberspacekundigen Hacker spielte. Der Trick ist, dass der Film die Wirklichkeit, die alle Zuschauer kennen, als Matrix, als Simulation oder Cyberspace präsentiert und daneben noch verschiedene Attraktionen des Umgangs mit Medien bündelt.

Einen Teil seiner Faszination bezieht der Film aus dem brillanten In-Szene-Setzen neuer Medien: Mobilfunk, Computer, Internet und - indirekt - Computerspiel. Dabei geht es nicht um eine Darstellung technischer Funktionen in einem Zusammenhang, sondern um einen fantastisches Spiel mit realen und imaginären Momenten ihres Gebrauchs, die jeder (wieder)erkennt, der sie benutzt:

  1. Die ständige Erreichbarkeit über Handys wird auf die Spitze getrieben; mit ihnen kann man in der Simulation nach "draußen" telefonieren. Es ist natürlich lustig, dass die Hacker zum Auschecken aus der Matrix eine fest verdrahtete Telefonleitung als Ausstieg brauchen, aber es funktioniert als Spannungsmoment, diese Telefone finden und erreichen zu müssen.
  2. Das "Konstrukt" ist ein überdimensioniertes Simulationsprogramm, das die Hovercraft-Crew zu Trainingszwecken programmieren kann. Alles läßt sich simulieren: die optimale Endstufe aller Anwendungsprogramme, wie sie heute benutzt werden:
  3. Wer je das Gefühl gekannt hat, sich ins Internet einzuklinken und sich verbunden zu fühlen mit der Welt, für den bietet "The Matrix" eine andere Erfahrung. Das Sich-Einloggen in die Matrix, eben die "Wirklichkeit", ist der ultimative Hack. Der Hacker-Mythos wird wirksam überhöht: man sitzt gewissermaßen an der Schaltstelle zur Wirklichkeit. Wenn die Nebukadnezar in Stellung gebracht ist, um ihr Piratensignal zu senden, und Morpheus kantig formuliert: "Wir gehen rein!", so hat das eine ganz andere Dimension als die Internet-Normalität von heute.
  4. Die Matrix ist Schauplatz einiger Kampfszenen. Da sie aber nicht "logisch" durchstrukturiert ist, bleibt sie ein "unmöglicher" Raum. Die Figuren bewegen sich in der durch sie dargestellten Wirklichkeit wie in einem Computerspiel. Das gilt für die Agenten, die unzerstörbar sind wie die Bots in Ballerspielen, und die Partisanen, die bei entsprechendem Training die Welt immer besser beherrschen können, da sie ja nicht real ist. Alle normalen Bewohner der Stadt sind nur Statisten in einem Spiel, das sie nicht kennen. Und das ist eine treffende Überhöhung der Spielsituation, wie sie gegenwärtig millionenfach vor dem heimischen PC erlebt wird.

"The matrix has you"

Ich glaube, dass der Film noch eine weitere Sinn-Ebene hat, die ihn zu einem subersiven Meisterstück der SF macht und ihn in seiner radikalen Gesellschaftskritik in eine Reihe stellt mit John Carpenters "Sie leben !" (1988) und John Boormans "Zardoz" (1973). Als reinen SF-Film betrachtet, hat er seine konzeptionellen Probleme. Er funktioniert viel überzeugender als Allegorie auf das Stadium des High-Tech-Kapitalismus im Zeitalter seiner Globalisierung. Niemand kann der "Matrix", dem System der Macht, das die Gesellschaft durchzieht und sich in vielfältigen Netzen verzweigt, entkommen.

"Politisch" ist der Film auf der Oberfläche, indem er einen Befreiungskampf zeigt. Er gibt seinen Figuren einen melancholischen Anstrich und vermittelt ein Gefühl der Entfremdung. Morpheus spricht von dieser Ahnung, dass irgendetwas mit der Welt nicht stimme. Die Partisanentruppe lebt im Untergrund und führt einen schwierigen Kampf gegen einen übermächtigen Gegner. Die Erschütterung des Bewußtseins angesichts der Wahrheit wird als menschlicher Konflikt beschrieben, den Cypher nicht länger auszuhalten vermag.

Ich will die Beziehung der Allegorie nicht überstrapazieren, aber ich finde es bemerkenswert, wie in dem Film über "Kontrolle" und "System" geredet wird, so dass sich der Sinn unmöglich in einer SF-Handlung erschöpfen kann. In einer Schlüsselszene erklärt Morpheus Neo, dass die Matrix überall um sie herum sei, dass man sie sehen könne, im Fernsehen, dass man sie fühlen könne, wenn man zur Arbeit oder in die Kirche geht oder wenn man seine Steuern zahlt. Die Matrix sei eine "Scheinwelt", die die Leute davon abhalte, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. In der Matrix seien alle von einem unsichtbaren Gefängnis umgeben, einem "Gefängnis für den Verstand". In einer früheren Drehbuchversion, die auf dem Internet kursiert, sollte zu Beginn des Films offenbar eine Hackerdiskussion auf Neos Bildschirm zu sehen sein, die in der jetzigen Filmfassung nicht mehr vorkommt. Ein Hacker meint da, dass die Matrix ein Euphemismus für die Regierung sei, ein anderer, daß sie das System sei, das unser Leben kontrolliere. "Unser Feind ist das System", wie Morpheus an einer Stelle meint. "Die Matrix hat dich", muß Neo im Film auf seinem Monitor lesen.

Insofern ist der Film auch nicht nur etwas für die Leser von Baudrillard, der in der früheren Fassung namentlich auftaucht, sondern auch für die von Michel Foucault, der in seinen Arbeiten die "großen geheimen Mechanismen" der Macht analysiert hat. Das globale System der kapitalistischen Macht wird über ein sich bis auf die Mikroebene wirkendes "institutionelles Informationsnetz" aufrechterhalten und erfaßt das Bewußtsein samt dem Körper. Die Kontrolle kann verschiedene Formen annehmen: vom repressiven Apparat bis hin zu Konsumzwängen. Die Menschen werden über die Verhältnisse normalisiert, das heißt, an die ideologische "Matrix" gekoppelt und in ihren Verhaltensweisen geprägt. Eine Wirkung, die im Film angesprochen wird, ist, dass sie zu angepaßt seien, als dass sie etwas von ihren Positionen aufgeben wollten.

Am Ende, wenn Neo sich befreit, sieht er die Matrix als Code, er gewinnt also eine "strukturelle Sicht" auf die Macht. Der Film läßt offen, was im Zuge dieser "Revolution" passieren wird, die Neo auslöst. Neo spricht von einer "Welt ohne Gesetze, ohne Kontrollen, ohne Grenzen", in der alles möglich sei. Die Autoren wenden hier die Matrix in einen utopischen Raum, der umgestaltet werden kann. Neben seinen tricktechnischen Schauwerten und seinem Spiel mit Medienerfahrungen sind es möglicherweise diese Sinnsplitter, die "The Matrix" zu einem nachhaltigen Eindruck bei den Zuschauern verhelfen.