Sind Bestseller wertvoller?

Wer den Bekanntheitsgrad eines Buches aus dem 8.Jahrhunderts berechnet, kann seinen wahren Wert abschätzen.

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Das zumindest postuliert John Cisne in einem Artikel in Science. Als Beispiel nimmt er von Beda Venerabilis "De Temporum Ratione", ein Werk, das der schreibgewandte Mönch im Jahr 725 verfasst hat. Dieses Buch analysiert er wie das Überbleibsel einer ausgestorbenen Population. Für seine Berechnungen nutzt er zwei Modelle aus der Populationsökologie. Zum einen das logistische Wachstumsmodell von Verhulst-Pearl und ferner eine Markov Kette mit dem Birth-and-Death System. Wobei "birth" der wiederholten Kopie des Textes entspricht und "death" deren Zerstörung, sei es durch Brand, Diebstahl, Ausmisten, und ähnliches.

Der Mönch Beda Venerabilis gilt als Vielschreiber. Er wird um 673 in Wearmouth (Northumberland) geboren, kommt als 7-Jähriger ins Kloster und stirbt im Jahr 735 im klösterlichen Jarrow (Grafschaft Durham). Beda arbeitete während dieser Zeit fast auf dem ganzen Gebiet des damaligen Wissens. Das von ihm selbst aufgestellte Verzeichnis seiner Werke enthält chronologische, historische und hagiographische Schriften, Gedichtsammlungen, Homilien und Briefe. Ferner gehören dazu Lehrbücher der Orthographie und Metrik, ein Kompendium der Erd- und Himmelskunde, sowie Schriften aus dem Gebiet der Mathematik, Physik und Musik. Sein Hauptwerk, das ihm den Ehrennamen "Vater der englischen Geschichtsschreibung" einbrachte, ist die "Historia ecclesiastica gentis Anglorum", die Kirchen- und zugleich politische Geschichte Englands von Cäsar bis zum Jahr 731. Es sind 40-45 Werke, die seinem Schaffen zugerechnet werden.

Der Vergleich einer islamischen Vorlage mit einer "Übersetzung" im 12. Jahrhundert (Original von Eliza Glaze, Übersetzung von K.Südhoff, Zur Geschichte der Medizin)

Was er auf die Pergamentrolle bringt, ist in erster Linie von zahlreichen Quellen zusammen gelesen. "De Temporum Ratione" gilt als ein Lehrbuch der Zeit- und Festrechnung. Es enthält zum ersten Mal die Berechnung der Jahre nach der Geburt Christi (anno domini, A.D.). Die Anweisungen für mathematische Berechnungen aber sind als "Taschenkalkulator" über Jahrhunderte gleich geblieben und selbst heute noch anwendbar.

John Cisne kann nun zeigen, dass die Zahl der Kopien logistisch zunimmt, und zwar unter Berücksichtigung von neu gebildeten und verloren gegangenen Exemplaren. Wie funktioniert diese Art der Berechnung? Die handgefertigten Kopien des mittelalterlichen Textes können als Gradmesser für die Verbreitung gelten. Denn je mehr Kopien hergestellt werden, umso wahrscheinlicher ist es, dass der Text angefordert und gelesen wurde.

Darin liegt der Unterschied zur heutigen Zeit. Allzu viele Bücher wandern in den Schrank, ohne überhaupt angesehen zu werden. Deshalb sind die Berechnungen von John Cisne mit Einführung der Buchdruckkunst hinfällig geworden.

Die Berechnung von John Cisne in Abhängigkeit von der Zahl der handgefertigten Manuskripte (Bild: Science)

Kritik kommt von den Anhängern der mittelalterlichen Literatur. Für sie geht es nicht um quantitative, sondern um qualitative Besonderheiten. "Qualitatively, however, we must remember that a textual fragment can never reproduce a full, integral copy," heißt es dazu in der "Perspektive" (How Science Survived — Medieval Manuscripts as Fossils) von Sharon Larimer Gilman und Florence Eliza Glaze von der Coastal Carolina University in den USA. Sie zitieren Übersetzungen von Aristoteles und Galen, die noch in der Renaissance vorgenommen wurden, oder erzählen von den vielfältigen islamischen Quellen.

Tatsächlich sind im Detail viele Fragen offen, beispielsweise, inwieweit die Bücher nur in klösterlichen Milieu gelesen wurden oder wie häufig sie durch spätere Werke ersetzt wurden?

Doch ebenso fragwürdig bleibt, ob die Antworten darauf den Wert dieser Betrachtung wirklich erhöhen. John Cisne will die Forscher dazu bringen, Begriffe der Populationsökologie für die Beurteilung von Schriftstücken heran zu ziehen. Das ist sein entscheidender neuer Beitrag. Ob das logistische Wachstumsmodell nach Verhulst-Pearl diesem Wunsch tatsächlich entspricht, ist hingegen eine zweite Frage. Neue Ergebnisse zeigen nämlich, dass dieses Modell die Bevölkerungsentwicklung in den USA erheblich unterschätzt hat.