Sind Tablets an deutschen Schulen der richtige Weg?
Deutschland setzt auf Digitalisierung der Schulen. Schweden bremst, Wissenschaftler raten ab. Forscher fordern auch hierzulande "Moratorium" für IT in der Bildung.
Deutschland und die Digitalisierung – das passe einfach nicht zusammen. Das hört und liest man immer wieder. Auch und gerade im Bildungsbereich agiere die Politik behäbig, knauserig, ohne Mumm. Oder frei nach den Freidemokraten: Bedenken first, Fortschritt zuletzt. Anders und besser machten es Länder wie Dänemark oder Schweden, gibt man zu verstehen. Dort wären Tablets an den Schulen längst Standard, selbst die Kindergärten zeigten keine digitalen Berührungsängste.
Aber Zeiten ändern sich. Das Königreich im Norden Europas bläst in puncto Digitalisierung der Bildung gerade zum Rückzug. Eigentlich war die schwedische Schulbehörde Skolverket kurz davor, eine obligatorische Tabletnutzung für Ein- bis Sechsjährige in der Förskola – der Vorschule – einzuführen. Die seit dreizehn Monaten amtierende Regierung von Ministerpräsident Ulf Kristersson schob dem nun einen Riegel vor. Auch eine verpflichtende digitale Beschulung in der Primarstufe soll es mit ihr nicht geben.
Was ist passiert? Das Stockholmer Karolinska-Institut – eine der renommiertesten medizinischen Universitäten in Europa – hatte im Juli eine Stellungnahme zur Digitalisierungsstrategie der Nationalen Agentur für Bildung veröffentlicht und die darin unterbreiteten Rezepte förmlich zerrissen.
Mangelnde Evidenz und negative Auswirkungen der Digitalisierungsstrategie
Demnach seien die behaupteten Vorzüge digitaler Medien beim Lernen nicht evidenzbasiert, schreiben die fünf beteiligten Wissenschaftler. Vielmehr habe die Forschung den Nachweis "großer, negativer Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler" erbracht. Das decke sich mit Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wonach Kinder unter zwei Jahren überhaupt keine Bildschirme nutzen sollten und der Gebrauch während der restlichen Vorschulzeit auf maximal eine Stunde zu begrenzen sei.
In dem Stil geht es weiter: Die ausgelobten Ziele – Bildungs- und Chancengerechtigkeit, Unterrichtsverbesserung, gesellschaftliche Teilhabe – würden allesamt nicht erreicht, konstatieren die Gutachter. Im Gegenteil: "Es ist offensichtlich, dass Bildschirme große Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung", verursachten Ablenkungen, Konzentrationsmängel und verdrängten körperliche Aktivitäten.
Das sind ganz neue Töne, genauer gesagt andere als die der IT-Lobbyisten, welche seit Jahren den öffentlichen Diskurs bestimmen und die Politik vor sich hertreiben. Schon als die Große Koalition vor fünf Jahren den "DigitalPakt Schule" auf den Weg brachte, gab es hierzulande etliche kritische Köpfe, die vor dem Projekt warnten: Erziehungswissenschaftler, Hirnforscher, Kinder- und Jugendärzte. Ihre Einwände wurden ignoriert.
Kommerzielle Interessen vs. pädagogischer Nutzen
Seither wurden haufenweise Bildungsanstalten mit Tablets, Laptops, Whiteboards und moderner Breitbandtechnik geflutet, zu Kosten von 6,5 Milliarden Euro und ohne echten Beleg eines Mehrwerts für Schülerinnen und Schüler. Der Zeitgeist will es halt so und nicht wenige rufen bereits nach einem "Digitalpakt 2.0".
Dabei gibt sehr prominente "Bedenkenträger". Zum Beispiel stellte die UNESCO – die UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur – jüngst in ihrem "2023 Global Education Monitor" fest, dass bei den aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt stünden, sondern kommerzielle Interessen der IT-Anbieter und Datenökonomie.
Unparteiische Erkenntnisse über die Auswirkungen der Bildungstechnologie seien Mangelware und Studien pro Digitalisierung stammten in aller Regel von denen, die die Technik verkauften. Fazit: "Von Technologien, die für andere Zwecke entwickelt wurden, kann nicht unbedingt erwartet werden, dass sie für alle Bildungsbereiche geeignet sind."
Keine Verbesserung der Schülerleistungen
Selbst die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als maßgeblicher Antreiber der digitalen Bildung musste schon vor Jahren einräumen, dass Investitionen in die IT-Ausstattung der Schulen keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistungen in Lesekompetenz, Mathematik oder Naturwissenschaften erbracht hätten.
Viel wahrscheinlicher ist der gegenteilige Effekt. Die Stockholmer Karolinska verweist in ihrer Stellungnahme auf Befunde, wonach Studierende mit angeschlossenem Computer bis zu 40 Prozent einer Vorlesung mit "irrelevanten Dingen" verbringen. Bei einer anderen Untersuchung hätten Hochschüler mit Laptop die Inhalte einer Lehrveranstaltung zu 30 Prozent schlechter erinnern können als ihre "analogen" Kommilitonen.
Im Falle von Grund- und Sekundarschülern wären die Folgen "wahrscheinlich" noch gravierender, "da jüngere Kinder über schlechtere exekutive Funktionen verfügen", befinden die Autoren. Weiter heißt es: "Multitasking führt zu schlechterem Lernen, weil unser Gehirn nur begrenzt in der Lage ist, relevante Informationen im Arbeitsgedächtnis zu speichern." Auch würden Kinder erwiesenermaßen in ihrer Leseentwicklung weit zurückgeworfen, sofern sie am Bildschirm und nicht anhand bedruckter Bücher lesen lernten.
Die Auswirkungen der Onlinebeschulung
Unbestritten ist, dass die monatelange Onlinebeschulung während der Corona-Lockdowns erhebliche Lernrückstände und kognitive Defizite bei Heranwachsenden hinterlassen hat, die bis heute nachwirken. Immerhin hat sich das bis in die Politik herumgesprochen. Laut einer Stellungnahme der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz (KMK) ist der rein digitale dem analogen Unterricht deutlich unterlegen.
Daraus erwächst aber kein Umdenken, sondern lediglich ein Schwenk bei der Vermarktung. Seither ist man eifrig bemüht, den Einsatz digitaler Medien als Ergänzung zum Regelunterricht zu bewerben und das "Primat der Pädagogik" zu beschwören. Analoger Unterricht läuft hierzulande aber seit Jahren unter häufig unzulänglichen Bedingungen. Bundesweit fehlen Zehntausende Lehrkräfte und der Personalmangel könnte zum Einfallstor für den Einsatz digitaler Hilfsmittel werden.
Die Sorge treibt auch den Deutschen Ethikrat um. In seiner Stellungnahme "Mensch und Maschine – Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz" warnt er vor einer "vollständigen Ersetzung" von Lehrkräften, was auch nicht durch "akuten Personalmangel" und "eine schlechte (Aus-)Bildungssituation" zu rechtfertigen sei. Allerdings bleibt unterhalb von "vollständig" allerhand Spielraum für einen zumindest partiellen Lehrerersatz durch Technik.
Die Gefahren von Künstlicher Intelligenz
Dabei zeichne sich in Gestalt Künstlicher Intelligenz (KI) schon die "nächste Stufe der Automatisierung des Unterrichtens und Testens" ab, meint Ralf Lankau, der als Pädagoge und Medienwissenschaftler an der Hochschule Offenburg lehrt. "Die Art, wie in Deutschland mit KI in Schulen agiert wird, entspricht dem Einsatz von Fentanyl als Schmerzmittel in den USA. Es nimmt den Schmerz, macht aber sofort süchtig", bemerkte er gegenüber Telepolis.
"Wenn man Schülerinnen und Schüler dazu bringt, ChatGPT und Co. zu fragen, verlernen sie das Selberdenken und gewöhnen sich an computergenerierte Vorgaben. Lankau spricht von "intellektuellem Fastfood", wer kein Fachwissen habe – wie Schülerinnen und Schüler bei neuen Themen – müsse entweder alles aufwendig nachrecherchieren und überprüfen – was niemand macht – oder der Software glauben. "So schafft man Abhängige ohne eigenes Reflexionsvermögen, Hörige und Gläubige statt Wissende."
Lankau hat sich unlängst gemeinsam mit 40 Wissenschaftlern aus dem deutschsprachigen Raum mit der Forderung nach einem "Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen" an die Öffentlichkeit gewandt. "Es müssen zuerst die Folgen der digitalen Technologien abschätzbar sein, bevor weitere Versuche an schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen mit ungewissem Ausgang vorgenommen werden", heißt es in dem Aufruf.
Der Blick nach Europa
Kinder hätten "nur ein Leben, nur eine Bildungsbiografie, und wir dürfen damit nicht sorglos umgehen". Zu den Unterzeichnern zählen Erziehungs-, Sozial-, Humanwissenschaftler, Psychologen, Mathematiker, Informatiker, Gesundheitsforscher sowie Kinder- und Jugendärzte. "Intelligenter wäre es", schreiben sie, "von nationalen wie internationalen Praxiserfahrungen und Studienergebnissen zu lernen und darauf aufbauend Konsequenzen vor allem in der personellen statt der (medien-)technischen Ausstattung von Schulen und Ausbildungsstätten zu ziehen".
Weiterhelfen könnte ein Blick nach Schweden, wo die Regierung das Rollback zu Heften und Büchern propagiert. Oder zum französischen Nachbarn. Dort gilt seit 2010 ein Handyverbot im Unterricht, 2018 erweitert zum Komplettverbot internetfähiger Geräte in allen Räumlichkeiten und bei schulischen Aktivitäten auch außerhalb des Schulgebäudes. Die Niederlande führen 2024 ein Smartphone-Verbot an Schulen ein, Dänemark diskutiert darüber.
Und Deutschland? Bayern plant, in den nächsten fünf Jahren, 1,6 Millionen Schüler mit Tablets zu versorgen, und Baden-Württemberg will den Einsatz digitaler Geräte per Schulgesetz verpflichtend machen. So etwas nennt man wohl Lernrückstände.
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