Sinn und Unsinn von Verbrauchertypologien?
Verbraucher sind keine einheitliche Gruppe - ein charakteristisches Unterscheiden ist jedoch nicht so einfach
Immer wieder wird in politischen Diskussionen von "den Verbrauchern" gesprochen, so als wären die Menschen in ihrer Verbraucherrolle - also letztlich dann alle Menschen - eine Art von einheitlicher Person. Diese Verdichtung und Verdinglichung findet sich im Sprachgebrauch bei vielen anderen Begriffen, etwa "den Flüchtlingen", "den Bürgern", "den Frauen" usw. als politische Rhetorik, was natürlich sehr waghalsig und völlig undifferenziert ist.
Den oder die einheitlichen Verbraucher gibt es nicht, Konsumenten zerfallen in ganz unterschiedliche Gruppen. Das weiß das Marketing schon lange, nun folgt auch die Verbraucherpolitik und versucht eine Typenlehre.
Lebensstil-Unterschiede
In den 1980er Jahren entwickelte sich die Lebensstil-Forschung, insbesondere um die Marketingaktivitäten der Konsumgüter-Unternehmen effizienter gestalten zu können. Produktvorlieben, die früher nach soziodemografischen Kriterien (Lebensalter, Geschlecht, Einkommen, Wohnort) entschlüsselt wurden, reichten in der virtuell individualisierten Konsumgesellschaft nicht mehr aus, um erfolgversprechendes Zielgruppenmarketing zu schaffen.
Junge, gut ausgebildete, berufstätige und städtische Männer sind längst keine einheitliche Gruppe mehr, sie können aufmerksamkeitssüchtige Yuppies sein oder ökobewegte Romantiker, eine konsumgesellschaftsfreundliche Mischung aus beiden Lebensstilen, sich einen Burn-out einfangen oder bei geringer Frustrationstoleranz auch Islamkonvertiten werden.
Verschiedene Milieus
Die Sozialforschung begann ebenfalls ab den 1980er Jahren verstärkt dem Marketing zuzuarbeiten, man wollte schließlich Drittmittel einfahren und eine Stärkung der eigenen Bedeutung zustande bekommen. Dazu wurden primär wirtschaftlich verwertbare Ergebnisse gesucht und für diesen Zweck Verbrauchertypologien entwickelt. Eine dieser Milieu-Darstellungen wurde von Sigma entwickelt.
Eine verwandte Typologie gibt es etwa von SINUS, von anderen Instituten kommen viele ähnliche Typisierungen, die mit knalligeren Bezeichnungen wie: ProllProfessionals, Gutbürger und Tigerwomen oder altbacken akronymisiert, wie LOHAS (Lifestile of Health and Sustainability) operieren.
Ausgangspunkt war die aus der US-amerikanischen Sozialforschung übernommene Erweiterung des sozialen Schichtmodells (sozial Deklassierte, Unterschicht, Mittelschicht, Oberschicht) durch unterschiedliche persönliche Werte und Interessenslagen. Die Schichtzugehörigkeit (Ausbildung, Einkommen, Berufstätigkeit) alleine ist in einer hoch expansiven Konsumgesellschaft mit Millionen verschiedener Konsumgüter und Dienstleistungen ein viel zu grobes Muster, um Nachfrage- und Lebensstilpräferenzen für Vermarktungszwecke ausmachen zu können.1
Da mittlerweile nahezu alle menschlichen Lebensbereiche marktähnlich und gewissermaßen kapitalistisch geworden sind, verwenden heute nicht nur Unternehmen, sondern ebenso politische Parteien, Kirchen und NGOs solche Verbraucher-, Lebensstil- und Milieutypologien, um ihre Zielgruppen zu finden, zu erweitern oder besser anzusprechen.
Verzerrte Verbraucherbilder
In der Politik der Europäischen Union spielte lange Zeit "der mündige Verbraucher" eine große Rolle. Neue Spielregeln, also neue Warenkennzeichnungen, Warnhinweise und Rechtsregeln stellen dabei auf diesen informationsfreudigen Konsumenten ab, dem stets bewusst sein sollte, welche Rechte er hat und der vor allem weiß, was er überhaupt haben will.
Verbraucher müssten rationale Kaufentscheidungen treffen, ist dabei der wirtschaftspolitische Imperativ. Konsumenten hätten sich zu verhalten wie ideale Unternehmer es täten: umfassend informiert, stets auf den eigenen Geldbeutel achtend, egoistisch, dabei dennoch (politisch korrekt ist ja auch wichtig) achtsam, respektvoll, zukunftsorientiert und verantwortungsvoll, also nachhaltig.
Das alles ist jedoch ziemlich unrealistisch - wie gut das bei Unternehmen läuft, zeigt sich an den Skandalen rund um die Deutsche Bank, VW und der Fußballindustrie, um nur einige aktuelle zu nennen. Von den vielen Übervorteilungen, welchen die meist nicht ideal handelnden Verbraucher ausgesetzt sind, berichten ausführlich die entsprechenden Ratgebersendungen im Fernsehen.
Rational, mündig und verantwortungsvoll funktioniert offenbar auf beiden Seiten des Marktes nicht so recht, darum gibt es im Verständnis der EU neben dem mündigen immer auch den schutzwürdigen Verbraucher, etwa bei zivilrechtlichen Spielregeln und mit Rücktrittsrechten im sogenannten Fernabsatz. Diese Schutzmechanismen finden sich in blumig formulierten Europäischen Richtlinien und entsprechenden 28, jeweils leicht variierenden, umständlichen nationalen Gesetzen.
Mündig und / oder schutzbedürftig?
Den Typus des "mündigen Verbraucher" hat sich die EU dabei aus dem traditionellen Mainstream der Wirtschaftswissenschaften entlehnt. Diese gehen in ihren nach wie vor ziemlich weltfremden Modellen vom rationalen Verbraucher, dem "homo oeconimicus" aus, der sich souverän und mit umfassendem Wissen auf Augenhöhe mit den Anbietern befindet.
Der schutzbedürftige Verbraucher ist demgegenüber empirisch vielfach anzutreffen und eine grundsätzliche Legitimationsfigur für die nationalen Verbraucherpolitiken. Was heißt, alle Konsumenten gehören zu dieser schwachen, schützenswerten Klientel, die mit Information, Beratung und Rechtsbeistand unterstützt werden soll. Andererseits wollte man Verbraucher dazu bringen, natürlich auf freiwilliger Basis, umweltfreundlich zu konsumieren. Freiwilliger Umweltschutz beim Konsum, das setzt freilich voraus, dass solche Verbraucher rationaler handelnde und moralisch bessere Menschen sind, als das Gros der Unternehmen.
Praktisch ist das doch etwas paradox und damit unzufriedenstellend, wenn man genau hinsieht. Darum hat der Wissenschaftliche Beirat beim früher zuständigen Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher (BMELV)2 den Versuch einer verbesserten Typologie der Verbraucher unternommen.
Neue Verbrauchertypen
Die Verbraucher unterteilen sich demnach in verletzliche, vertrauende und verantwortungsvolle Menschen. Kennzeichen der verletzlichen Gruppe sind Armut, Hilflosigkeit und Unkenntnis von Vermarktungspraktiken, die sonst als allgemein bekannt gelten, diese Gruppe benötigt daher besonderen Schutz.
Die Mehrzahl der Verbraucher wären als vertrauend anzusehen: in das Funktionieren des Marktes, auf die Ehrlichkeit von Unternehmen, auf den Staat, der für die Einhaltung von gerechten Spielregeln sorgt. Diese Gruppe nimmt offenbar den Staat und auch das System Wirtschaft vor allem (typisch mitteleuropäisch übrigens) als paternalistisch wahr - gewissermaßen im Modus: Alle sind eh meist lieb zueinander.
Und dann wäre da noch eine kleinere verantwortungsvolle Gruppe, sie nimmt die Umwelt und sozialpolitische Fragen beim Konsum ernst, Kinderarbeit etwa, beachtet Regionalität und Ressourcenschonung und trägt mit klugen Entscheidungen zu einer besseren Welt bei.
Wahlfreiheit überall
Bei der Bildung dieser drei Typen wurde das Dogma der sogenannten Konsumentensouveränität nie in Frage gestellt. Dieser Glaubenssatz einer freien Konsumentscheidung entspricht neoliberalem Gedankengut und ist heute in der Wirtschaftspolitik allumfassend präsent. Die Wahlfreiheit von Konsumenten darf nicht angetastet, beim Konsum darf niemandem etwas eingeredet, vorgeschrieben oder verboten werden, sieht einmal von einigen wenigen Nischen (Drogen, Tabak, Faustfeuerwaffen, konventionelle Glühlampen) ab, an denen sich der autoritäre Charakter der Bürokraten austoben darf. Davon abgesehen gilt: Freier Konsum für freie Bürger, um den alten deutschen Schnellfahr-Slogan ("Freie Fahrt für freie Bürger", ADAC 1974) milde abzuwandeln. Schrankenloses Rasen, damit den schnellen, teuren deutschen Autos ihre Marktanteile erhalten bleiben, das steckte damals dahinter. Natürlich dürfen die Menschen schon auch vernünftig oder sparsam konsumieren oder langsamer fahren - das muss aber wirklich völlig freiwillig, ohne jeden Zwang vor sich gehen.
Diese immer wieder beschworene Wahlfreiheit ist natürlich pseudoliberaler Quatsch, denn niemand schiebt den Unternehmen einen Riegel vor, wenn sie seit Jahrzehnten mit milliardenschwerem, unfassbarem Aufwand, mit Hilfe von Werbung und durch ausgetüftelte Marketingmaßnahmen Konsumenten hemmungslos manipulieren und damit jede wirklich freie Kaufentscheidung beschädigen. Nun ja, die dürfen das wohl, denn das wurde immer schon so gehandhabt. Doch zurück zu den Verbrauchergruppen.
Eindimensionale Konsumenten?
Die Gruppierung in verletzliche, vertrauende und verantwortungsvolle Verbraucher stützt sich nur auf eine der vielen Dimensionen des Handlungsraumes von Menschen: unwissend/naives (verletzlich, vertrauend) Verhalten bis wissend/bewusstes (verantwortungsvoll) Handeln, sie differenziert nicht weiter und wirkt in ihrer Begrifflichkeit etwas betulich, recht gutmenschlich und vor allem "korrekt".
Man könnte genauso gut die "verletzlichen" oder "vertrauenden" Verbraucher als dumm bezeichnen und träfe den Sachverhalt vermutlich punktgenauer. Überhaupt ist es ziemlich problematisch, trotz der Unterscheidung alle Verbraucher als unschuldig, harmlos und nett zu sehen, wie das bei dieser Dreiergruppierung implizit geschieht.
Gefährliche Egoisten
Natürlich gibt es auf beiden Seiten des Marktes, bei Unternehmern wie bei Verbrauchern, viele hemmungslose Egoisten, die, wenn sie es können, an die erste Stelle ihre eigenen Interessen setzen und denen andere Menschen, die Umwelt oder die nächsten Generationen völlig egal sind. Diese ignoranten Verbraucher3 sollten nicht länger ungeschoren davonkommen und die Verbraucherpolitik täte ganz gut daran, sich dieser egoistischen Gruppe zu widmen. Das sind die oft gar nicht so armen Billigfleisch-Käufer, die Diskonttextilien-Träger, die Dieselfahrer, die Billigflieger, die aus purem Übermut und weil es ja so preiswert ist, Kontinente abfliegen.
Die Mehrzahl von ihnen weiß meist ganz gut, was sie mit ihrem Konsumverhalten anrichtet. Aber da das schick ist und Trittbrettfahren oft sogar Anerkennung findet ("Geiz ist geil" usw.), fühlen sie sich mit ihrem ignoranten und sozial destruktiven Vorgehen natürlich nicht im Unrecht, - man wäre in dieser egoistischen Gesellschaft ja geradezu blöd, dächte man nicht auf den eigenen Vorteil.
Wie umgehen mit Ignoranten?
Der Entwicklung der Verbrauchertypen (verletzliche, vertrauende und verantwortungsvolle Verbraucher) und dem nachzutragenden ignoranten Verbraucher folgte der Appell, diese Typen auch zielgruppengerecht mit Informationen und Beratungsangeboten anzusprechen. Das kann spannend werden, wenn es sich um ignorante Konsumenten dreht. Wie bewerkstelligt es die Politik, mit Egoisten und Trittbrettfahrern umzugehen, und wie schaffen es Menschen, sich im Alltag mit ihnen auseinander zu setzen?
Beim demonstrativen Konsum ist die Gegenwartskultur weitgehend gescheitert, obschon noch vor Jahrzehnten Angeber ziemlich schnell sozial sanktioniert und mitunter geächtet wurden, gerade in Schule, Studium und am Arbeitsplatz. Damals war solches Angeben, also demonstrativer Konsum, gesellschaftlich bzw. politisch unkorrekt, heute wird das achselzuckend und schweigend zur Kenntnis genommen, selbst dann, wenn ein bekennender LOHAS- oder Bobo-Typ mit dem überdimensionalen Diesel-SUV das Kind von der Waldorfschule abholt und zügig zum Bioladen düst.