Small is beautiful
Seite 2: … und auch in den Industrieländern
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Von der beschriebenen Warte aus ist es für Schumacher kein Problem, das Ganze auch auf die Industrieländer zu übertragen. Auch hier konstatiert er eine materialistische Denkweise, einen "Götzendienst an Aspekten der Wirtschaftlichkeit"11 , die sich als Wurzel so manchen Übels erweise. Denn "Wirtschaftswissenschaft saugt die gesamte Ethik auf."12
Sehen wir es uns näher an. Schumacher weist auf ein in der Tat sehr bemerkenswertes Paradoxon hin13:
Wenn wir fragen, wohin die stürmischen Entwicklungen der Industrie in der Welt uns im letzten Vierteljahrhundert gebracht haben, ist die Antwort recht entmutigend. […] Nichts in der Erfahrung der letzten fünfundzwanzig Jahre zeigt, dass moderne Technologie, wie wir sie kennen, tatsächlich bei der Linderung der Armut in der Welt helfen kann, ganz zu schweigen vom Problem der Arbeitslosigkeit, die […] sich jetzt auch in vielen der reichen Länder einzunisten droht.
Und das, obwohl festzuhalten sei14:
Die erste Aufgabe der Technologie, so sollte man meinen, besteht darin, die Arbeitslast zu erleichtern, die der Mensch tragen muss, um am Leben zu bleiben und seine Möglichkeiten zu erweitern.
Allerdings besteht dieses widersprüchliche Phänomen nicht erst seit Ende des zweiten Weltkriegs, sondern ist bereits dem britischen Ökonomen John Stuart Mill (1806-1873) aufgefallen:
Es ist fraglich, ob alle bisher gemachten mechanischen Erfindungen die Tagesmühe irgendeines menschlichen Wesens erleichtert haben.
Karl Marx führt diesen Satz im Kapital an, bemerkt dazu lapidar "Solches ist jedoch auch keineswegs der Zweck der kapitalistisch verwandten Maschinerie." und erklärt die Gründe15:
Gleich jeder anderen Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit soll sie Waren verwohlfeilern und den Teil des Arbeitstags, den der Arbeiter für sich selbst braucht, verkürzen, um den anderen Teil des Arbeitstags, den er dem Kapitalisten umsonst gibt, zu verlängern. Sie ist Mittel zur Produktion von Mehrwert.
Schließlich ist es ja kein Geheimnis: wenn ein Betrieb neue Technik einführt, durch die dasselbe Arbeitsresultat in kürzerer Zeit erreicht werden kann, so wird nicht die Arbeitszeit reduziert, sondern es werden Leute entlassen, und die, die bleiben, müssen oft unter verstärktem Stress arbeiten, z.B. weil sie sich nun dem entsprechend hoch eingestellten Maschinentakt anzupassen haben.
Dass die Arbeit unter diesen Umständen keinen Spaß macht, überrascht nicht. Sie ist ruinös für Leib und Seele. Auch Schumacher entgeht das nicht, jedoch sieht er den Grund nicht darin, dass die Arbeit gemäß den Kapitalinteressen, denen die Technik in dieser Gesellschaft dient, gestaltet wird, sondern in der Technik selbst16:
Es ist seltsam, dass Technologie, obwohl sie natürlich vom Menschen hervorgebracht ist, dazu neigt [!], sich nach ihren eigenen Gesetzen und Grundsätzen zu entwickeln.
In der Tat ist es seltsam, dass der Mensch da etwas erschaffen haben soll, was eigene Neigungen hervorbringt und sich gemäß diesen weiter entwickelt. Wie löst Schumacher dieses Paradoxon auf? Gar nicht: er geht unbekümmert dazu über, zu beschreiben, worin seiner Meinung nach diese eigenständigen "Neigungen" und "Grundsätze" der Technologie bestehen. Und die sind denkbar einfach: nämlich immer größer zu werden.
So platt drückt Schumacher das freilich nicht aus, sondern er bringt einen Vergleich mit dem, wie er die Natur sieht; er fährt an der angeführten Stelle nämlich fort17:
Diese aber sind von denen des Menschen oder der lebenden Natur allgemein sehr verschieden. Die Natur weiß sozusagen stets, wo und wann sie aufhören muss. Noch größer als das Geheimnis des natürlichen Wachstums ist das Geheimnis der natürlichen Begrenzung des Wachstums. Bei allen natürlichen Dingen – ihrer Größe, Geschwindigkeit oder Gewalttätigkeit – gibt es ein Maß.
Als Ergebnis gleicht das System der Natur, zu dem der Mensch gehört, sich selbst aus, regelt und reinigt sich selbst. Das ist bei der Technologie nicht der Fall, oder vielleicht müsste ich sagen: beim Menschen, der von Technologie und Spezialisierung beherrscht wird. Die Technologie erkennt keinen Grundsatz der Selbstbegrenzung an – beispielsweise im Hinblick auf Größe, Geschwindigkeit oder Gewalttätigkeit. Daher besitzt sie nicht die Fähigkeit, sich selbst auszugleichen, zu regeln und zu reinigen.
Machen wir uns die Mühe, das genau zu verstehen, denn aus dieser Textstelle lässt sich das Prinzip von Schumachers Denkweise recht schön ersehen. Die Argumentation folgt dem Prinzip des Vergleichs: er stellt anhand der einen Seite des Vergleichs (die belebte Natur) das, worauf es ihm ankommt so dar, dass es allgemein plausibel erscheint, um mit der Übertragung auf die andere Seite des Vergleichs (die Technologie) sein Argumentationsziel zu erreichen.
Also zunächst zur belebten Natur – wir fragen: Was sind die Fakten, auf die Schumacher Bezug nimmt, und in welcher Weise stellt er sie dar? Lebende Organismen sind in ihren Eigenschaften, zu denen auch die Körpergröße zählt, durch die Anpassung an ihre jeweilige Umwelt und Lebensstrategie (also an das, was man "ökologische Nische" nennt) bestimmt.
Es ist ja die Leistung von Darwins Evolutionstheorie, auf diese Weise Teleologie auf Kausalität zurück zu führen. Das vorausgeschickt, kann man Organismen in Begriffen der Zweckmäßigkeit beschreiben und "Größe, Geschwindigkeit und Gewalttätigkeit" (wie immer man letztere in diesem Kontext fassen will) als zweckmäßig bestimmt erkennen.
Dass sich in den verschiedenen Lebensräumen aufgrund der Angepasstheit der Organismen Lebensgemeinschaften herausbilden, die mehr oder minder langfristig stabil sind, und die man insofern als sich selbst ausgleichend, regelnd und reinigend beschreiben kann, ergibt sich ebenfalls kausal. Das sind die objektiven naturwissenschaftlichen Zusammenhänge – ob man diese nun, so wie es Schumacher tut, so betrachten will, als könnte man von der Natur als einem Subjekt, das etwas "weiß", in mehr als nur metaphorischem Sinn sprechen, bleibt der rein persönlichen Weltanschauung überlassen.
Die Formulierungen suggerieren letzteres jedenfalls, insbesondere wenn vom "Geheimnis" des natürlichen Wachstums und seiner Begrenzung die Rede ist, womit doch offenbar etwas wesensmäßig Tieferes angesprochen sein soll als etwaige noch offene naturwissenschaftliche Fragen.
Die Sache in dieser Weise zu formulieren, trägt dazu bei, es plausibel erscheinen zu lassen, wenn nun die zum Vergleich dagegengesetzte "Technologie" ebenfalls als ein solches Geistersubjekt dargestellt wird. Als ein solches soll es den Menschen "beherrschen" und keinen Grundsatz der Selbstbegrenzung "anerkennen".
Was damit gezielt aus dem Blickfeld genommen wird, ist die Tatsache, dass die Technik gar nicht so wie die Natur vom menschlichen Willen unabhängig existiert, sondern von diesem bewusst geschaffen wird, und zwar in zweckbestimmter Weise, und dementsprechend auch Größenbestimmungen besitzt, die diesen Zwecksetzungen entsprechen. Vielmehr soll es so erscheinen, als würde sich die Technologie ganz selbständig gemäß ihren eigenen Zielen entwickeln.
Tatsächlich sind aber die Zwecke der Technik – jedenfalls was die Industrie betrifft – die des Kapitals, denn in unserer Gesellschaft ist es das Kapital, das über die technischen Industrieanlagen verfügt. Der ganze kunstvolle Aufbau von Schumachers Argumentation hat nichts anderes zum Inhalt, als die Gedanken auf eine Ebenen zu führen, auf der von dieser doch eigentlich selbstverständlichen Tatsache abstrahiert wird.
Die heutigen Industriegesellschaften sind durch große Kapitalkonzentrationen gekennzeichnet und daher auch durch dementsprechend große Produktionsanlagen. Kapital ist seinem Begriff nach auf Selbstvermehrung ausgerichtet. Deshalb erscheint es aus dem Blickwinkel von Schumachers Theorie der selbsttätigen Technologieentwicklung so, als wäre das schiere Streben nach Größe der immanente Zweck aller Technologie.
Alles Unschöne an der kapitalistisch angewendeten Technik wird nun von Schumacher als Folge ihrer Größe dargestellt – und dem die Parole "small is beautiful" entgegengesetzt.
Wie falsch das ist, lässt sich schon am Beispiel der Näherinnen in Bangladesch ersehen: denn die Nähmaschinen, an denen die schuften, kann man gewiss nicht als Großtechnologie bezeichnen. Die miserable Lage dieser Arbeiterinnen hat ihren Grund eben nicht in der Technik, sondern im kapitalistischen Ausbeutungsverhältnis: darin, dass ihnen möglichst viel Arbeit für möglichst geringen Lohn abgepresst wird.
Natürlich ist Größe nicht um ihrer selbst willen erstrebenswert – aber ebenso wenig ist sie per se von Übel. Die richtige Größe bestimmt sich danach, was den jeweiligen Zweck am besten erfüllt. Zweck der Produktion im Kapitalismus ist der Profit; der ist aber an die Produktion von Gebrauchswert gebunden; Produktionseinrichtungen, deren Größe für die Herstellung des jeweiligen Gebrauchswerts unzweckmäßig wäre, wären also auch für die Erwirtschaftung von Profit unzweckmäßig.
Erträgliche Arbeitsbedingungen sind ebenfalls nicht Teil kapitalistischer Zwecksetzung (sie müssen oft genug gegen die Interessen des Kapitals erkämpft werden). Deshalb bringen große Industrieanlagen auch nicht wegen ihrer Größe schlechte Arbeitsbedingungen mit sich, sondern wegen der kapitalistischen Kalkulationen.
Dass Arbeit Plackerei ist, auch das lastet Schumacher der industriellen Großtechnik an und er träumt von einer durch handwerkliche Produktion bestimmten Welt18:
Jedem würde das gewährt, was jetzt das seltenste Vorrecht ist: die Gelegenheit, nützlich, schöpferisch, mit seinen eigenen Händen und seinem Kopf zu arbeiten. Würde das nicht eine ungeheure Verlängerung der Arbeitszeit bedeuten? Nein, Menschen die so arbeiten, kennen den Unterschied zwischen Arbeit und Muße nicht
Einer solchen Romantisierung vorindustrieller Arbeit ist entgegen zu halten, dass schon in der Bibel, die doch aus vorindustrieller Zeit stammt, also der damaligen Erfahrungswelt entspricht, die Notwendigkeit der Arbeit als ein Fluch dargestellt wird, der seit der Vertreibung aus dem Paradies auf der Menschheit lastet: "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen."
Auch ein Schuster im Mittelalter, dessen Arbeit vielleicht noch am ehesten solchen romantischen Vorstellungen entspricht, wird nicht bei jedem Paar Schuhe aufs Neue die volle Freude am Schöpfertum erleben, sondern zusehen, dass er genug des Immergleichen erledigt, um davon sein Auskommen zu haben.
Große Kapitale, wie sie für die heutigen Gesellschaften bestimmend sind, haben bei Investitionen in Produktionsanlagen die Wahl, ob sie im Verhältnis mehr kleinere oder weniger größere Produktionseinheiten installieren wollen. Entscheidend wird sein, wie die höchstmögliche Produktivität erreicht werden kann. Da haben im Allgemeinen größere Einheiten sehr wohl den Vorzug, "rationeller" zu sein, also einen größeren Ausstoß an Produkten pro geleisteter Arbeitsstunde zu ermöglichen.
Das ist ja eben das, was oben angesprochen wurde: die – eigentlich naturgemäße – Erwartung in die Maschinerie, menschliche Arbeit zu erleichtern oder einzusparen, und was, wie besprochen, im Kapitalismus nur zur Steigerung des Mehrwerts dient. In einer vernünftig organisierten Gesellschaft kann es jedoch zur Steigerung des allgemeinen Wohls dienen: durch die Verkürzung des Arbeitstags, d.h. durch die Reduktion der für die notwendige Arbeit aufgewendeten Zeit, so dass in gleichen Maß frei verfügbare Zeit vermehrt wird – also für den "Übergang vom Reich der Notwendigkeit zum Reich der Freiheit", wie Marx das ausdrückte.19
Es ist Schumacher zugute zu halten, dass er als einer der ersten Gesellschaftstheoretiker die Warnungen über die Grenzen des Wachstums ernst genommen hat – einerseits. Andererseits ist bedauerlich, dass er dabei zu gedanklichen Irrwegen verleitete, die bis heute nachwirken.
Er verfällt zudem oft genug in die Tautologien der moralischen Weltbetrachtung: Die Leute tun, was sie tun, weil sie so sind, dass sie das tun. Die Menschen setzen dem unheilvollen Wachstum nichts entgegen – warum? weil sie zu sehr aufs Wachstum fixiert sind. Sie haben eine20
Lebensweise, die sich auf den Materialismus stützt, d.h. auf einen Glauben an ständige und unbegrenzte Ausdehnung einer begrenzten Umwelt.
Die Liste der Stellen, wo er alles Übel in der falschen moralischen Haltung der Leute begründet sieht, ließe sich beliebig verlängern. Diese Art von "Gesellschaftskritik" hat es seit jeher gegeben und wird es weiterhin geben. Das spezifisch Neue – und zugleich der entscheidende Fehler – in Schumachers Theorie besteht darin, als Zentrum des Problems die Industrie zu benennen, unter Abstraktion von allen gesellschaftlichen Zwecken und Zusammenhängen, in welchen diese steht. Leider ist das dann auch der Punkt, womit er den weiteren Diskurs beeinflusst hat.
Die bei Schumacher formulierte Abstraktion von den kapitalistischen Zwecken der Industrie ist logisch gleichbedeutend damit, Kapital und Industrie gleichzusetzen – und in dieser Form wurden seine Gedanken von allen aufgegriffen, die man im engeren oder weiteren Sinn zu den sogenannten Postwachstums-Theoretikern rechnen kann.
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