"So schlimm wie Besatzungstruppen"
Der russische Präsident will gegen die grassierende Korruption vorgehen, während ein Milizmajor durch ein Internetvideo zu einem Helden wurde
Anfang November, wenige Tage bevor der russische Präsident Dimitrij Medwedew seine alljährliche Rede vor der Föderalversammlung hielt, in der erneut die Korruption im Lande anprangerte, veröffentlichte der Milizmajor Alexej Dymowski auf Youtube zwei Videos, in denen er seinen Vorgesetzten Amtsmissbrauch und Korruption vorwarft. Das hat den Milizionär für viele Russen zu einem Helden gemacht und gleichzeitig eine Lawine ausgelöst. Seitdem veröffentlichen im Internet immer mehr russische Milizionäre Videos, in denen sie ähnliche Vorwürfe erheben. Doch ob durch diese in Gang gebrachte Debatte die Korruption eingedämmt werden wird, ist fraglich. Denn Alexej Dymowski halten einige für eine kleine Schachfigur in einem politischen Machtkampf und nicht für einen Ordnungshüter, der mehr Gerechtigkeit haben möchte.
Es waren sehr kritische und nichts beschönigende Worte, mit denen Präsident Dimitrij Medwedew in seiner Rede an die Föderalversammlung und die Regierung das heutige Russland beschrieb. Die Industrie bezeichnete er als "primitiv", auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig, und er bemängelte im Gegenzug die Abhängigkeit des Landes vom Rohstoffhandel. Schonungslos ging das Staatsoberhaupt auch mit den russischen Streitkräften ins Gericht, deren Stärke immer noch auf Waffen aus vergangenen Sowjetzeiten basiert.
So kann Russland keine Weltmacht bleiben, lautet kurz gefasst das Fazit der 100-minütigen Rede, die Medwedew am Donnerstag vergangener Woche im Kreml hielt. "Für die heutige Generation von Russen ist die Zeit gekommen, selber ein Zeichen zu setzen und unser Land in eine neue, höhere Stufe der Zivilisation zu führen", appellierte Medwedew deshalb an seine Zuhörer.
Dass diese Ziele aber nur in einem bürgerlichen Rechtsstaat, für den Medwedew bereits vor einem Jahr in seiner Rede an die beiden Häuser des Parlaments warb (Auf dem Weg zur Modernisierung Russlands?), zu erreichen sind, machte der russische Präsident ebenfalls deutlich. So schonungslos wie es sein Vorgänger Wladimir Putin erst zum Ende seiner Amtszeit tat, als er den Staatsapparat als zu bürokratisiert, korrumpiert und ineffizient bezeichnete, prangerte Dimitrij Medwedew die aktuellen Verhältnisse in Russland an und nannte zum wiederholten Male das größte Übel der russischen Gesellschaft beim Namen: die Korruption.
Wie alltäglich Korruption in Russland ist und wie weit diese in alle Lebensbereiche eingedrungen ist, machte der Präsident erst vor zwei Wochen in einem Interview deutlich. "Korruption gibt es überall, doch in unserem Land hat sie besonders widerwärtige Formen angenommen", sagte Medwedew. Die Aussage wird seit Dienstag durch den aktuellen Korruptionsindex von Transparency International bestätigt. Zusammen mit Kamerun, Ecuador, Kenia, Sierra Leone, Timor-Leste, Simbabwe und seinem westlichen Nachbar Ukraine belegt Russland den 146. Rang. Eine unrühmliche Platzierung, die auch die Verbesserung um eine Position im Vergleich zum Vorjahr nichtig macht.
Und es dürfte auch weiterhin einige Zeit dauern, bis in dem flächenmäßig größten Staat der Erde die Korruption auf beispielsweise deutsches Niveau sinkt. In dem am Dienstag von Transparency International vorgestellten Korruptionsindex belegt Deutschland den auch nicht gerade vorbildhaften 14. Platz. "Es wird uns einige Jahre beschäftigen, die Korruption einzudämmen“, sagte Medwedew und widersprach damit seinem Innenminister Raschid Nurgalijew, der Ende August von seinen regionalen Kollegen Sofortmaßnahmen zur Bekämpfung der Korruption gefordert hat – und dies innerhalb eines Monats.
"Die Miliz sucht den Superstar"
Wie utopisch diese Forderung ist, zeigte dem russischen Innenminister ausgerechnet ein unbedeutender Untergebener aus der am Schwarzen Meer gelegenen Stadt Noworossijsk. Wenige Tage vor dem Tag der Miliz, der in Russland am 10. November begangen wird, veröffentlichte der Milizmajor Alexej Dymowski, ganz nach dem Vorbild von Präsident Medwedew, der sich regelmäßig per Videoblog an die russischen Bürger wendet, zwei Videos bei Youtube und auf seiner Internetseite in denen er über die schlechte Bezahlung, wegen der ihn schon zwei Frauen verlassen haben, unbezahlte Zusatzarbeit, arrogante Vorgesetzte, die niedrigere Dienstränge "wie Vieh behandeln", die Verhaftung von Unschuldigen und die Korruption in den Reihen der Miliz klagt. "Wladimir Wladimirowitsch, ich appelliere an Sie, weil Sie von der Eindämmung der Korruption sprechen. Die Korruption sollte nicht nur eine Straftat, sondern auch eine Schande sein", forderte der Milizmajor, der seinen Rang auch nur deshalb bekam, weil er, wie er in dem ersten veröffentlichten Video an Premierminister Putin zugab, einen Unschuldigen "einbuchtete".
Doch der starke Mann Russlands, an den sich der 32-jährige Dymowski wandte, reagierte auf keine der mittlerweile drei veröffentlichten Videobotschaften. Das hat dem Anliegen des Milizionärs dennoch nicht geschadet. Innerhalb weniger Tage avancierte der Milizionär zu einem Superstar bei Youtube. Allein die erste Videobotschaft wurde bis heute von über 700.000 Usern angeklickt, die größtenteils auch positiv die Äußerungen Dymowskis kommentieren. "Sehr erfreulich, dass es noch solche Leute gibt“, schrieb beispielsweise ein gewisser kawwabonga, während ein babubudu seine Begeisterung noch kürzer ausdrückte, ohne dabei mit Superlativen zu sparen: "Ein heldenhafter Mann".
Es ist eine Zustimmung, die nicht besonders überraschend ist. So ziemlich jeder Russe hat schon mal negative Erfahrungen mit der Miliz gemacht. "Es tut mir sehr leid, die russischen Bullen mit Besatzungstruppen zu vergleichen. Aber wenn ich versuche, Unterschiede zu finden, entdecke ich nur, dass diese Leute die selbe Sprache sprechen wie wir", sagte die angesehene Publizistin Julia Latynina in ihrer wöchentlichen Sendung beim Radiosender Echo Moskwy zu dem Fall Dymowski und zählte als Beispiel weitere Skandale auf, in welche die Miliz verwickelt ist. Über sie können sich die Russen neuerdings bei Youtube informieren – und dies aus erster Quelle.
"Die Miliz sucht den Superstar", titelte die Internetzeitung Gazeta.ru in Anlehnung an eine beliebte Castingshow, die hierzulande ebenfalls erfolgreich mit Dieter Bohlen als Juror ausgestrahlt wird, nachdem sich in dem Videoportal weitere Milizionäre zu Wort meldeten und Vorwürfe gegen ihre Vorgesetzte erhoben. So erzählte Grigorij Tschekalin, der bis vor zwei Jahren stellvertretender Staatsanwalt in der Republik Komi war, wie in der Stadt Uchta zwei Unschuldige nach einem schweren Brand mit Todesopfern bewusst als Täter präsentiert und darauf zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden. Die Behauptung bekräftigte der ebenfalls in der Republik Komi arbeitende Milizionär Michail Jewsejew per Videonachricht. Aus diesem Grund baten beide Präsident Medwedew, die zwei Verurteilten zu begnadigen.
Es sind Geschichten, die anscheinend alltäglich sind in der russischen Miliz. Mittlerweile melden sich bei YouTube immer mehr Milizionäre zu Wort, weshalb die russischen Medien schon von einem "Dymowski-Effekt" sprechen, und erzählen von manipulierten Ermittlungen, Korruption und Willkür der leitenden Beamten. Von den offiziellen Statistiken werden die Behauptungen bestätigt. Allein im ersten Quartal dieses Jahres registrierte das russische Innenministerium 18.000 Rechtsverstöße in den Reihen der Sicherheitsorgane. Das ist ein Anstieg von 18 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Gleichzeitig muss den Beamten, die per Internet nun an die Öffentlichkeit treten, durchaus Mut zugesprochen werden. Bis auf wenige Aufsehen erregende Fälle, wie im September die Entführung einer Chinesin durch einen Moskauer Polizeioffizier, enden die internen Untersuchungen des Innenministeriums meistens folgenlos. Die Täter aus den Reihen der Miliz müssen keine Konsequenzen fürchten. Ganz anders dagegen die aktuellen "Nestbeschmutzer".
So reagierte das Innenministerium ziemlich schnell auf die Auftritte Alexej Dymowskis. Auch wenn Innenminister Raschid Nurgalijew in dem Fall eine Untersuchung ankündigte, war es Dymowski allein, der Konsequenzen zu spüren bekam. Der Milizmajor verlor nicht nur seinen Job, gegen ihn wurde auch eine Verleumdungskampagne gestartet. So wird behauptet, dass hinter Dymowski das Komitee für Menschenrechte stehe, eine NGO, die von der amerikanischen Organisation USAID finanziert wird. Zudem wurde eine der zwei Ex-Ehefrauen ausfindig gemacht, die Dymowski einen "fürchterlichen Menschen" nennt, der selber korrupt ist und das Geld in den Casinos verschleudert. Ebenfalls nicht ohne Konsequenzen blieb der Internetauftritt für Grigorij Tschekalin, der aus Furcht vor seinen ehemaligen Kollegen in die russische Hauptstadt floh, wie der ehemalige Staatsanwalt gegenüber der englischsprachigen Moscow Times sagte.
Machtkampf im Kreml?
Doch trotz der negativen Folgen, die die Internetauftritte für Alexej Dymowski und Grigorij Tschekalin haben, lassen ihre Taten auch einige Fragen aufkommen. Vor allem eine Frage drängt sich besonders auf: War es wirklich Gerechtigkeitssinn, der sie zu der Veröffentlichung ihrer Videobotschaften motivierte? Es ist eine Frage, die sich vor allem bei Alexej Dymowski aufdrängt. Während Tschekalin schon seit fast zwei Jahren nicht mehr als Staatsanwalt tätig ist, war Dymowski bis zu seinem Auftritt bei YouTube Milizionär. Und gerade Dymowski, der in den Videos beteuert, seinen Beruf zu lieben, musste klar gewesen sein, dass dies Konsequenzen haben dürfte. Ihm musste bewusst gewesen sein, dass er damit sich und seine schwangere Ehefrau gefährdet, oder zumindest den Job und somit seinen Lebensunterhalt verliert, der schon jetzt nicht zum Leben ausreicht, wie er in seinem Video klagt. Deswegen gibt es in Russland Vermutungen, dass es hinter Dymowski tatsächlich einige Hintermänner geben muss.
Dieser Verdacht wird vor allem durch Dymowskis Auftritt in Moskau bekräftigt. Am 10. November gab der unbedeutende Milizmajor in der russischen Hauptstadt eine Pressekonferenz. Was im Grunde genommen eine ziemliche Überraschung ist, da Dymowski auf dieser berichtete, dass seine Reise nach Moskau verhindert werden sollte. Zuerst wurde seine Kreditkarte gesperrt, weshalb er sich kein Flugticket kaufen konnte und auf das Auto umsteigen musste, später sollte seine Fahrt durch Straßensperren gestoppt werden. Erstaunlich groß war auch die Entourage, mit der Dymowski zu der Pressekonferenz gelangte. Diese war gleich auf mehrere Limousinen verteilt. Und ob sich solch einen beeindruckenden Auftritt eine NGO leisten kann, ist eher zweifelhaft.
Deswegen wird in Moskau gemutmaßt, ob Dymowski, der zufälligerweise seine Videos kurz vor Medwedews Auftritt vor der Föderalversammlung veröffentlichte, nicht eher eine kleine Figur in einem Machtkampf innerhalb des Kremls ist, dem vor allem der seit 2004 amtierende Innenminister Raschid Nurgalijew zum Opfer fallen soll. Hinweise dafür gibt es jedenfalls genug. In seiner Rede an die Föderalversammlung, sagte Medwedew, dass die "Reihen der Miliz und der Geheimdienste von unwürdigen Mitarbeitern gesäubert" werden müssen. Und Boris Gryslow, einflussreicher Duma-Präsident und Fraktionschef der Putin-Partei Geeintes Russland kündigte an, dass es Konsequenzen geben müsse, falls sich die Behauptungen Dymowskis bewahrheiten sollten.
Ob durch diese Konsequenzen aber auch die Korruption eingedämmt wird, ist eher unwahrscheinlich. Bereits in den vergangenen Jahren wurden einige hoch dekorierte Sicherheitskräfte wegen dienstlicher Vergehen verhaftet, doch positive Auswirkungen auf die Situation in Russland blieben aus. Und so dürfte dies auch diesmal sein, denn das System der Korruption reicht in die höchsten Kreise hinein und sichert Moskau zudem in manchen Regionen gar die Macht. So würde in Tschetschenien bis heute kein Frieden herrschen, auch wenn dieser trügerisch ist, wenn der Kreml nicht einen brutalen und korrupten Despoten wie Ramsan Kadyrow (Der alte neue Herrscher) installiert hätte.