Soziale Unruhen - mehr als ein Medien-Hype?

Bisher beherrschten die sozialen Unruhen nur den politischen Diskurs. Ob es dabei bleibt, ist völlig offen

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Erinnert sich noch jemand an das abgehängte Prekariat (Von der Unterschicht zum abgehängten Prekariat)? Dieses Wortpaar, angeblich von SPD-Politiker Müntefering kreiert, geisterte im Herbst 2006 einige Monate durch die Medien. Nachdem zahlreiche soziologische Essays dazu verfasst wurden, ist es wieder verschwunden. Ob dem Wortpaar "soziale Unruhen" die gleiche kurze Haltbarkeit beschieden ist, muss offen bleiben, auch nachdem in vielen Medien Entwarnung gegeben wurde. Der von vielen Journalisten zum Praxistest erklärte 1. Mai habe gezeigt, dass es mit den sozialen Unruhen nicht weit her ist.

Zwar zeichneten sich die Reden führender Gewerkschafter durch etwas mehr rhetorische Schärfe gegen den „Casinokapitalismus“ aus. Aber der Generalstreik wurde von Gewerkschaftsseite nicht gefordert, dafür aber Schutzschirme nicht nur für Banken, sondern auch für sozial Schwache und Erwerbslose, so der hessische DGB-Vorsitzende Stefan Körzell bei der Maikundgebung in Fulda.

Auch der DGB-Vorsitzende Michael Sommer, der die sozialen Unruhen in den politischen Diskurs eingeführt hat, die dann von der SPD-Bundespräsidentschaftskandidatin Gesine Schwan aufgegriffen wurden, machte bei seiner Rede in Bremen noch einmal klar, dass er keineswegs zu Unruhen aufgerufen habe. Er habe vielmehr gewarnt, dass es Unruhen geben könnte, wenn die Politik nicht sozialer wird. Die DGB-Führung versteht darunter vor allem die Auflage eines dritten Konjunkturprogramms und eine stärkere Besteuerung von Unternehmen und großen Erbschaften.

Lobbyist für soziale Gerechtigkeit oder die SPD?

Für die Gewerkschaften hat der Diskurs über mögliche soziale Unruhen vor allem die Funktion, sich bei der Politik wieder stärker als Vermittler ins Gespräch zu bringen. Ähnlich wie Nichtregierungsorganisationen der unterschiedlichsten Art gerne auf Proteste oder Unmut verweisen, wenn sie sich für ihre Lobbyarbeit mehr Gehör verschaffen wollen, so finden die sozialen Forderungen der Gewerkschaften mehr Gehör, wenn die möglichen Folgen einer Nichtbeachtung möglichst groß herausgestellt werden.

Vielen führenden Gewerkschaftern, vor allem aus der IG-Metall, ist daran gelegen, das in der Endphase der Schröder-Regierung gestörte Verhältnis zur SPD wieder zu normalisieren. Es gibt hinter den Kulissen schon lange intensive Kontakte. In der Hochphase des Bundestagswahlkampfs plant die IG-Metall Großveranstaltungen, die eindeutig die SPD unterstützen sollen. Genau hier setzt aber auch das Dilemma für die Gewerkschaften an. Sie wollen einerseits potentielle soziale Unruhen im öffentlichen Diskurs halten, um ein Druckmittel als Lobbyorganisation aufzubauen und gleichzeitig den Eindruck vermeiden, solche Unruhen begrüßen oder gar selber auslösen zu wollen. Schließlich soll die SPD und nicht die Linkspartei unterstützt werden.

Die Sozialdemokraten können als Regierungspartei aber nicht so tun, als hätten sie in den letzten Jahren keinen Einfluss auf die Politik gehabt. Sie müssen befürchten, dass Akteure von Protesten nicht nur der Union, sondern auch der SPD kritische Fragen stellen. Deshalb haben führende Sozialdemokraten sehr negativ reagiert, als sich Schwan den Diskurs um die sozialen Unruhen zu Eigen machte.

Der Spagat der Gewerkschaften wird bei den realen Protesten gegen die Krisenpolitik deutlich. So weigerten sich die Spitzen des DGB und der Einzelgewerkschaften zu der Doppeldemonstration Wir zahlen nicht für Eure Krise am 28. März aufzurufen. Die Begründung lautete, dass man selber zu einer zentralen Kundgebung am 16. Mai nach Berlin mobilisiere. Sie steht im Rahmen von europaweiten Gewerkschaftsdemonstrationen für eine soziale Bewältigung der Krise. Mittlerweile kritisieren aber Gewerkschaftler, dass selbst zu der Demonstration am 16. Mai nur sehr halbherzig geworben werde. Besonders in der Kritik steht hier die IG-Metall, die längst nicht alle Mobilisierungspotentiale ausschöpfe. Die Kritiker sehen einen Zusammenhang zwischen der gebremsten Mobilisierung und der Bemühung um bessere Kontakte zur SPD.

Signal bei Daimler

Zudem hat die IG-Metall deutlich gemacht, dass sie als konstruktiven Beitrag zur Krisenlösung soziale Einschnitte bei ihren Mitgliedern längst akzeptiert hat. So wurde selbst bei der kampfstarken Daimler-Belegschaft ein milliardenschweres Kürzungspaket durchgewinkt. Dazu gehört unter anderem eine Lohnsenkung bei den Angestellten in Forschung, Entwicklung und Verwaltung um 8,75 Prozent. Jetzt wird eine Spirale nach unten bei den Löhnen auch in anderen Betrieben erwartet. Schließlich lautet die Devise: Was bei der kampfstarken Daimler-Belegschaft möglich ist, können wir erst Recht durchsetzen.

Linke Gewerkschafter sprechen beim Daimler-Abschluss denn auch von einen verheerenden Signal. Dass in diesem Kreisen auch eine größere Konfliktbereitschaft mit der Gewerkschaftsführung vorhanden ist, zeigte sich schon der Unterstützung der Demos am 28. März durch zahlreiche Basisgewerkschafter. Bei der DGB-Demonstration am 1. Mai in Berlin wurde ein erklärtermaßen klassenkämpferischer Block mit dem Motto Schluss mit dem Schmusekurs von zahlreichen Gewerkschaftern getragen.

In den letzten Monaten wurden auch in vielen anderen Betrieben, vor allem aus der Metall-Branche, Lohnkürzungen akzeptiert. Manche befürchten schon, dass die IG-Metall den Weg der einst starken und kämpferischen US-Automobilarbeitergewerkschaft UAW gehen könnte, die für die Sanierung des maroden Chrysler-Konzerns bereit war, 55 % der Anteile zu übernehmen. Bezahlt werden soll der Deal aus den Krankenkassen- und Pensionärsfonds, in die die Beschäftigten eingezahlt haben. Wirtschaftsexperten fürchten, dass der Bankrott damit nur hinausgezögert wird und am Ende die Beschäftigten ohne Job, Krankenversicherung und Interessenvertretung dastehen. Ob sich in einer solchen Situation neuer Widerstandsgeist entwickelt und welche Vorzeichen er tragen würde, ist noch völlig offen.

Ende der Vertretung

Auch in Deutschland nimmt die Zahl der Beschäftigten zu, die sich nicht mehr vom DGB vertreten fühlen. Deshalb ist es auch verfehlt, gerade die Gewerkschaften und den 1. Mai zum Gradmesser bei der Frage möglicher sozialer Unruhen zu machen. Von der Öffentlichkeit wenig beachtet, schaffen sich Menschen in prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse neue Formen der Interessenvertretung.

Das beginnt bei Beschäftigten im Pflege- und Assistenzbereich, die mit einem Scheiss-Streik begonnen haben. Beschäftigte im Einzelhandel haben sich mit sozialen Gruppen und kritischen Konsumenten zusammen getan, als die gewerkschaftliche Strategie im Einzelhandelsstreik im letzten Jahr in eine Sackgasse geraten war. Solidaritätskampagnen für entlassene Gewerkschaftler wie Brigitte Heinisch im Pflegebereich oder die Kassiererin Barbara E., genannt Emmely, werden nicht maßgeblich von Gewerkschaften unterstützt, stoßen aber bundesweit auf große Aufmerksamkeit.

In dem kürzlich fertiggestellten Film Ende der Vertretung wird am Beispiel des Einzelhandelsstreiks und der Emmely-Kampagne dargestellt, wie soziale Akteure die Rolle übernahmen, die die Gewerkschaften nicht mehr ausfüllen konnten. Seit Jahren präsentieren sich diese von den Gewerkschaften kaum vertretenen Lohnabhängigen in verschiedenen Städten auf den Mayday-Paraden. In diesem Jahr kamen neue Städte dazu. Während zunächst vor allem prekär Beschäftigte aus dem IT-, Wissenschafts- und Kulturbereich daran teilnahmen, wird vermehrt auch der Kontakt zu Beschäftigten im Einzelhandel und den Betrieben gesucht. Das ist auch der von der Hamburger Gruppe Blauer Montag in ihrem aktuellen Buch prononciert vertretenen These geschuldet, dass das Normalarbeitsverhältnis selber zunehmend prekär wird. Aber gerade die Autoren des Blauen Montags warnen auch vor schnellen Verallgemeinerungen aller Arbeitsverhältnisse zwischen Wischmob und Laptop (Bündnis zwischen Wischmob und Laptop?).

Die Herausbildung neuer Interessenvertretungen jenseits des DGB wird bei der Debatte über soziale Unruhen häufig völlig ausgeblendet. Dabei könnte man doch die letzte bundesweite soziale Massenbewegung, die Proteste gegen die Agenda 2010 im Jahr 2004, zum Maßstab nehmen. Davon waren die Gewerkschaften genau so überrascht, wie sämtliche politischen Parteien. Auch damals wurde Monate zuvor über mögliche Proteste der Erwerbslosen diskutiert und überwiegend die Meinung vertreten, dass es dazu in Deutschland garantiert nicht kommen werde.