Sozialer Aufruhr in Frankreich
Das Ringen um die Rente - ein Vergleich über die Grenzen hinweg zwischen Frankreich und Deutschland
In Frankreich sind die „sozialen Fronten“ in Bewegung geraten. Zum ersten Mal seit den Massenprotesten im März und April 2006, die damals erfolgreich die Demontage des Kündigungsschutzes verhindern konnten (vgl. Staatsbegräbnis für das umstrittene Arbeitsgesetz), zeichnet sich ein möglicherweise harter und längerer sozialer Konflikt ab. Abhängig Beschäftigte bei der Eisenbahn, in Nahverkehrsbetrieben, in Raffinerien, Häfen, Energieversorgungsbetrieben und Metallfirmen, aber inzwischen auch Oberschüler und Studierende sind ab heute, Dienstag, zu Protesten gegen die geplante Renten„reform“ aufgerufen. Diese werden in vielen Fällen die Gestalt von zeitlich unbefristeten Streiks annehmen.
Bei der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF rufen etwa fast alle Gewerkschaften dazu auf, mit Ausnahme des christlichen Gewerkschaftsbunds CFTC. Ansonsten sind sich alle, ansonsten konkurrierenden, Richtungsgewerkschaften - ein halbes Dutzend sind es bei der SNCF - über den Streik einig. Auch bei den Métro-, Bus- und Vorortzug-Linien im Raum Paris und anderen städtischen Ballungszentren wird es zu erheblichen Beeinträchtigungen des Verkehrs kommen.
Hafenarbeiter und Benzinversorgung
Doch die Hafenbediensteten von Marseille und die des Erdölhafens im südfranzösischen Fos-sur-Mer stehen ohnehin aus eigenen Gründen seit nunmehr 14 Tagen im Arbeitskampf. Um ihre Überführung in eine private Subfirma der Hafenbetreiber, von der sie einen Abbau von Arbeitsplätzen und eine Verschlechterung der Beschäftigungsbedingungen befürchteten, zu verhindern. Auch sie unterstützen den landesweiten Kampf gegen die Rentenreform - und fordern, dass ihre Arbeit als körperliche Schwerarbeit anerkannt werden müsse und deswegen ihr Rentenalter nicht (bis auf geplante 67) anzuheben sei.
Schon am vergangenen Wochenende wurde infolge des Ausstands in den Häfen, vor allem in den Erdölterminals, mitunter das Gespenst eines Treibstoffmangels an die Wand gemalt. Benzinlieferungen aus Italien konnten es in Südostfrankreich vorläufig abwenden. Doch am Sonntag war die Rede davon, innerhalb von sieben bis vierzehn Tage drohe Frankreich nun eine Benzinkrise. Auch die Raffinerien werden ab Dienstag mehrheitlich heruntergefahren werden, wie dies bereits beim letzten Streiktag der Gewerkschaften gegen die Rentenreform – am 23. September – sowie den zwei darauffolgenden Tagen der Fall gewesen war.
Schüler
Nicht zuletzt kamen auch die Oberschüler und - in bisher geringerem Ausmaß - die Studenten seit Ende voriger Woche in Bewegung. Am Donnerstag wurden laut Angaben von Schülerverbänden an 150 und Tags darauf noch an 116 Oberstufenschulen Unterrichtsstörungen, Demonstrationen oder Besetzungsaktionen verzeichnet; die Zahlen des Bildungsministeriums liegen rund ein Drittel darunter.
Bei ihnen allen geht es um die geplante „Reform“ des Rentensystems, deren Inhalt durch den – aufgrund Korruptionsverdachts anderweitig ins Gerede gekommenen – Arbeits- und Sozialminister Eric Woerth am 16. Juni dieses Jahres verkündet worden war. Die Kosten der „Reform“ sollen, je nach Berechnungen bzw. Einzelzugeständnissen der Regierung, zu 85 bis 92 Prozent die abhängig Beschäftigten tragen.
Die Schonung der Spitzenverdiener und Kungeleien
Die Kapitalseite steuert lediglich insofern dazu bei, als eine Anhebung der Rentenbeiträge zukünftig aus dem nach oben hin gedeckelten Spitzensteuer-Pauschalsatz („bouclier fiscal“), der ansonsten sämtliche Steuern und Abgaben mit abdeckt, ausgeklammert werden soll. Diesen Spitzensteuer-Pauschalsatz hatte die Vorgängerregierung unter Präsident Jacques Chirac und Premierminister Dominique de Villepin im Jahr 2005 eingeführt, der frisch gewählte Präsident Nicolas Sarkozy hat ihn im Sommer 2007 abgesenkt. Er zählt zu den umstrittensten Maßnahmen der Sarkozy-Ära.
Seine Abschaffung fordern inzwischen auch 87 konservative Abgeordnete, ebenso wie deutliche Mehrheiten in Umfragen. Er wurde zum Sinnbild der sozialen Ungerechtigkeit der Regierungspolitik: Aufgrund dieser pauschalen Deckelung der Spitzensteuersätze erhielt die mehrfache Milliardärin Liliane Bettencourt, die den Minister Eric Woerth (und über ihn Nicolas Sarkozy) illegal finanziert haben soll, in den Jahren 2007 bis 2010 insgesamt über 100 Millionen Euro an Steuern zurückbezahlt. Während sie, wie sie inzwischen selbst einräumte, dreistellige Millionenbeträge an Euro in der Schweiz und auf den Seychellen vor dem Fiskus verborgen hatte.
Die Tatsache, dass ausgerechnet der für sie zuständige Minister Eric Woerth so tief in diesem Skandal steckt, hat der Rentenreform zweifellos politischen Schaden zugefügt. Am 14. Oktober wird nun der Senat, das „Oberhaus“ des französischen Parlaments, über sie abstimmen. Das Unterhaus, die französische Nationalversammlung, hat die Vorlage schon Mitte September in erster Lesung angenommen. Da der Senat aber einige Änderungen am Text vornehmen wird, die ihn abmildern sollen – so werden mindestens dreifache Mütter der Jahrgänge 1951 bis 55 durch eine Ausnahmeregelung von der Erhöhung des Rentenalters ausgenommen -, muss die Nationalversammlung im Anschluss noch einmal debattieren.
Zum Inhalt der „Reform“
Einige der acht französischen Gewerkschaftsbünde – ihre Mehrheit - wollen die „Reform“ in ihrer jetzigen Fassung ganz verhindern und das Thema Renten im Anschluss „auf neuer Grundlage“ diskutieren. Andere erhoffen sich eher noch „Verbesserungen“ am Text.
Dessen Kerninhalt besteht darin, das Eintrittsalter in die Rente anzuheben. Drei Richtwerte stehen dabei zur Debatte. Im Mittelpunkt stehen die obligatorischen Beitragsjahre zur Rentenkasse – wem welche davon fehlen, der oder die verliert pro fehlendes Jahr sechs Prozent an der Rente. Bis im Jahr 1972 wurden den Lohnabhängigen in Frankreich 30 Beitragsjahre abgefordert. Danach waren es 37,5 Jahre. Seit 1993 werden von den Beschäftigten in der Privatwirtschaft, seit 2003 von denen im öffentlichen Dienst, nun 40 verlangt. Und es soll weitergehen: Bis im Jahr 2018 sollen es 41,5 Jahre werden. Und für danach behält die Regierung sich eine weitere Anhebung vor, da die Lebenserwartung steige.
Wer diese Beitragsdauer aufweisen kann, darf in Rente, aber frühestens bei Erreichen eines Mindestalters. Das lag bisher bei 60 und wird auf 62 angehoben. Wer die Beitragsjahre nicht beisammen hat und nicht auf einen Anteil an der Rente verzichten kann, musste bislang bis 65 warten. Künftig sollen es 67 Jahre sein. An diesen Grundsätzen möchte die Regierung auch nach den seit Monaten andauernden Protesten nicht rütteln.
Die französische Sozialdemokratie und ein Teil der Gewerkschaften – wie die, an ihrer Spitze eher rechtssozialdemokratische, CFDT – sind gegen die Anhebung der beiden Altersgrenzen (60 und 65), aber treten gleichzeitig für die Verlängerung der Beitragsdauer ein. Dies läuft de facto darauf hinaus, innerhalb der Altersspanne von 60 bis 65 eine wachsende Anzahl von abhängig Beschäftigten in Richtung der oberen Grenze (von 65) zu drücken.
Derzeit liegt das Durchschnittsalter des realen Renteneintritts bei circa 61,5 Jahren; wobei nicht alle abhängig Beschäftigten freiwillig über den Endzeitpunkt ihres Alterslebens entscheiden, sondern viele auch ab 50 von extremen Schwierigkeiten, einen Job zu finden oder zu behalten, betroffen sind.
Die Mehrheit der Gewerkschaften dagegen möchte die Rente mit 60, die schon heute für viele Lohnabhängige aufgrund der Zahl der Beitragsjahre nur ein rein theoretisches Recht darstellt, als allgemeines Recht. Im Prinzip ohne weitere Konditionen.
Druck von der EU-Ebene
Dabei wissen die Protestierenden, dass sie in der Sache nicht ausschließlich die französische Regierung gegen sich haben. Denn die Rentenpolitik wird längst auf Ebene der Europäischen Union koordiniert, auch wenn dieses Gebiet juristisch nicht unter EU-, sondern unter nationales Recht fällt. Besonderen Streit darum gab oder gibt es allerdings eher in südeuropäischen Ländern – wie in Italien, wo im Dezember 1994 noch die damalige erste Regierung Silvio Berlusconis an einem Reformprojekt zu den Renten scheiterte und abgelöst wurde – als in Deutschland.
Neben unterschiedlichen „Traditionen“ bei der Austragung sozialer Konflikte (vgl. Typisch französisch? Typisch deutsch?) spielt dabei auch eine Rolle, dass in Ländern wie Frankreich oder Italien viele soziale Errungenschaften in Verbindung mit harten politischen Kämpfen erreicht worden sind, und auch im kollektiven Gedächtnis mit ihnen verknüpft bleiben. So sind viele soziale Errungenschaften in Frankreich ein Ergebnis des – zumindest in der letzten Phase der Besatzung 1943/44 breit getragenen – antifaschistischen Widerstands, der Résistance: Auf das in ihr errungene Gewicht von Gewerkschaften und Kommunisten musste in Frankreich jede Nachkriegsregierung erhebliche Rücksicht nehmen.
„Punkt für Punkt demontieren“
Deshalb wurden zahlreiche Sozialreformen („Reformen“ im progressiven Sinne, nicht im Sinne des späteren neoliberalen Begriffsklaus) just in den Nachkriegsjahren 1944 bis 47 durchgeführt. Ein Ideologe des Arbeitgeberlagers – Denis Kessler, der in Jugendjahren einstmals Maoist gewesen war – täuscht sich diesbezüglich nicht. Er sprach sich in einem Interview im Oktober 2007 explizit dafür aus „systematisch das Programm des Conseil National de la Résistance“ (der politischen Führung des Widerstands im Jahr 1944, das die Nachkriegsregierungen beeinflusste) „Punkt für Punkt zu demontieren“.
Solcherlei Attacken auf die Errungenschaften geschichtlicher Epochen, die in breiten Kreisen positiv betrachtet werden, rufen notwendig Widerstände hervor. In Deutschland ist der historische Hintergrund ein anderer: Viele soziale Absicherungssysteme wie die Rentenversicherung wurden hier nicht in Kämpfen durch die Bevölkerung oder die Arbeiterschaft errungen, sondern durch den „eisernen Kanzler“ Bismarck von oben eingeführt. Just, um der damals in den Anfängen steckenden Entwicklung der Arbeiterbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Im März 2002 hatte ein EU-Gipfel in Barcelona beschlossen, in den Mitgliedsländern das Alter des Renteneintritts um durchschnittlich fünf Jahre anzuheben. In Frankreich nahm man daraufhin 2003 die bislang letzte Reform an, aber auch etwa im selben Jahr Österreich, wo es im Mai desselben Jahren einen 24stündigen Generalstreik dagegen gab – der freilich im Vergleich zu französischen Arbeitskämpfen als insgesamt doch ziemlich „brav“ beschrieben wurde. Oder 2006 in Deutschland, wo damals die „Rente mit 67“ durch die Regierung der Großen Koalition aus SPD und CDU/CSU beschlossen wurde.
Die Debatte in Deutschland
Seit Ende August dieses Jahres ist nun aber die SPD, die inzwischen in der Opposition sitzt, von dieser Zielvorgabe wieder abgerückt. Ihr Parteichef Sigmar Gabriel fordert nun, wenn eine schrittweise Anhebung des Rentenalters ab 2012 – ein Beginn, dessen Verschiebung um drei Jahre (auf 2015) er fordert – stattfinden solle, dann müsse zuvor ein zentrales Problem gelöst werden. Denn in Deutschland arbeiten derzeit nur 21 Prozent unter den 60- bis 64jährigen.
Ein Gutteil von ihnen hat sich jedoch noch nicht – freiwillig – aufs Altenteil zurückgezogen, sondern hat schlicht keinen Job. In Unternehmen gelten die Älteren oder „Senioren“ als unproduktiv, und wer ab circa 50 Jahren vorübergehend arbeitslos wird, findet meistens auch keine Anstellung mehr. Bevor man mit der sukzessiven Anhebung des gesetzlichen Rentenalters beginne, so lautet nun die Vorstellung der SPD, die in ihr aber erst auf den Oppositionsbänken einfiel, müsse zuvor dieses Problem gelöst, bzw. eine Bilanz zur Beschäftigung der „Älteren“ gezogen werden. Diese neue „Forderung“ der nunmehrigen Oppositionspartei ist zwar in der Sache zweifellos unzureichend, ist aber taktisch interessant, weil sie den Finger auf eine besonders wunde Stelle legt.
Senioren einstellen – aber wie?
Auch in Frankreich stellt sich das Problem ähnlich. Regierungssprecher Laurent Wauquiez behauptet, eine Lösung für das Problem zu haben, indem Unternehmen, die „Senioren“ einstellen, ein Jahr lang keine Sozialabgaben für diese Beschäftigten abführen sollen.
Die SPD hat durch ihren Beschluss den Finger auf eine der Stellen gelegt, wo es weh tut, weil offene Widersprüche zu Tage treten, etwa zwischen der proklamierten „Verlängerung der Lebensarbeitszeit“ und der Realität des Arbeitsmarkts. Im Geiste derer, die solcherart „Reformen“ entwerfen und auf ihre Verabschiedung drängen, ist dies allerdings gar nicht widersprüchlich. Sie wissen längst, dass deren reale Folge in vielen Fällen gar nicht die Ausdehnung der Lebensarbeitszeit sein wird, sondern eher eine Ausbreitung der Altersarmut – viele Menschen werden mit Renten auf Sozialhilfeniveau oder knapp darüber leben müssen. Aufgrund fehlender Beitragsjahre oder weil sie, deutlich bevor sie einen Rentenanspruch geltend machen können, arbeitslos werden oder bleiben.
Darauf haben die „Reformer“ jedoch wiederum eine Antwort: Die breitere Einführung von „kapitalgedeckten Rentensystemen“. Also Rentenkassen, die nicht durch Beiträge der jeweils in Lohnarbeit stehenden Generationen aufgefüllt werden und dieselben nach dem „Solidarprinzip“ auf die heute Älteren umlegen, sondern nach dem Versicherungsprinzip funktionieren: Nur wer individuell freiwillig in eine zusätzliche einzahlt, bekommt später auch etwas heraus.
Private Versicherungskonzerne
Verwaltet werden letztere Kassen nicht mehr wie die „Solidarsysteme“ durch die öffentliche Hand, sondern etwa durch private Versicherungskonzerne oder durch Rentenfonds, die mit ihren Einlagen an der Börse spekulieren – wie in den USA, wo 2001, bei Ausbruch des ENRON-Skandals an den Finanzmärkten, viele Ältere mehrere Jahre an Rentenansprüchen auf einmal verloren.
Die Europäische Kommission publizierte am 7. Juli dieses Jahres ein „Grünbuch“ unter dem Titel „Hin zu adäquaten, lebensfähigen und sicheren Rentensystem“, das zwar noch keine konkreten Gesetzesvorschläge enthält – diese sollen später in einem detaillierteren „Weißbuch“ folgen -, aber grundlegende „Überlegungen“, die in allen EU-Ländern angestellt werden sollen.
Ausdrücklich wird darin – unter dem Titel „Konsolidierung des Rentenmarkts“ (sic!) – die Entwicklung privater Rentenkasse gefordert. Um ihnen „einen günstigen Rahmen“ zu bieten, sollen die Finanzmärkte „besser reguliert werden“. Alle EU-Staaten sollen in diese Richtung tendieren. Das trifft sich gut: Das derzeit beratene französische Gesetz sieht eine Passage vor, die zum ersten Mal eine private „Rentenvorsorge“ ausdrücklich vorsieht, rechtlich und steuerlich begünstigt.