Sozialhilfeempfänger reduzieren: Vorbild USA
Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) setzt auf Druck und das umstrittene Modell Wisconsin
Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) will die Zahl der Sozialhilfeempfänger nach dem Vorbild des US-Bundesstaates Wisconsin reduzieren. Eine schlimme Idee, denn in Wisconsin wurden die Statistiken angetastet, nicht die Armut.
Setzt Koch auf Wisconsin, weil ihm Blasmusik und Bratwurststände beim German Fest der Deutsch-Amerikaner in Milwaukee so gut gefielen ? Wohl kaum. Dass es vielmehr um Wahlkampf und Machtpositionen in Deutschland geht, dieser Gedanke macht sich langsam auch in deutschen Medien wie der Berliner Tageszeitung oder der Frankfurter Rundschau breit. An Geldmangel für die USA-Korrespondenten kann die insgesamt magere Berichterstattung aber nicht liegen. Denn die sozialen Verhältnisse in Wisconsin sind mit wenig Mühe auch im Internet nachzulesen, etwa die Resultate von Projektstudien des Center on Wisconsin Strategy.
Sozialabbau heißt in den USA "Reform". 1996 machte US-Präsident William Clinton mit seiner Unterschrift unter die sogenannte Wohlfahrtsreform weltweit Furore. Das amerikanische "Jobwunder", so schien es, krönte ein Präsident mit sozialem Gewissen auch noch mit modernsten Programmen zur Armutsbekämpfung. Den sozial Deklassierten, den Dauerarbeitslosen, Alten und Hungrigen würde mit gutem Willen wieder ins Arbeitsleben zurückgeholfen werden, lautete eines der Glücksversprechen der "Reformer".
Doch Clintons "Welfare Reform" war nur ein weiterer Meilenstein bei der Zerstörung sozialer Absicherungen, und nur verdeckt durch eine boomende Wirtschaft und in die Höhe schiessende Aktienkurse. Einer der asozialsten Reformbeschlüsse der 96er-Gesetzgebung bestand in der zeitlichen Beschränkung der Sozialhilfe. Sie wird pro Person maximal fünf Jahre lang ausbezahlt, aufgeteilt in Phasen oder auf einmal, und dann ist Schluss.
Die bundesweite "Welfare Reform" orientierte sich am "Modell Wisconsin", das nun Koch in seinem Bundesstaat einführen will und Deutschland anempfiehlt. Wisconsin begann schon Mitte der 80er Jahre unter seinem Gouverneur Tommy Thompson - heute US-Gesundheits- und Sozialminister -, "Reformen" zu entwerfen. 1987 nahm das "Modell Wisconsin" erste Züge an: staatliche Hilfe in vollem Umfang erhielt nur noch, wer nachweisen konnte, dass die eigenen Kinder regelmäßig zur Schule gingen. Von diesem Ausgangspunkt an entwickelte Thompson das berüchtigte W2-Programm, auch Orwellianisch "Wisconsin works" genannt: Sozialhilfe und andere Zuschüsse werden demnach unter Auflagen ausgezahlt, die kaum einzuhalten sind: an die, die regelmäßig bei Fortbildungsprogrammen mitmachen und sich unaufhörlich und nachweislich um einen neuen Job bemühen. Das Wisconsiner Modell beschränkt Sozialhilfe pro Person im gesamten Arbeitsleben auf zwei Jahre. Bei einer Wirtschaftsrezession stehen keine Auffangmechanismen bereit.
Und tatsächlich: Erhielten USA-weit im Jahr 1994 14,2 Millionen Menschen "Stütze", so schrumpfte diese Zahl bis letztes Jahr auf 5, 8 Millionen. In Wisconsin gibt es heute nur noch rund 6.500 Sozialhilfeempfänger, 67 Prozent weniger als 1986. Wo ist die Mehrzahl der durch strenge Auflagen aus der Statistik Gefallenen abgeblieben ? Eine Fahrt durch die heruntergekommenen Elendsviertel von Wisconsins Metropole Milwaukee ist ein deutlicher Hinweis. Die Lebensverhältnisse hätten sich nicht geändert, berichtete die "New York Times" schon vor über zwei Jahren in einem Feature über Wisconsin, Stütze-Empfänger müssten zwar jetzt arbeiten, aber das Durchschnittseinkommen liege sogar 400 Dollar unter der früheren Sozialhilfe.
In weiteren Zahlen ausgedrückt: 1997 erhielten nur 25 Prozent der Armen Zuschüsse, im Vergleich zu 60 Prozent im Jahr 1986. 62 Prozent der Herausgekippten, die tatsächlich Arbeit gefunden hatten, erlitten das Schicksal der amerikanischen "working poor". Mit durchschnittlich 8.560 Dollar Einkommen pro Jahr blieben sie weit unter der Armutsgrenze - Menschen, die Niedriglohnjobs haben und auf Gratisessen in Suppenküchen angewiesen sind. Und 38 Prozent der "reform"-bedingt statistisch nicht mehr Erfassten hatten laut Umfragen "überhaupt kein Einkommen".
Die Sozialpolitik-Expertin Francis Fox Piven rief Ende Februar in der Zeitschrift The Nation anlässlich der Ernennung Thompsons zum US-Sozialminister weitere Schreckenszahlen, die unter seiner Regie zustande gekommen waren, in Erinnerung: Die Zahl der Kinder unter staatlicher Obhut in Wisconsin schoss innerhalb einer Dekade um 32 Prozent in die Höhe, in Milwaukee um 51 Prozent. Die Sozialhilfeberechtigten wurden weniger, aber was zunahm, waren Kindesmissbrauch, Gewalt gegen Frauen, Festnahmen von Jugendlichen und die Sterblichkeitsrate bei Kindern, bei Afroamerikanern und Latinos. Das Gros der Sozialfälle bilden weiterhin alleinerziehende Mütter, die bis zu den "Reformen" in den Medien und von neoliberalen Ideologen mit rassistischen Untertönen als faule welfare queens abgekanzelt wurden, in einer amerikanischen Version des deutschen Gegeifers vom "Sozialhilfeschmarotzer".
Gelang Frauen im Rahmen der in Gesetz gegossenen "welfare-to-work"-Ideologie die Rückkehr ins Arbeitsleben, so wurden sie als Beweis von Medien und Politikern wie dressierte Hündchen vorgeführt. Um alleinerziehende Frauen in Wisconsin wenigstens teilweise aufzufangen, "verbesserte" Thompson im "Modell Wisconsin" den Zugang zur Kinderbetreuung und zum Krankenschutz. Denn arme Mütter, die für ihre monatliche Stütze - und die ihrer Kinder - Zwangsarbeit verrichten müssen, brauchen einen Kindergarten und einen Doktor, um zu überleben.
Das US-Landwirtschaftsministerium beklagte, dass Wisconsin potenzielle Sozialhilfeempfänger jahrelang nicht nur nicht über ihre Rechte informiert hat, sondern sogar illegale Methoden anwendet, um den Bezug von Lebensmittelscheinen einzuschränken. Parallel dazu machten aber die vom Staat Wisconsin mit der Verwaltung des "Modells" beauftragten Privatfirmen den großen Reibach. 27 Millionen der 318 Millionen an Bundeszuschüssen steckten Firmen wie "Maximus Inc." und "Goodwill Industries" ein. Tatsächlich gibt der Staat heute mehr Geld für die Armutsverwaltung aus als vor zehn Jahren. Aber die Dollars landen nicht in den Taschen derer, die sie dringend benötigen.
Fox Piven fasste Resultate des "Modell Wisconsin" so zusammen: "The bottom line is that Wisconsin's welfare cutbacks have left people working more but poorer, and substantial numbers of these people are desperately poor". Na denn Prost nach Frankfurt am Main mit vielen Grüßen aus Milwaukee vom schönen Wisconsin-Modell, und viel Spaß bei seiner Umsetzung !