Sparta und das Paviangeschnatter - Der Ratemechanismus des kollektiven Geistes

Die Geschichte des globalen Gehirns XIV

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Ein komplexes adaptives System ist eine "Nesthierarchie", ein Netz, bei dem jeder Knoten Teil einer höheren Einheit ist. Jedes dieser größeren "Superorganismen" ist wiederum ein Knoten in einem noch größerem Netzwerk. Und jeder ist auch eine Hypothese.

Maske aus Sparta

Jede Gehirnzelle in einem Neugeborenen ist eine Vermutung. Wenn der Ort, an sie wandert, und die Funktion, die sie annimmt, Notwendigkeiten mehr darstellen, bleibt sie bestehen und gewinnt sogar an "Popularität" - andere Zellen massieren sie mit den Nervenenden und betteln um das, was sie zu geben hat. Wenn es sich um ein Motorneuron handelt, das darauf ausgerichtet ist, eine Zunge wie bei der afrikanischen Sprache San das "!" klicken zu lassen, und jeder so schnattert, dann wird es wachsen und weiter existieren. Wenn die Zelle hingegen von der Babysprache englischer Plapperer abgeschliffen wird, deren Silben ihre Gaumensegel niemals ein "!" schnalzen lassen, wird die falsch ausgerichtete Corriganzelle schrumpfen und dann absterben.1 Die Zelle ist ein Fühler für die Person, in der sie zu leben beginnt. Und dieses Individuum ist nur ein suchender Schritt in der Dunkelheit für die Gruppen, deren Teil es ist. Wenn es zwanzig geschäftliche Versuche unternimmt und jedes Mal scheitert, dann wird es von den anderen Menschen ausgestoßen. Verschmäht vom Geld und geplagt von den Qualen seines Scheitern wird es wahrscheinlich in frühem Alter sterben. Selbst wenn es zu einem Obdachlosen und Alkoholiker wird, kann es der Depression anheimfallen, die das Immunsystem dazu bringt, seine Abwehrkräfte herabzusetzen, wenn die Bakterien heranstürmen.

Das hoffnungsvolle Baby, das zu einem erwachsenen Wrack wird, ist ein Versuchsballon, der von einer Gruppe ausgeschickt wird, um ihre Möglichkeiten zu erkunden. Die von ihm eingeschlagenen Wege lehren seiner Gemeinschaft die Richtungen, die sie vermeiden muß. Aber wenn seine Versuche sich alle in Gold umwandeln, können Liebe, Gesundheit und Anerkennung sein Schicksal werden. Dann hat er der Gruppe einen besseren Weg gelehrt. Rate richtig - und du wirst gewinnen! Rate falsch - und du wirst verlieren! Oder, in den Worten von Jesus: "Wer hat, dem wird gegeben. Wer nicht hat, dem soll auch noch das genommen werden, was er besitzt."2

Der Erfolg des Individuums hängt von den Hypothesen der Gruppe ab. Sollte sein Stamm oder seine Nation in die Richtung einer Utopie marschieren, die sich als unergiebig erweist, werden seine Kumpane und er mit ihnen zusammen eingehen. Aber wenn der kollektive Geist seine Wanderung so ausgemessen haben sollte, daß er bei seiner Ankunft auf reichlich Früchte stößt, kann er Macht über weit um ihn herum lebende Gruppen erlangen. Und aus seinem Schicksal können diese anderen Gruppen lernen, ihre Wege richtig auszurichten. Dieses Versprüchen von Antennen, Versuchsballonen und Vermutungen verleiht dem komplexen adaptiven System seinen Einfallsreichtum: seine Fähigkeit, den schlimmen Situationen zu entkommen und Möglichkeiten zu entdecken, selbst wenn das bedeutet, Wege zu erfinden, um über Hindernisse zu springen, oder, besser, Hindernisse in Chancen zu verwandeln.

Jeder Knoten in einem kollektiven Gehirn stellt einen unterschiedlichen Ansatz dar, der für das größere Netz des Geistes verfügbar ist. Individuen und Untergruppen sind einsetzbare Pioniere, Sensoren einer verknüpften Intelligenz. Zu Beginn sahen wir, wie das bei Bakterien funktioniert. Hier nun geht es darum, wie Individuen und Gruppen als Hypothesen im kollektiven Gehirn von Pavianen funktionieren.

Die Pioniere von Paviangesellschaften

Paviangesellschaften sind sehr unterschiedlich, so unterschiedlich, daß sie früher Primatologen in Verwirrung stürzten. Scheinbar endgültige Untersuchungen über das Verhalten von Pavianen wurden in den 60er Jahren veröffentlicht, um dann von anderen, ebenso gültigen Untersuchungen ein paar Jahre später widerlegt zu werden. Warum entdeckte ein Wissenschaftlerteam, daß Paviane sich auf diese Wiese verhalten, während ein anderes herausfand, daß sie in völlig unterschiedlicher Weise agierten? Weil die Wissenschaftler verschiedene Paviangesellschaften untersucht haben, die alle ihre eigene Strategie entwickelt hatten.

Beispielsweise sind die Hamadryas die Demokraten der Pavianwelt.3 Jedes Männchen hat eine Familie, die er streng auf Trab hält. Aber es geht in der Gruppe mit 130 und mehr Mitgliedern relativ friedlich zu. Wenn eine Entscheidung über die Richtung ansteht, in man gehen soll, machen die jüngeren Männchen den älteren Entscheidungsträgern Vorschläge in Zeichensprache und "lenken" die Gruppe, wenn sie losmarschiert.4 Die Herden der Cynocephalus-Paviane sind kleiner, rauher und despotischer. Der Primatologe Hans Kummer vergleicht sie mit "monolithischen Armeen". Die Männchen kämpfen, um zu sehen, wer an die Spitze kommt. Die Gewinner erhalten die Privilegien eines orientalischen Despoten: eine unvergleichbar größere Menge an Nahrungsmitteln und den Großteil der sexuellen Aufmerksamkeit der Weibchen. Die Ressourcen der Gruppen befinden sich unter ihrer Herrschaft. Und die herrschende Elite kann brutal den Einfluß der jüngeren Gruppenmitglieder bekämpfen. Der Unterschied zwischen Cynocephalus und Hamadryas mag teilweise genetisch bestimmt sind, aber das ist keineswegs immer der Fall.

Die Pumphouse Gang war eine Gruppe von Cynocephalus-Pavianen, die ursprünglich in Kekopey, Kenia, lebte. Seit 1970 wurde sie kontinuierlich von aufeinanderfolgenden Wissenschaftlerteams beobachtet. Die Anthropologon Shirley Strum5 zeigt in ihrem Buch über die 13 Jahre, die sie mit der Gang lebte, viele der nicht-genetischen Formen auf, wie Individuen und Gruppen zu Tedstpiloten für spekulative Strategien werden können.

In der Pumphose Gang waren die Männchen ruhige Typen, beiläufige Fußnoten der wirklichen sozialen Aktion. Die Macht, die zählte, ging von den Weibchen aus. Die auf die Weibchen ausgerichtete Taktik war eine erlernte Vermutung über die beste Möglichkeit, auf den Wogen des Schicksals zu reiten. Sie bot den Vorteil eines relativen Frieden, auch wenn Pavianweibchen untereinander brutal sein können, und der Stabilität. Aber wenn sich die Situation verändert, können sich Vorteile oft als Belastung erweisen.

Pavianweibchen sind in ihrem Innersten konservativ. Aufsässige Männchen sind mit ihrer Unruhe eher Entdecker und Aufspürer von neuen Möglichkeiten. In den ersten Jahren der wissenschaftlichen Beobachtung der Pumphouse Gang hatte ein einsames Männchen einmal Glück, traf auf eine hilflose Antilope, fing sie, tötete sie und brachte sie nach Hause. Die Damen in der Gruppe wurden zunehmend gierig nach Fleisch und begannen bald nach Kaninchen und Gazellen zu suchen. Doch ihre Erfolgsquote war miserabel. Dann kam der wirkliche Wert der männlichen Ruhelosigkeit und Stärke.

Wie es oft geschieht, wenn eine Gruppe sich verändert, trat ein unwahrscheinlicher Anführer die Sache los, der Rad hieß. Er war jung, stark und ein ziemlicher Individualist, der nicht der Truppe folgte, sondern eher voran- oder hinterherlief und nach seiner Lust und Laune alles erkundete. Weil er ganz versessen auf Fleisch war, ist Rad jahrelang dem besten Jäger nachgelaufen und hat dessen Tricks gelernt, auch wenn ihm ein Anteil an der erlegten Beute verweigert wurde. Schließlich zog er alleine los, pirschte sich an Thompson-Gaazellen heran und durchkämmte die Steppe nach einem versteckten Kalb. Er fraß die Beute allein und kehre dann blutüberströmt zur Gruppe zurück: ein Bewies für sein Können. Als der mächtige Jäger wieder loszog, schwärmten die anderen Männchen aus und folgten ihm mit Abstand, wobei sie versuchten herauszubekommen, wie Rad seine Leistungen beim Erbeuten von Fleisch zeigte. Eines Tages, als Rad auf seine einsame Art jagte, rannte er in eine Gruppe von Gazellen und stürzte sich auf ein fliehendes Kalb. Es entkam ihm und die Herde begann loszurasen - direkt auf die überraschten Männchen zu, die vom Kamm eines nahegelegenen Hügels dem Schauspiel zusahen. So entstand die Gruppenjagd. Rad und seine Beobachter hatten eine entscheidende Lektion gelernt, nämlich daß sie durch Teamwork die Gazellen in Panik versetzen und in einen Hinterhalt treiben konnten.

Während die Weibchen Zuhause blieben und versuchten, ihr Können zu verbessern, indem sie nach einem zufällig vorbeikommenden Tier ohne Hilfe schnappten, lernten die Männchen Truppenmanöver auszuführen, indem sie zwei Stunden herumzogen, um die verwundbarste Gruppe aufzuspüren, das Gelände erkundeten, um ihre Strategien zu maximieren, und sich auf Herden zu konzentrieren, in denen sich die größte Zahl von leicht zu fangenden Kälber befinden. Überdies lösten die Männchen einen sozialen Durchbruch aus. Unter normalen Gegebenheiten sind Paviane so egoistisch, daß eine Mutter keine Nahrung mit ihren eigenen Kindern teilt. Aber die Teamjäger verteilten widerwillig ihre Beute, was im normalen Verhaltensrepertoire von Pavianen unerhört ist. Sie schauten weg, wenn sich Weibchen einen Teil der von ihnen nach Hause gebrachten Lebensmittel nahmen. Und selbst Mütter ließen ihre Kinder am Ende mit fertig essen, was sie sich geschnappt haben.

An diesem Punkte erwies sich die Hypothese der auf die Weibchen ausgerichteten Macht als unbrauchbar. Das geschickte Jagdteam der Männchen verließ schließlich die Pumphouse Gang und zog weiter, wobei jeder zu unterschiedlicher Zeit und zu einem unterschiedlichen Ziel loszog. Die Weibchen, das Rückgrat dieser matriarchalischen Truppe, blieb zurück. Auch wenn sie weiterhin ihrer ergebnislosen Jagd Nachgingen, lernten sie es niemals, sich auf erkundende Expeditionen zu stützen und Gruppenstrategien einzusetzen. Die Gazellen der Umgebung konnten sich wieder entspannen. Die Fleischliebhaber der Pumphouse Gang wurden wieder zu Vegetariern.

Wenn eine Vermutung danebengeht, entstehen drei weitere. Eine andere Untergruppe der Pumphouse Gang, die wiederum von den Jungen und Ruhelosen angeführt wurde, entwickelte eine weitaus leichtere Möglichkeit des Schmausens. Heranwachsende und junge Männchen gingen in Gruppen zu sechst oder siebt los, um einer neuen Entdeckung zu frönen: dem Durchsuchen von Bauernhäusern. Für die schwerfälligen Weibchen und älteren Männchen war das völlig ausgeschlossen. Sie kehrten einer solchen gefährlichen Dummheit ihren Rücken zu. Die Wagemutigen, die loszogen, um reife Körner zu mopsen, hatten sich vorübergehend aus dem Wettstreit um sexuelle Vergünstigungen ausgeschlossen, aber die von ihnen ergriffene Chance zahlte sich aus. Ihre reichhaltige Quelle der Ernährung ließ sie größer als ihre Rivalen werden, die "weise" Zuhause geblieben waren, ein Vorteil, der ihnen später die Aufmerksamkeit der Weibchen zukommen ließ, die ihnen zunächst scheinbar vorenthalten wurde.

Die ersten Weibchen, die sich anschlossen, waren die gerade Geschlechtsreifen. Netzwerke von Verbündeten erwiesen für die Weitergabe von Information als entscheidend, da diese "Gangsterbräute" schon lange Freundinnen und Partnerinnen der Abtrünnigen waren, die den neuen profitablen Sport erfunden hatten. Dann kam das ältere Weibchen dazu, das regelmäßig mit einem der plündernden Männchen Geschlechtsverkehr hatte. Aber als die Weibchen einmal die Reichhaltigkeit der Funde erkannt hatten, wurden sie richtiggehend weggeschwemmt. Sie stürmten nicht nur, wie Strum sagt, mit aller Kraft hinein, sondern übernahmen auch die "Führung", stopften ihre Bäuche voll, füllten ihre Backen so auf, daß sie sich auf lächerliche Weise ausbeulten, nahmen so viele Kolben mit, wie sie mit ihren Händen und unter ihren Armen mitnehmen konnten und machten sich dann beladen wie Plünderer von Geschäften davon. Die Alten hielten hingegen an ihren Gewohnheiten fest und hielten sich zum großen Teil von diesen Aktivitäten fern.

Drei Monate später richteten die männlichen und weiblichen Kornpiraten ein eigenes Schlaflager ein. "Ältere Schwestern, Nichten und Neffen, selbst einige der Mütter der Delinquenten schlossen sich an", wie Strum berichtet. Die Familien trennten sich auf. Die meisten Mütter blieben bei der Hauptgruppe, während ihre Kinder mit den Abenteuern loszogen. Einige unzufriedene Weibchen verließen ihre Kinder, um sich den Rebellen anzuschließen. Darunter befand sich auch das rangniedrigste Weibchen in der Gruppe, das darauf aus war, ihre niedrige Stellung zu verlassen und einen angeseheneren Rang einzunehmen. Ihre jugendlichen Söhne blieben verdutzt zurück. Zunächst wanderten einige Mitglieder zwischen den Gruppen hin und her und konnten sich nicht für eine entscheiden. Doch als die Schlafplätze der Gruppen immer weiter auseinanderrückten, wurde die Treue größer. Dann brachen, wie so oft bei Trennungen, gewalttätige Streitereien aus. Die gut ernährten Neugründer, die sich offensichtlich ihrer wachsenden Überlegenheit bewußt wurden, begannen normalerweise den Kampf.

Das Ausräubern der Bauernhöfe erwies sich als Segen. Die Männchen gewannen dadurch viel mehr Zeit, um einfach herumzufaulenzen. Die Weibchen hatten nicht nur Mußezeiten für mehr Gemeinschaftstätigkeiten, sondern erhielten ein noch wertvolleres Geschenk. In den alten Tagen sorgten sie für ihren Unterhalt, indem sie den Savannenboden nach tiefliegenden Zwiebeln durchgruben. Damals erschien es normal, nur alle 18 bis 24 Monate eine Geburt zu haben. Durch den Raub von Getreide dick geworden, konnten sie jetzt alle 12 Monate ein Junges bekommen. Dadurch konnten die Bauernhofräuber ihre reaktionären Rivalen der Pumphouse Gang an Zahl übertrumpfen. Noch waren sie in den gelegentlich stattfindenden Kämpfen nicht die eindeutigen Gewinner, aber die Innovatoren besaßen einen Vorteil. Sie mußten weniger Zeit für das Sammeln von Nahrungsmitteln aufwenden und hatten mehr Zeit, ihre Kräfte für die nächste Schlägerei zu schonen. Ihre Fruchtbarkeit könnte das Gleichgewicht leicht ganz ins Kippen bringen, da eine überwältigend große Anzahl von Kämpfern Unbesiegbarkeit mit sich bringen kann.

Doch eine dritte Gruppe hatte eine noch größere und auch gefährlichere Gelegenheit entdeckt: den ein ziemliches Stück entfernt liegenden Müllplatz bei den Soldatenbarracken von Gilgil. Der menschliche Abfall besaß nicht nur eine Feinschmeckerqualität, sondern die Lage war auch voller Annehmlichkeiten: fließendes Wasser und leicht zu erreichende Schlafplätze in der Nähe. Und zur Krönung von all dem fanden die gelangweilten und über keine Fernseher verfügenden Soldatenfrauen und -kinder die täglichen Ausflüge der Paviane unwiderstehlich. Sie fütterten die Kinder und Mütter der Gruppe. Dadurch entstanden die Gefahren. Erstens war der Platz von einem elektrischen Stacheldraht umgeben. Um durch ihn zu gelangen, mußten Verletzungen riskiert werden. Und als die Paviane einmal erkannt hatten, daß die Menschen sie duldeten, nahmen sich einige der größeren Männchen die Freiheit, die Türen der Lagerhäuser aufzubrechen, die Gärten der Frauen zu plündern und in die Häuser einzudringen, die Möbel umzuwerfen, in offenen Schubladen herumzuschnüffeln und sich Lebensmittel von den Regalen zu nehmen. Das schätzten die Kinder, Frauen und Ehemänner nicht. Eines Tages überredete ein vor Wut schäumender Offizier den zuständigen Wildhüter, seine Flinte zu nehmen und das Problem zu lösen. Nur ein Pavian wurde erschossen. In der Zwischenzeit hatten die geplünderten Bauern in Kekopey ihre Hunde auf die Paviane angesetzt, die mehr als zehn töteten. Shirley Strum war der Überzeugung, daß die Pumphouse Gang und ihre Ableger ganz vernichtet werden würden, wenn die Dinge so weiter gegangen wären. Zu dieser Zeit erhielt sie ein Flugzeug und brachte die Gruppen weg.

Die Pumphouse Gang hatte sich in drei Gruppen aufgesplittet. Jede war eine andere Hypothese, ein unterschiedliches Spiel mit dem Schicksal. Der Wert des Raubens von menschlichen Lebensmitteln wurde offensichtlich, als Strums Paviane medizinisch untersucht wurden. Die Abfallsammler waren die kräftigsten und gesündesten der drei Gruppen. Die Bauernhofplünderer kamen hinsichtlich ihrer Lebenskräfte am nächsten. In der schwächsten Verfassung befand sich die rückwärts gewandte Gruppe, die das zu sich nahm, was Mutter Natur ungern sich nehmen ließ. Was die Ernährung anbelangte, waren also die Abfall- und Bauernhofstrategien am besten, aber sie führten zu einer Machtprobe mit den Menschen. Eine der drei Mutmaßungen würde irgendwann ihre Überlegenheit zeigen. Andere könnten durch eine Katastrophe ausgelöscht werden. Mit diesem Trio konkurrierender Fraktionen eines Stammes würden die verwobenen Gemeinschaften ihre Lehre verbessert haben. Doch dank Strums Rettung, werden wir niemals wissen, welche Praktiken sich durchgesetzt hätten.

Zum Beenden der Gruppenkämpfe, die das neuronale Netz des antiken Griechenlands herausbildeten, gab es allerdings keine Shirley Strum.

Das Spiel Lykurgs mit der Zukunftsfähigkeit

Die durch den Aufstieg von Männern wie Thales angekündigte Innovation war nicht die Verknüpfung von sozialen Gruppen um Stämme oder schlaue, pavianartige Entdeckungen herum, sondern um den Forschergeist von Philosophen. Gesellschaften und Untergruppen in ihnen wurden nicht gänzlich vom Zufall und der Umwelt geprägt. Einige hochplazierte Bürger dachten sich ihren Weg durch die Art des Staates, den sie als ideal ansahen. Zwei Beispiele waren Sparta und Athen.

Sparta

Der eine Staat erhielt seine Form durch den legendären (und möglicherweise fiktiven) Gesetzgeber Lykurg6, der andere durch Solon, den der Weise Thales beraten hatte. Der eine Staat war eine in der Landwirtschaft7 verwurzelte Militärgesellschaft, die mit all dem Unsinn und der unhinterfragbaren Disziplin eines überbordenden Soldatenlagers errichtet wurde. Der andere war eine seefahrende Handelsmacht, die durch Widerspruch, Diskussion und Export von Meinungen gedieh. Sparta war entschlossen nach innen8, Athen nach außen ausgerichtet.9 Die Spartaner und Athener waren Verbündete, die beide an der griechischen Gesellschaft partizipierten, und gleichzeitig waren sie Feinde, die um die Herrschaft über ganz Griechenland kämpften. In ihrer Geschichte finden sich viele der Einzelheiten komplexer dynamischer Systeme, die in einem Netzwerk verbundene Städte zuerst ermöglicht hatten.

Das Ausmaß, mit dem Sparta eine radikal von ihren griechischen Nachbarn sich unterscheidende Angriffsrichtung einschlug, wurde von Xenophon, dem Geschichtsschreiber und kurzzeitigen Bewohner Spartas, dargelegt, der direkt behauptet, daß es "nicht die Nachahmung anderer Staaten, sondern der Entschluß war, eine der Mehrheit entgegengesetzte Richtung einzuschlagen", der das Land "überaus erfolgreich" werden ließ.10

Zur Zeit des Trojanischen Krieges gab es die Stadt Sparta noch nicht, aber ihr künftiges Territorium hatte dem mykenischen Königreich von Lakedämonien angehört, dem Thron des von Helena betrogenen Gatten Menelaos, dessen Rachebedürfnis für Homer zu einem Kampf führte, der es wert war, darüber zu singen. Danach kamen die Dorier, die um 1200 v. Chr. aus dem Norden einfielen, die von ihnen vorgefundene Kultur auslöschten und schließlich auf geheimnisvolle Weise wieder verschwanden. Die archäologischen Funde weisen dann für 200 Jahre eine Leerstelle auf, worauf sich der zweite dorische Überfall ereignete. Dieser blieb im Land hängen und ließ die erste spartanische Kultur entstehen.11

Leonidas

Die Bande, die in den südlichen Peleponnes eindrang, beobachtete die besiegten Menschen scharf. Die sich Spartaner nennenden Eindringlinge folgten der Tradition, die ihre entfernten Verwandten das Kastensystem während eines anderen indoeuropäischen Eroberungszuges in Indien einrichten ließ, und ordneten an, daß nur sie Bürger sein konnten. Die von ihnen Unterdrückten waren die üblichen "Ameisen und Affen", eine Unterrasse, die man wie Arbeitstiere einsetzen konnte. Eine unterjochte Klasse, die Perioeci12, durfte sich selbst, wie die indische Vaisya-Kaste, freie Menschen nennen, ihre am Meer gelegenen Städte verwalten und Handel und Handwerk weiterführen: eine notwendige Einkommensquelle für eine arrogante Oberklasse. Andere hatten ein weniger glückliches Schicksal. Die Heloten13 wurden "wie Esel mit einer schweren Last" nach dem frühen spartanischen Dichter Tyrtaeus behandelt.14 Sie mühten sich wie die niedrigstehenden indischen Shudras ab, um Nahrung für die Festtafeln ihrer Herrn zu beschaffen.

Die Spartaner waren nur eine kleine Minderheit, aber sie besaßen die volle Macht über das Gruppengehirn des Staates. Sie verteilten die Ressourcen, waren die außenpolitischen Sprecher, trafen die Entscheidungen über alles im Alltagsleben bis hin zu den Fragen von Krieg und Frieden und zwangen vor allem die Mehrheit dazu, unter der spartanischen Flagge in einem Staat zu leben, der den Namen Sparta trug. Sie bestanden den Test der Hypothesen in einem Kampf der Gruppen. Doch es sollten noch weitere kommen.

Um 700 v. Chr. wurde Revolution fast überall in Griechenland zu einem wichtigen Wort. Aristokraten, durch Wohlstand fett geworden, hatten Macht erworben. Die Menschen am unteren Ende der sozialen Leiter waren keineswegs zufrieden, und sie bewahrten angesichts der neuen Leiden auch nicht die Ruhe. Die Stadtstaaten waren verzweifelt darum bemüht, Ordnung (Eunomia) aus dem Chaos von Aufständen und beginnender Monarchie zu schaffen. Für einige stellten Tyrannen eine Lösung des Problems dar. Sparta nahm einen anderen Weg. Lykurg, der Sohn eines Königs15, selbst für kurze Zeit König und jetzt der Berater eines Königs, der zu jung zum Herrschen war, hatte nach Berichten16 Kreta, Asien und Ägypten bereist, um deren Regierungen zu beobachten. Angesichts der Krise zog er nach Delphi17 und kehrte mit der Behauptung zurück, daß Apollo, der durch das Delphische Orakel gesprochen hatte, ihm etwas gegeben habe, was schließlich zum letzten Schrei wurde: eine Verfassung, die genügend anbot, um die heulenden Underdogs in der Bürgerschaft Spartas zu befrieden.18 Wenn sein Wissen um das menschliche Wesen so groß war, wie es aussieht, hatte Lykurg vermutlich verkündet, daß seine Verfassung von einem Gott stammte, um ihre eine absolute Autorität zu verleihen. In Wirklichkeit war sie der des dorischen Kreta unheimlich ähnlich.

Bronzefigur aus Sparta

Die Gestaltung der Rhetra von Lykurg und die friedliche Unterwerfung der Öffentlichkeit unter ihre Gesetze stellten eine wilde Revolte der Underdogs unter den Underdogs, der Perioeci von Messina, dar, die etwa die Hälfte des von Sparta beanspruchten Territoriums bewohnten.19 Das ließ das Offensichtliche deutlicher als zuvor werden: Es gab nur 9000 Spartaner. Um sich vor dem Sturz der versklavten Mehrheit zu schützen, mußten sie sich in Garnisonen einschließen und ständig in Bereitschaft halten.

Das spartanische Zentrum zu dieser Zeit entsprach nicht genau dem, was ein guter Grieche eine Stadt genannt hätte.20 Es war eine Ansammlung von Siedlungen, die von einem gemeinsamen Schutzwall umgeben waren. Thukydides schrieb, daß künftige Generationen, falls nur die Ruinen Spartas übrigblieben, "niemals glauben würden, daß seine Macht seinem Ansehen entsprach ... ohne jegliche städtische Einheit, bestehend aus verschiedenen Dörfern im alten Stil, würde sein Einfluß geringfügig sein."21 In der Zwischenzeit befand sich Athen, der künftige Konkurrent, auf dem Weg, eine außergewöhnliche Stadt zu werden. Sparta hingegen probierte eine heute bekannte Hypothese aus, nämlich daß es uns allen ohne den "unnatürlichen Staat" besser ginge, der uns von den Metropolen aufgezwungen wird.

Sparta überprüfte aber zudem eine zweite Hypothese, die noch aktueller zu sein scheint, nämlich daß wir am besten in den guten alten Stammesformen funktionieren. Wie in den verbreiteten utopischen Visionen des 19. und 20. Jahrhudnerts wurden Kinder gemeinsam erzogen und wohnten die Männer wohnten.22 Doch wer mit wem gemeinsam speiste, wurde von der alten Stammesunterteilung der Phratrien festgelegt. In der Verfassung von Lykurg wurden alle als Gleiche angesehen: ein weiteres utopisches Ziel, das aus den Offenbarungen von Christus und der Französischen Revolution stammt. Das waren Überbleibsel aus den dorischen Zeiten, wie der Historiker W. G. Forrest meint. (Im Unterschied zu den Athenern, die die alten ionischen Stammeszugehörigkeiten vornehmlich für zeremonielle Zwecke verwendeten, organisierten die Spartaner weiterhin viele ihrer Aktivitäten um die drei dorischen Stämme herum, von denen sie offensichtlich abstammten: den Hylleis, Pamphyloi und Dynames. Ein Hinweis, daß dies tatsächlich ursprüngliche dorische Stammesnamen waren, ist der Sachverhalt, daß sie in allen dorischen Kolonien Griechenlands anzutreffen waren.)23

Sparta überprüfte auch die Grundlage einer dritten These über das Leben. Als die anderen Städte Griechenlands in Übersee Kolonien gegründet hatten, wandten sich viele Aristokraten von der landwirtschaftlichen Verwaltung ab und dem Handwerk sowie dem Handel zu. Sparta blieb dabei, seinen Reichtum durch Gewalt aus den besiegten Völkern seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu beziehen. Das schmälerte nicht nur seinen geographischen Horizont, sondern schuf auch eine Atmosphäre, in der, wie Plutarch24 berichtet, die Bürger "die Arbeit als Handwerker und mit Geld als nur für Sklaven angemessen" betrachteten.

Aber zurück zu Lykurg. Als es zum Abschluß der Wetten auf die Hypothesen kam, legte der Gesetzgeber seine Chips auf die Verstärkung der Konformität. Er setzte die Bedeutung der Privathäuser herunter und befahl, daß von jetzt an alle Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden sollten, "um die Nichtbeachtung von Befehlen auf ein Minimum zu reduzieren." Wenn man den Vorteil genoß, von den Überlegungen Lykurgs zu profitieren, wurde man in ein virtuelles Militärlager eingesperrt. Die Lebensmittelrationen wurde ohne Hinsicht auf den Appetit zugeteilt. Wenn man der knappen Ernährung etwas hinzufügen wollte, mußte man eine Jagdexpedition organisieren und sich selbst das Fleisch besorgen. Auch der Konsum von Wein, dem einzigen Getränk, das ein anständiger Grieche trank, wurde ebenso streng beschränkt. Es war nicht erlaubt, betrunken zu werden. Männer konnten sich nicht in Freundeskreisen zusammenschließen, sondern mußten mit der Auswahl von Mitgliedern zusammen speisen, die man ihnen zugewiesen hatte. Tischgespräche waren beschränkt auf ein Thema: die neuesten "Heldentaten" von edlen Bürgern.

Es gab einen Disziplinierungsgrund für die Entscheidung, die Männer in einem anderen Gebäude als in den Häusern essen zu lassen, in denen sie schliefen. "Um nach Hause zu kommen", so erklärt Xenophon25, "mußten sie gehen, darauf achten, nicht unter dem Einfluß von Wein zu stolpern und zu fallen, und sich gewahr sein, daß sie unmöglich dort bleiben konnten, wo sie gespeist hatten ... Männer, die noch dem Militärdienst verpflichtet waren, durften nicht einmal eine Fackel tragen." Aber selbst nachdem sie sicher im Bett gelandet waren, gab kein privates Leben.

Lykurg wollte nicht, daß seine Leute mit den Dummheiten der Liebe und Sexualität ihre Kraft verausgabten. "Er machte es zur Schande", berichtet Xenophon26, "wenn ein Mann gesehen wurde, wenn er in das Zimmer seiner Frau ging oder wenn er es verließ. ... Da ihre Leidenschaft füreinander, wenn sie unter diesen Umständen verkehrten, gesteigert werden sollte. ... Daneben erlaubte er keinem Mann mehr, sich zu verheiraten, wann er wollte, sondern legte fest, daß sie auf der Höhe ihrer körperlichen Leistungskraft heiraten sollten." Die Heirat selbst war alles andere als romantisch. Die Braut wurde "mit Gewalt fortgeschleppt", mußte ihre Haare kurz scheren, sich Männerkleidung anziehen und wurde dann "im Dunklen alleine auf eine Matratze" zurückgelassen. "Der Bräutigam kam", wie Plutarch27 schildert, "nach dem Speisen mit seinen Kumpanen", löste den zeremoniellen Gürtel seiner Braut und ging dann, "nachdem er kurze Zeit mit ihr verbrachte, nüchtern zu seiner gewohnten Unterkunft, um bei den anderen jungen Männern zu schlafen." Er übernachtete von diesem Zeitpunkt an weiterhin bei seinen Kameraden, und das erste Kind wurde oft geboren, "bevor sein Vater seine Frau im Tageslicht gesehen hatte."

Eine besitzergreifende Paarbindung kam nicht in Frage. Wenn ein Mann einen anderen bemerkte, dessen Körper und Geist ihm überlegen zu sein schienen, war es seine Pflicht, dieses Vorbild männlicher Vollkommenheit aufzufordern, seine Frau zu schwängern. Wenn ein Junggeselle eine Schönheit ausmachte, die besonders diszipliniert und verbissen wirkte, wurde er auf ähnliche Weise dazu aufgefordert, ihren Ehemann um Erlaubnis zu bitten, sie schwängern zu dürfen. Der Sinn dieser drei Regeln bestand in der Herstellung von Kindern für militärische Gemetzel.28

Selbst eine besitzergreifende Liebe zu den eigenen Kindern stand auf der Verbotsliste. Die Gesetze schrieben vor, daß "jeder Mann ebenso der Herr anderer Kinder wie seiner eigenen sein soll ... Sollte ein Junge jemals seinem Vater mitteilen, daß er von einem anderen geschlagen wurde, dann ist es eine Schande, wenn der Vater seinem Sohn nicht zusätzliche Prügel verpaßt."29

Das Leben war für die Frauen ebenso hart wie für die Männer. Im Unterschied zu den anderen griechischen Stadtstaaten wurden Mädchen genauso ernährt wie Jungen. Und anders als bei ihren Altersgenossinnen anderswo erwartete man von ihnen nicht, daß sie sich in ihre Häuser zurückzogen, um Wolle zu spinnen und Kleider herzustellen. Ihr Leben und ihr Körper gehörte dem Staat. Lykurg überließ, wie Xenophon berichtet, das Weben von Kleidern den Sklaven und forderte, daß "sich das weibliche Geschlecht ebensoviel wie die Männer körperlichen Übungen unterzieht. Dann organisierte er in der Überzeugung, daß dann, wenn beide Elternteile stark sind, auch ihre Kinder kräftiger sein werden, für die Frauen ebenso wie bei den Männern Geschwindigkeits- und Kraftwettkämpfe."30 Frauen liefen und kämpften mit den Jungen, warfen den Diskus, schleuderten den Speer, bändigten Pferde und fuhren mit Wagen.31

Unter den Gesetzen Lykurgs war der Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten sogar der Subtext der "demokratischen" Regierung. Das Land wurde von einem Rat aus 30 Aristokraten, den Gerousia, geführt, die lebenslang in einer praktisch manipulierten Wahl gewählt wurden (Richter entschieden, wer die meisten Stimmen erhalten hatte, indem sie sich vor den Wählern verbargen und selbst folgerten, welche Kandidaten den lautesten Beifall erzielt hatte.) Um die Massen zu befrieden, gab es eine Versammlung der Bürger, aber postlykurgische Gesetzesveränderungen knebelten diese praktisch. Nur der Rat der Dreißig konnte Gesetze und Themen zur Diskussion vorschlagen. Wenn sie sich nicht darum kümmerten, wie ihre Meinungen ankamen, konnten sie offensichtlich eine Diskussion durch ihr Recht beenden, "sich zurückzuziehen".32 Nach den postlykurgischen Gesetzesveränderungen durfte es keine "krummen Reden" geben, sondern nur ein Ja oder Nein, nachdem sich die Gerousia zurückzog und ihre Entscheidung traf. Um gerecht zu sein, entglitt die Versammlung manchmal der Herrschaft und schaffte es, ihre Meinungen durchzubringen. Doch das geschah nur selten und beschränkte sich vornehmlich auf die Zeiten einer drohenden Katastrophe.33

Der von Lykurg geprägte spartanische Staat war bekannt für seine "kämpferische Stärke und Leistung" sowie für seine "Strenge".34 Aber er scheint auch mehr als seinen Anteil an der Intoleranz der Moderne überliefert zu haben. Er verbannte, nach Plutarch, den Gebrauch von geprägtem Geld, das, wie wir festgestellt haben, den Zusammenhang der internationalen Szene revolutioniert hatte. Er legte genau fest, welche Werkzeuge und nur welche Werkzeuge zum Bau eines Hauses verwendet werden durfte: die alten Hilfsmittel Axt und Säge. Die Verwendung irgendeines neuen Baumittels war verboten. Das geschah wahrscheinlich, um den fast kommunistischen Egalitarismus zu betonen. Ohne ausgefallenen Baumaterialien konnte niemand ein Gebäude zur Darstellung seiner Überlegenheit errichten. Die Lykurgischen Reformen legten fest, daß jeder Bürger dieselbe Menge an Land erhielt. Die Bürger sprachen sich mit einem Titel an, der dem eines "Kameraden" glich: homoioi, was wörtlich übersetzt der "Gleiche" bedeutet. In Wirklichkeit waren einige gleicher als andere. Sie besaßen mehr Land und wurden reicher oder stammten von einer der wenigen adeligen Familien ab, die dem Rat der Dreißig beitreten und politische macht ausüben konnten. Aber die Mindestländereien und andere Mittel sicherten dem Spartaner einen Lebensstandard, unter den man nur schwer sinken konnte.

Die Regeln von Lykurgs Rhetra prüften die "Belastbarkeit bis an ihre Grenze".35 Agoge, die das Leben beherrschende militärische Disziplin, setzt mit der Geburt ein. Die Stammesältesten jeder Untergruppe untersuchten jedes Neugeborene und bestimmten, ob es dem Ideal der spartanischen Vollkommenheit entsprach. Wenn nicht, ließ man es sterben. Falls es jedoch die Prüfung bestand, war sein Schicksal noch immer hart. Jedes Kleinkind durfte bis zum Alter von sechs Jahren bei seiner Mutter bleiben, dann wurde es von Zuhause weggerissen und in die "Ausbildungsschwadron"36 gesteckt, in der es für die nächsten vierzehn Jahre blieb. Hier mußte es sich in der Rangordnung nach oben arbeiten, die Forrest37 als "zunehmend brutal und brutalisierend" bezeichnet.

Der Titel, der dem für die Ausbildungsmaschinerie verantwortlichen Aristokraten gegeben wurde, ist vielsagend: "Cheftrainer".38 Diesem brutalen Menschen unterstand, wie es Xenophon ausdrückt, "ein Trupp von Jugendlichen, die mit Peitschen versehen waren." Strenge Bestrafung galt als Weg zu "Respekt und Gehorsam". Um die sechsjährigen Rekruten in ihren Schuljahren (oder in ihrem Schreckenslager?) zu stählen, bestand Lykurg darauf, daß sie immer, selbst auf felsigem Gelände, barfuß gehen mußten und im Sommer wie im Winter nur ein Kleidungsstück besaßen, so daß sie gegenüber extremen Temperaturen unempfindlich wurden. Ihre unappetitlichen und unangemessenen Lebensmittelrationen sollten sie immer hungrig sein lassen und sie vierzehn Jahr lang spüren lassen, "was es bedeutet, nicht genug zu haben."39 Wenn sie mehr wollten, mußten sie es stehlen, und wenn sie dabei erwischt wurden, erhielten sie viele Peitschenhiebe. Wer es jedoch schaffte, "soviel Käse wie möglich" zu entwenden40, wurde mit Respekt betrachtet. All dies sollte aus jedem Schüler einen Experten in den Fähigkeiten eines Soldaten machen, der "die Nacht durchwachen und bei Tag wartend Täuschung und Lüge ausführen sowie Spione in Bereitschaft halten mußte, wenn er etwas rauben will."41 Für die Jungen gab es allerdings keine Privatheit, um ihre Diebstähle zu planen. Die Jugendlichen von Sparta unterstanden einem Leiter, der sie 24 Stunden am Tag beobachtete. Um die Überwachung noch schärfer zu machen, war jeder Bürger verpflichtet, der vorbeiging, wenn der Cheftrainer gerade nicht da sein sollte, den Schülern Befehle zu geben und sie streng zu bestrafen, wenn diese nicht genau befolgt wurden. Ein spartanisches Kind wurde gezwungen, ein gehorsamer, schlanker und trickreicher Kämpfer zu werden, der auch dann kämpfen konnte, wenn es nichts zu essen gab, und an Umweltbedingungen Gefallen fand, die einen schwächeren Mann töten konnten.

Griechische Jungen in anderen Staaten erhielten, wenn sie erwachsen wurden, ihre Freiheit und durften nach Belieben Herumstreifen. In Sparta hingegen wurde es geschätzt, "wenn die Jugendlichen", wieder einmal nach Xenophon42, "in diesem Alter sehr eigenwillig werden und sich vor allem der Angeberei widmen." Das spartanische System überlud diese Möchtegernschurken mit Arbeit und verkündete, daß jeder, der sich eines Teils seiner Last entledigt, lebenslang zu einer zweitklassigen Bürgerschaft verurteilt werde. Überdies wurde der jugendliche Überschwang durch Regeln gebändigt, die moderne Jugendliche öffentlich protestieren und Autos umwerfen ließen: "Selbst auf den Straßen sollten sie ihre Hände unter dem Umhang halten, schweigend gehen und ihre Augen nicht umherschweifen lassen, sondern sie auf den Boden vor ihnen richten."43 Beim Essen, also bei den militärisch ausgerichteten gemeinsamen Mahlzeiten, durften die Jungen nur sprechen, wenn sie angesprochen wurden. Xenophon war von der daraus resultierenden "Selbstbeherrschung" beeindruckt: "Man würde eher einen Schrei von einer steinernen Statue hören oder dem Blick einer bronzenen begegnen."44

Das Thema junger Erwachsener war der unbarmherzige Wettkampf - nicht zwischen Einzelnen, sondern zwischen Gruppen. Drei junge Führer durften sich jeweils Hundert ihrer Altersgenossen auswählen und mußten denen, die nicht die Ehre hatten, erklären, warum sie nicht gleichwertig waren. Das schuf eine In-Group, die es als ihre Aufgabe betrachtete, die unter ihnen Stehenden zu verpfeifen, und eine nach Rache dürstende Gruppe von Abgewiesenen, die alles machten, um ihre "Überlegenen" dabei zu erwischen, wie sie die Regeln der "Ehre" und der "Tapferkeit" brachen. Man mußte, egal auf welcher Seite man stand, auf jeden seiner Schritte aufpassen (man erinnere sich: ein Ausrutscher - und man war nicht nur blamiert, sondern kam direkt unter die Peitsche). Die Kinder befanden sich, in Xenophons Worten, praktisch "im Krieg".45 Sie mußten "körperlich leistungsfähig" bleiben, denn es konnte "immer, wenn sie einander begegneten, zu Schlägereien" kommen. Auf der anderen Seite würde derjenige, der weiterkämpfte, wenn ein Bürger ihnen befahl aufzuhören, zum Cheftrainer gebracht werden und eine "harte Strafe" erhalten, um zu zeigen, daß "Wut niemals die Befolgung des Gesetzes übersteigen darf."

Die vielleicht extremste Vorführung der Folgen dieses Systems geschahen in einem Übergangsritual, das schließlich auf die jungen Männer Spartas wartete. Teenagers konkurrierten darum, wer am längsten Prügel aushalten konnte. Manche starben beim Versuch, die Besten zu sein.

Obgleich Historiker wie W. G. Forrest und J. M. Moore46 sagen, daß viele dieser Gesetze die alte dorische Stammestradition fortsetzten, wurden sie jedoch von keiner anderen Stadt im griechischen Hauptland übernommen. Plutarch sagte, Lykurg habe ein System geschaffen, das Menschen so ausrichtete, "als seien sie Bienen, die immer mit der Gemeinschaft verbunden sind, um ihren Anführer schwärmen und sich fast ekstatisch mit einer wilden Leidenschaft gänzlich ihrem Land weihen."47 Aristoteles war härter. Er schrieb, daß das spartanische System "Menschen zu Maschinen machte".

Die Verfassung Lykurgs war jedoch eine durchdachte Option für die Ausrichtung einer Gesellschaft. Sie setzte auf Autorität, Gehorsam, Krieg und Uniformität: eine bewußte Hypothese über den besten Weg, um die Herausforderungen zu bewältigen, die die Zukunft bringen wird. Wie leistungsfähig diese Vermutung war, würden erst die kommenden Jahrhunderte offenbaren.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer