Spiel ohne Grenzen
"Grenzen-los" - Der Jahreskongress des Wissenschaftszentrums NRW
Die Globalisierung, so heißt es, läutet mit dem zunehmenden Verschwinden nationaler Grenzen eine neue Ära der Weltkultur ein. Doch es weiß bereits jeder, daß der Übergang in ein postnationales Zeitalter nicht schadlos zu haben ist. Aufhalten läßt sich die globale Verflechtung der Märkte längst nicht mehr. Ob und wie sie sich kritisch moderieren läßt, darüber diskutierten Experten auf dem diesjährigen Jahreskongreß des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen am 21. und 22. November in Wuppertal.
Grenzen sind dazu da, sie zu überschreiten oder gegen sie anzurennen, manchmal auch sie zu verschieben. Ganz aufheben allerdings lassen sie sich nur um den Preis der Aufgabe dessen, was sie begrenzen. Der Grund dafür ist simpel: Identität jeglicher Art - von einzelnen Gegenständen und Personen ebenso wie von ganzen Nationen oder Kulturen - konstituiert sich nur durch die Abgrenzung von dem, was anders ist.
"Grenzen-los? Jedes System braucht Grenzen - aber wie durchlässig müssen diese sein?", so hieß es im Titel des diesjährigen Jahreskongresses des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen, der unter der Leitung von Ernst Ulrich von Weizsäcker, Präsident des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt, Energie, am 21. und 22. November in Wuppertal stattgefunden hat. Zwei Tage lang diskutierten Ökonomen, Politiker und Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen über Sinn und Bedeutung von Grenzen und den richtigen Umgang mit ihnen - und sie taten dies aus aktuellem Anlaß in mal mehr, mal weniger (und manchmal auch keinem) direktem Bezug zu jenem Phänomen der zunehmenden internationalen Vernetzung, welches unter dem Titel der Globalisierung längst, wie Johannes Rau in seiner Eröffnungsrede so schön sagte, vom Schlagwort zum Reizwort geworden ist.
Globalisierung - damit ist zunächst die transnationale Verflechtung der Geldmärkte gemeint, der Banken, Versicherungen und Börsen, deren globale Bedeutung ja bereits der legendäre "schwarze Freitag" in New York in den zwanziger Jahren dokumentierte. Im Kielwasser des ebenso unmerklich wie ungehemmt die Kontinente durchströmenden Geldflusses sind es heute vor allem multinationale Konzerne und ihre Verteilung von Produktion und Konsum auf unterschiedlichste Regionen, die - zunehmend gestützt durch die telematische Vernetzung - der Welt das Design einer postnationalen Kultur verleihen, geformt nach dem Bild des einen kapitalistischen Systems. Die Globalisierung von Wissenschaft, Kunst, Mode oder anderen weichen Elementen dieser Kultur ist lediglich ein Epiphänomen der ökonomischen Vereinheitlichung der Welt.
"In der Ökonomie", so lautete die Feststellung bereits in der Ankündigung des Kongresses, "gehört das Niederreißen von Grenzen zu den Grundannahmen der Wettbewerbstheorie". Patrick Minford, einer der führenden Vertreter der Freihandelslehre, versuchte diese Annahme positiv zu begründen: Laßt den freien Markt entscheiden, vergeßt die nationalen Barrieren, an denen seine Dynamik heute teilweise noch gebremst wird - und alle werden am Ende davon profitieren. In Wuppertal stießen solche Prognosen auf Widerspruch. Schließlich spricht nichts dafür, daß die Aufhebung von Grenzen mit steigendem Profit auch schon seine gerechtere Verteilung bedeutet. Außerdem lassen sich Profite nur steigern, wenn die Wirtschaft wächst - und diesem Wachstum stehen in einer Welt der ökologischen Verelendung ganz andere als nationale Grenzen im Wege. Und - last not least: das Niedereißen von Grenzen geht immer mit der Errichtung neuer Mauern einher.
Die illusionäre Annahme eines unbegrenzt anhaltenden Wirtschaftswachstums allerdings korrespondiert mit der wissenschaftlich-technischen Utopie einer uneingeschränkten Aneignung der Welt. Aus dieser Perspektive erscheint "Grenzenlosigkeit" als ein Ideologem, in dem sich die Maßlosigkeit der Ansprüche der Moderne ein weiteres Mal widerspiegelt. Den lautesten Einspruch dagegen erhoben auf dem Kongreß die leisen Stimmen - wie Victoria Tauli-Corpuz als Vertreterin der Cordilleria Peoples' Alliance mit ihrer persönlichen Schilderung der ebenso schleichenden wie tödlichen Assimilierung einer ethnischen Minderheit; oder der Ethnologe Darrell Posey: Viele Grenzen, so Posey, verlaufen im Kopf - als idealisierte Kategorien zur besseren Aneignung einer Welt, die sich hartnäckig weigert, ihnen zu entsprechen. Um den verschiedenen Kulturen weiterhin ihre je eigene Art der Weltaneignung zuzusichern forderte Posey, der in Oxford das Traditional Resource Rights Program leitet, müsse eine jede ihre positiven Rechte selber bestimmen dürfen. Dafür aber benötigen gerade jene Kulturen, deren Werte den Standards westlicher Normenkataloge nicht entsprechen, den Schutz universal geltender negativer Rechte.
Die Richtigkeit solcher Forderungen dokumentiert auch die Tatsache, daß wir der Globalisierungsfalle längst nicht mehr entgehen können. Radikaler Widerstand gegen die Globalisierung ist am Ende ebenso illusionär wie diese selber (zumal der Begriff, so Franz Lehner, Präsident des Instituts Arbeit und Soziales im Wissenschaftszentrum NRW, verstellt, daß es sich in Wahrheit um ein triadisches Spiel zwischen den USA, Europa und Japan handle). Radikaler Einspruch gegen die Risiken der Globalisierung allerdings ist ein ebenso notwendiger wie sinnvoller Akt im Kampf um Gestaltungsmöglichkeiten. Fast resignativ klang in dieser Hinsicht das selbstkritische Eingeständnis von Johannes Rau, daß die Politiker zwar noch an der Regierung - aber schon nicht mehr an der Macht seien. Kämpferischer gab sich hingegen die Zukunftsforscherin Hazel Henderson, die in ihrer Schlußplädoyer darauf drang, die Diskussion um die zukünftige Entwicklung einer globalen Kultur nicht den Ökonomen allein zu überlassen.
Die Probleme der grenzüberschreitenden Vereinheitlichung der Welt liegen auf der Hand. Sie lassen sich - vom notwendigen Schutz ethnischer oder religiöser Minderheiten, dem Schutz kultureller Integrität und regionaler Autonomie wie dem ökologischer Ressourcen - subsumieren unter dem Schlagwort: Schutz des Anderen; oder, wie Adorno sagte: "Gerechtigkeit dem Heterogenen gegenüber". Patentrezepte zu deren Durchsetzung gibt es keine, und Zeit, auf sie zu warten, auch nicht mehr.
Noch keine Zivilisation, so der Historiker Jürgen Osterhammel, war je mit sich alleine. Jede hat sich durch und in Abgrenzung von anderen Zivilisationen entwickelt. Am Ende einer einseitigen Aufhebung aller Grenzen stünde mit der universalen Hegemonie der postnationalen kapitalistischen Kultur eine Zivilisation, die nicht nur jedes Gegenüber - sondern damit auch jede Chance verloren hätte, sich selbst zu verstehen.