Spitzel aller Länder

Seite 3: Briefbomben als Rechtfertigung für Einsatz bei Gipfelprotesten

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Ziercke hatte den Abgeordneten im Innenausschuss erklärt, die EU-Mitgliedstaaten würden ihre Spitzel gegen "Euro-Anarchisten, militante Linksextremisten und -terroristen" in Stellung bringen, die sich angeblich in Griechenland, Spanien, Großbritannien, Frankreich, Dänemark und Deutschland organisierten.

Obgleich die bekanntgewordenen Bespitzelungen allesamt rund um Gipfelproteste durchgeführt wurden, werden sie nachträglich mit anderen Delikten begründet. Die Bundesregierung schreibt, eine "Europäisierung der Anarchoszene" sei sichtbar in der "grenzüberschreitenden Versendung von Briefbomben" oder der "länderübergreifend abgestimmten Begehung schwerer Anschläge". Auch die von Ziercke als Rechtfertigung internationaler Spitzeleinsätze angeführte angebliche Verletzung "von über 400 Polizisten" bei der Auftaktdemonstration gegen den G8-Gipfel am 2. Juni 2007 in Rostock ist tendenziös; die Behauptung ist von Journalisten wie Bürgerrechtlern längst widerlegt - der größte Teil der Polizeikräfte stand im eigenen Tränengasnebel.

Für die Arbeit der Spitzel würde es "stets Lob vonseiten der Politik" geben, hatte Ziercke den Innenausschuss des Bundestages im Januar beschwichtigt. Auf Nachfrage zur Quelle dieses Lobes rudert die Bundesregierung jetzt zurück: Gemeint sei ein "störungsfreier Verlauf", der dem "planmäßig vorbereiteten und überlegten polizeilichen Handeln" zugeschrieben würde. "Kriminalpolizeiliche Spezialkräfte" wie verdeckte Ermittler würden "aus nachvollziehbaren Gründen" nicht eigens erwähnt.

Weder zu früheren G8-Gipfeln noch zum NATO-Gipfel in Strasbourg möchte die Bundesregierung genauere Angaben zu Entsendeländern und Adressaten der Spitzel machen. Noch nicht aufgeflogene Spitzel sollen geschützt werden, da sich diese in "verbrecherischen und terroristischen Umfeldern" bewegen, deren Angehörige sich "durch einen hohen Grad an Staatsferne, Kriminalisierung sowie Aggressions- und Gewaltpotential" auszeichneten. Eine politische Bewertung dieser Kriminalisierung von Gipfeldemonstranten bleibt also versagt, da "Gesichtspunkte des Staatswohls und des Schutzes der Grundrechte Dritter" gegenüber dem parlamentarischen Kontrollrecht zurückstehen.

Keine Auskunft zu geheimdienstlichen Polizeimethoden

Ein Bekanntwerden der Klarnamen sei zwar "solange diese Beamten nicht wie im Falle Mark Kennedy bzw. Mark Stone bereits in der Öffentlichkeit enttarnt wurden" in jedem Fall zu vermeiden. Trotzdem schweigt die Bundesregierung in der Affäre um den Einsatz von Kennedy; brisante Details bleiben in der Geheimschutzstelle des Bundestages unter Verschluss, Unklarheiten werden auf Nachfrage wiederholt mehrdeutig vorgetragen und nicht aufgeklärt. Auch auf die Frage nach den Konsequenzen aus den von Kennedy in Deutschland begangenen Straftaten wird knapp quittiert, die "Angelegenheit" sei "mit den zuständigen Stellen auf britischer Seite erörtert" worden. Die erforderliche Strafverfolgung oder juristische Schritte wurden demnach noch nicht eingeleitet.

Offen bleibt ebenso die Rolle von internationalen Polizeiorganisationen. Während der BKA-Präsident im Innenausschuss erklärte, Europol habe von Mark Kennedy gewusst, behauptet die Bundesregierung dass sie beim Spitzeltausch "weder mit Europol noch mit Interpol" zusammenarbeitete. Dabei ist Europol durchaus umtriebig in jenem Spektrum, das von den Spitzeln ausgeforscht wird: Die von Europol jährlich erstellte "Trendanalyse" zu Terrorismus in der EU erläutert für 2010, die "anarchistischen Extremisten" würden sich vor allem in den Bereichen Antikapitalismus, Antimilitarismus und "No Borders" engagieren. In mehreren Ländern kämen auch Umweltthemen bzw. die Beschäftigung mit dem Klimawandel sowie Hausbesetzungen oder Migration hinzu.

Die zuständigen nationalen Polizeien wie das deutsche Bundeskriminalamt behalten durch die Mitarbeit in internationalen Strukturen stets den Überblick über den internationalen Spitzeltausch und werden, wie das deutsche Beispiel zeigt, zu unkontrollierbaren "Maklern" grenzüberschreitender verdeckter Zusammenarbeit. Zwar haben sie bislang keine neuen Kompetenzen erhalten, dennoch arbeiten sie in informellen Arbeitsgruppen an der Verbesserung der Rahmenbedingungen für internationale Einsätze. Ihre parlamentarische Kontrolle wird erschwert: Der Weg durch ausländische Spitzel übermittelter Information ist nicht mehr zu verfolgen, weitergehende Auskünfte wären nur über Parlamente der Entsendeländer zu erhalten.

Gleichzeitig zeichnet sich eine zunehmend geheimdienstliche Formierung kriminalpolizeilicher Ermittlungsmethoden ab, wenn verbotene "szenetypische Straftaten" scheinbar skrupellos zur "Legendenbildung" begangen werden und eine etwaige Strafverfolgung lediglich "in den zuständigen Gremien erörtert" wird.

Die juristische Aufklärung wird auch vereitelt, wenn unklar ist, wohin etwa eine in Deutschland zu stellende Strafanzeige überhaupt adressiert werden muss: Wäre im Falle der von Mark Kennedy begangenen Brandstiftung er selbst strafrechtlich zu verfolgen, seine Vorgesetzten von der britischen NPOIU, deren privatrechtlich organisierte Führung der "Association of Chief Police Officers" (ACPO), das deutsche Bundeskriminalamt als "Makler" der Zusammenarbeit oder das Land Berlin, wo der feurige Einsatz zur angeblichen "Legendenbildung" stattfand?