Sport statt Politik

Abschaltung des letzten unabhängigen russischen Fernsehsenders

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Am 21. Januar um Mitternacht wurde der russische Fernsehsender TW-6 abgeschaltet. Mit TW-6 ist der letzte überregionale, unabhängige Sender, der immerhin 51 Prozent der russischen Bevölkerung erreichte, vom Netz. Auch rechtlich hat das ganze einen Hautgout, doch Ungereimtheiten kennt man ja vom letzten Jahr, als der TV-Sender NTW dran glauben musste. (Vgl. Knüppel aus dem Sack)

Die Basis für die Schließung von TW-6 war ein Gesetz, das Minderheitsaktionären erlaubt, eine Firma schließen zu lassen, wenn diese über eine längere Zeit hinweg verschuldet ist. Das Gesetz ist vom Parlament längst modifiziert, die Rechte von Minderheitsaktionären wurden deutlich beschnitten. Trotzdem wurde TW-6 auf der Basis der alten Fassung liquidiert, weil der inzwischen rentable Sender Schulden machte, als das Gesetz in seiner alten Form noch galt. Den Konkurs hatte der Minderheitenaktionär Luk-Oil-Garant, der Pensionsfonds des Ölkonzerns Lukoil, beantragt, im Falle von NTW war der Erdgasriese Gasprom verwickelt.

Dass die Abschaltung des Senders ein Schlag gegen den Oligarchen und bekennenden Kreml-Gegner Boris Beresowskij ist, dem 75 Prozent von TW-6 gehören, wird offiziell natürlich dementiert. Präsident Wladimir Putin erklärte mehrfach, dass die Sache eine Auseinandersetzung zwischen völlig unabhängigen Wirtschaftsstrukturen sei, und der Staat damit nichts zu tun habe. Bei seinem Besuch in Paris konnte er sich dann aber doch nicht verkneifen, anzumerken, dass die so genannten Oligarchen in der Vergangenheit die Kontrolle über mehrere Medieneinrichtungen erlangt hätten und man versuche, diese zurückzubekommen, sofern das Staatsinteresse betroffen sei.

Und das Staatsinteresse scheint in der Tat sehr heftig betroffen zu sein, denn zwischenzeitlich wurden gegen den im Ausland residierenden Medienmagnaten schwere Geschütze aufgefahren: Am 22. Januar erklärte der Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB, Nikolaj Patruschew, sein Dienst verfüge über Beweise, dass Beresowskij tschetschenische Rebellen und deren Anführer finanziert habe. Beresowskij kontert allerdings nicht minder heftig, dass er unwiderlegbare Beweise dafür besitze, dass der FSB in die Bombenanschläge auf Wohnhäuser in Moskau und Wolgodonsk im Jahr 1999 verwickelt war. Über die Vorwürfe beider Seiten gibt es in Russland schon lange Spekulationen. Was auch immer in welchem Umfang daran zutreffend sein mag, so lässt sich daraus doch will ziemlicher Sicherheit folgern, dass bei der Schließung des Senders wirtschaftliche Gründe nicht den Ausschlag gegeben haben.

Doch während man gespannt wartet, wie die Dinge sich weiterentwickeln, und die Journalisten von TW-6 in aller Eile eine eigene Gesellschaft gründen und hoffen, bei der Ausschreibung der eingezogenen Sendefrequenz am 27. März die Lizenz für den Kanal 6 zu ergattern, steht plötzlich eine völlig neue Idee im Raum, die wie eine Lawine über das Land niedergeht: Der Gesundheitszustand des russischen Volkes ist bedrohlich gesunken, die Menschen sind nicht sportlich genug und den Genuss an der Leibesertüchtigung soll ihnen ein Sportkanal vermitteln. Kaum hatte der Gouverneur von Tscheljabinsk, Pjotr Sumin, diese Idee auf einer Sondersitzung des Staatsrates kundgetan, finden sich allerorts Anhänger. Und der wohl wichtigste Sportler des Landes, Präsident Putin, bat sogleich den Vorsitzenden des Russischen Olympischen Komitees, Leonid Tjagatschow, sich über die Einrichtung eines überregionalen Sportsenders Gedanken zu machen.

Wie auf ein Signal schrillen überall die Alarmglocken. Der Staatssender RTR zeichnete ein drastisches Bild vom Gesundheitszustand der Bevölkerung: Danach ist der Anteil der Raucher an der Bevölkerung in den vergangenen zehn Jahren von 40 auf 70 Prozent gestiegen, 60 Prozent der Bevölkerung seien Alkoholiker und 10 Millionen Russen drogensüchtig. Besonders stark seien Jugendliche betroffen. Präsident Putin beklagt, dass nur 10 Prozent der Russen Sport trieben und verwies auch auf die seit Jahren sinkende Lebenserwartung, die zweifellos eine traurige Tatsache ist. Er beauftragte die Regierung, umgehend ein Programm zur Sportförderung zu erarbeiten, im kommenden Monat soll ein Präsidialerlass über Sport und Fitness erscheinen.

Ist der ganze Wirbel womöglich eine Art Prä-Olympisches-Syndrom eines Landes, dessen Glanz als Sportnation längst verblasst ist? Oder sollte Putin, der wie RFE/RL Newsline am 25 Januar unter Berufung auf die Zeitung Wersija 1 berichtete, zu Jahresbeginn Historiker in den Kreml geladen hatte, um sich in Sachen einer "nationalen Ideologie" beraten zu lassen, im Sport die moralische Rettung seiner Landsleute ausgemacht haben? Oder sollte das ganze Spektakel nur erdacht worden sein, um TW-6 endgültig und mit "gutem" Grund verschwinden zu lassen?

Für die Journalisten von TW-6 jedenfalls schwinden mit der allgegenwärtigen Sportpropaganda die Chancen, ihren Sender doch noch weiterführen zu können. Der viel heißere Anwärter auf die Lizenz für Kanal 6 scheint der kleine, bislang relativ unbekannte Sportsender 7-TW zu sein. Er wurde Ende des vergangenen Jahres ins Leben gerufen, als TW-6 schon auf der Abschlussliste stand. Prominentes Mitglied im 7-TW-Beirat ist auch der Vorsitzende des Russischen Olympischen Komitees Tjagatschow, und die St. Petersburg Times will von einer Quelle im Presseministerium erfahren haben, dass 7TV Verbindungen zum Fußballclub Spartak Moskau hat, dessen Hauptsponsor der Ölkonzern Lukoil ist. Damit hätte sich der Kreis wieder geschlossen.

Wie ein Sportsender den russischen Bürgern zu mehr Fitness verhelfen soll, ist zwar schleierhaft, als Instrument zur Entpolitisierung des öffentlichen Lebens könnte er aber allemal taugen. Die Einflussnahme auf die Medien ist ein weiterer Beleg für den allgemeinen Trend einer Zentrierung von Macht auf den Präsidenten. Neben der Stabilität, die Putin Russland gebracht hat, und wirtschaftlichen Daten, die einen erfreulichen Trend nach oben zeigen, hat er in seiner Amtszeit die Macht der Gouverneure in den Regionen stark beschnitten. Die von seinem Amtsvorgänger Jelzin übernommenen Spitzenbeamten in Regierung, Präsidialverwaltung und staatlichen Unternehmen hat er zielstrebig durch eigene Gefolgsleute ersetzt. Und in der Duma, dem Parlament, ist es übersichtlicher geworden, seit sich im vergangenen Dezember die drei führenden Parteien (Partei Einheit, Partei Ganz Russland und die Vaterlandspartei) zu einem zentralistischen Block zusammengeschlossen haben, der den Kurs des Präsidenten unterstützt. Die Präsidialmacht ragt wie ein Monolith aus der politischen Landschaft heraus.

Im vergangenen November hatte Putin das Bürgerforum im Kreml eröffnet, bei dem die verschiedensten nichtstaatlichen Organisationen des Landes vertreten waren. Bei dieser Gelegenheit hatte er betont, dass es unmöglich und sogar gefährlich sei, eine Bürgergesellschaft von oben schaffen zu wollen und sich für einen Dialog unter Gleichgestellten ausgesprochen. Zum Jahresende hatte sich der Präsident - wieder dialogbereit - in einem mehrstündigen Fernsehmarathon den Fragen der Bürger gestellt. Es sollte allmählich der Beweis folgen, dass es sich dabei nicht um geschickt inszenierte Medienspektakel handelte. Auch unabhängige Medien sind ein Mittel einen Dialog zu führen und eine Bürgergesellschaft von unten entstehen zu lassen. So eine Leistung wäre dann wahrhaft goldmedaillenverdächtig.