Staatskritik, symbolische Macht und Herrschaftsverhältnisse

Der Soziologe Jens Kastner über Staat und Rassismus

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Der Staat prägt Denk- und Wahrnehmungsschemata. Doch wie tief und weitreichend diese Prägungen sind, ist längst nicht jedem bewusst. Der Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner, verdeutlicht im -Interview, was ein kritisches Staatsverständnis umfassen sollte und zeigt auf, dass selbst Anarchisten öfter staatlichen Einflüssen unterliegen als ihnen klar ist.

Unter Zugriff auf die Soziologie Pierre Bourdieus geht er auf die Entwicklung des Staates in den vergangenen Jahrzehnten ein und kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl von einem linken als auch einem libertären Standpunkt aus von einem Staatsversagen gesprochen werden kann.

Kastner, der am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien arbeitet, hat sich intensiv mit dem Werk des französischen Soziologen Pierre Bourdieu auseinandergesetzt. Im Interview mit Telepolis greift er auf die Soziologie Bourdieus zu und zeigt auf: Eine kritische Gesellschaftswissenschaft, die in der Lage ist, Grundsätzlichkeiten zu hinterfragen, die als selbstverständlich betrachtete Herrschaftsverhältnisse dekonstruieren kann und den Einfluss und das Wirken symbolischer Macht erkennt, ist dringend nötig.

Pierre Bourdieu, dessen Bekanntheit in Deutschland außerhalb der Sozialwissenschaften begrenzt ist, hat in seiner Arbeit immer wieder die "verborgenen Mechanismen" der Macht herausgearbeitet. Mit dem Staat als einflussreiches "Gebilde", hat sich Bourdieu auch in seinen Vorlesungen intensiv auseinandergsetzt.

Wieso wird die Steuer als legitim erfahren?

Bourdieu sagte einmal, er kenne keinen Anarchisten, "der nicht die Uhr umstellt, wenn wir zur Sommerzeit übergehen..." Was meinte der Soziologe damit?
Jens Kastner: In den Vorlesungen "Über den Staat" widmet sich Bourdieu ausführlich dessen Genese und Struktur. Die Anarchisten kommen immer wieder da ins Spiel, wo Bourdieu zu zeigen versucht, dass selbst die entschiedendsten Gegnerinnen und Gegner des Staates letztlich die von ihm geprägten Denk- und Wahrnehmungsstrukturen nicht hinterfragen.
Womit wir bei dem "Uhr umstellen" wären...
Jens Kastner: Ja, der Alltag der allermeisten Menschen ist von Strukturierungen durchzogen, die staatlich geprägt und verbürgt sind, und die kaum in Frage gestellt werden: Uhrumstellen, Ferienzeiten, Rechtschreibung und vieles andere.
Er zielte damit aber auch auf grundlegende Fragen der Staatstheorie. Laut Bourdieu gibt es große Defizite in den Auffassungen, die von Historikern, in der Politikwissenschaft, aber auch in der Soziologie vom Staat vertreten werden. Eines davon ist die Nichtbeachtung der Konstruktion von Denk- und Wahrnehmungsschemata.
Das heißt?
Jens Kastner: Konkret weist Bourdieu darauf hin, dass es keinen Sinn macht, immer wieder die Geschichte der Steuererhebung als Beginn moderner Staatlichkeit zu erzählen und mit Daten und Akteuren zu schildern, wenn nicht untersucht wird, warum die Leute überhaupt anfangen, Steuern zu akzeptieren. Warum lassen sie sich Geld abnehmen von Menschen, die sie gar nicht kennen? Wieso wird die Steuer als legitim erfahren und - in der Empfindung wie auch der Reflektion - von der Schutzgelderpressung unterschieden?
Dazu bedarf es laut Bourdieu einer langwierigen Legitimierungsarbeit, während der auch immer Widerstände gebrochen und neue Allianzen geschmiedet werden müssen. Und diese Legitimität, obwohl nie ein für alle mal gesichert, ist doch häufig so stabil, dass es nicht gelingt, sie zu hinterfragen, obwohl man vielleicht prinzipielle Einwände hegt - wie die Anarchisten es tun.
Wie hat Bourdieu den Staat erfasst und gedacht?
Jens Kastner: Der moderne Nationalstaat ist nicht das Ergebnis von Verträgen, die die Menschen auf einem bestimmten Territorium untereinander schließen, und der Institutionen, in denen sie sich organisieren.
Sondern?
Jens Kastner: Es ist laut Bourdieu genau umgekehrt, die Institutionen schaffen erst das Gemeinwesen und die Denk- und Wahrnehmungsmuster, die es erlauben, sich diesem und keinem anderen zugehörig zu fühlen.
Ähnlich wie die neomarxistische Staatstheorie - obwohl er sich permanent von ihr abgrenzt - versteht Bourdieu den Staat auch weder als neutrales Mittel, das zu diesen oder jenen Zwecken gebraucht werden kann, noch als handelndes Subjekt. Es geht ihm um Praktiken, die sich in Kräfteverhältnissen verdichten. Es geht also durchaus um konkrete Handlungen bestimmter Menschen vor dem Hintergrund ihrer historisch entstandenen Positionen. Man habe in der Staatstheorie so viel über Macchiavelli geschrieben, heißt es in den Vorlesungen sinngemäß, dass er den Schwerpunkt dagegen auf den Tratsch setzen müsse.
Das Denken in Kräfteverhältnissen führt dann auch dazu, dass Bourdieu im Grunde Sätze vermeidet, die "der Staat tut dies oder jenes" behaupten. Im Staat selbst konzentrieren sich sehr unterschiedliche, auch widerstrebende Kräfte, die in unterschiedlichen Bündnissen auch parteien- und milieu-übergreifend wirken. Der gleiche Staat, der die Privatisierung der öffentlichen Einrichtungen flankiert oder sogar aktiv betreibt, kann andererseits das Monopol "öffentliche Sicherheit" ausbauen und sich militärisch ständig aufrüsten.

Der Staat als "Zentralbank des symbolischen Kapitals

Bourdieu bezeichnet den Staat auch als eine Art "Zentralbank des symbolischen Kapitals". Was steckt hinter dieser Bezeichnung?
Jens Kastner: Ähnlich wie die Zentralbanken für die Geldwertstabilität zuständig sind, bürgt der Staat für die Gültigkeit und den Wert von Vereinbarungen und Dokumenten, aber er garantiert häufig auch die Geltung von Werten im moralischen Sinne. Diese staatlichen Garantien beziehen sich auf die Gültigkeit von Hochzeiten ebenso wie für die des sprachlichen Ausdrucks. Letztlich sind staatliche Garantien selbst für die Ökonomie notwendig, weil sie auch hier die Sicherheit bieten, dass es sich lohnt, mitzuspielen.
Bei der symbolischen Macht geht es also eher um....?
Jens Kastner: Es geht bei ihr im Wesentlichen um die historisch gewachsene Möglichkeit, über Anerkennung zu verfügen - im doppelten Wortsinne, sie zu haben und sie verleihen zu können. Anerkennung nicht nur im Sinne von Prestige und Reputation, das auch, vor allem aber in ganz grundsätzlicher Hinsicht: Dass mir für diesen Fetzen Papier Waren aller Art ausgehändigt werden und für den anderen nicht, gründet auf der symbolischen Macht des Staates, die den Geldschein zu einem besonderen Papier macht. Auch kann ich noch so viele Esspapier-Oblaten schlucken und ich werde dadurch doch nicht Teil der katholischen Kirche.
In allen gesellschaftlichen Bereichen gibt es besondere Rituale und Prozeduren, in denen symbolische Macht zum Ausdruck gebracht und akkumuliert wird. Die symbolische Macht setzt sich selbstverständlich im Sport anders zusammen als in der Religion oder in der bildenden Kunst.
Immer geht es auch darum, wer das Recht hat zu sprechen und wie die Bedingungen beschaffen sind, um mit dem Gesagten auch Gehör zu finden. Hätte ich beispielsweise nicht ein gewisses symbolisches Kapital im Feld der Sozialwissenschaften erarbeitet - Aufsätze in Fachpublikationen, Titel, Stelle usw. -, wären Sie nicht auf die Idee gekommen, mich für einen legitimen Sprecher zu halten.
Das stimmt.
Jens Kastner: Symbolisch nennt Bourdieu dieses Kapital und diese Macht jedenfalls im Übrigen nicht, weil sie nicht real oder nicht wirksam wären, sondern im Gegenteil, weil sie - in Anlehnung an den Begriff der "symbolischen Formen" bei Ernst Cassirer - für die Konstitution von Wirklichkeit zentral sind. Der Staat bildet schließlich nach Bourdieu so eine Art Meta-Feld, in dem das spezielle symbolische Kapital der einzelnen Felder der Ökonomie, der Kunst usw. noch einmal abgesichert wird.
Symbolisches Kapital schafft also auch Wirklichkeit?
Jens Kastner: In dem Sinne, in dem es Geltung und/oder Legitimität herstellt, schafft das symbolische Kapital auch Wirklichkeiten. Aber es gibt selbstverständlich auch Wirklichkeiten jenseits des symbolischen Kapitals, also nicht beachtete, subalterne, scheinbar irrelevante Praktiken finden ja statt, nur dienen sie weniger als allgemeine Orientierung als solche, die mit Kapital ausgestattet sind. Was es nicht gibt, denke ich, ist eine Wirklichkeit jenseits des Symbolischen, wenn damit die Bedingungen und Grundformen der Weltauffassung gemeint sind.

Neoliberalismus und starker Staat haben sich nur in der neoliberalen Doktrin, nicht aber in der Praxis gegenseitig ausgeschlossen

Als Bourdieu "intervenierte", war vor allem ein Rückzug des Staates zu beobachten. Für viele der Verfechter des Neoliberalismus konnte der Staat gar nicht weit genug zurückgedrängt werden. Nun, knapp ein Jahrzehnt später, wird in den Medien plötzlich der Ruf nach einem starken Staat, laut.
Auf Zeit Online waren vor kurzem die folgenden Zeilen zu lesen: "Wenn nicht alles täuscht, erleben wir gerade die Wiederkehr des starken Staates. Man muss nicht lange überlegen, um sich klarzumachen, dass die enormen Aufgaben, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen, nicht ohne einen starken Staat gemeistert werden können..." Wie passt das zusammen? Was passiert hier gerade? Oder, anders gefragt: Würde Bourdieu diese Rückkehr des Staates begrüßen?
Jens Kastner: Bourdieu hätte nun einen starken Staat im Sinne autoritärer Maßnahmen sicherlich nicht begrüßt. Auch und erst recht nicht im Hinblick auf die Flüchtlingspolitik. Er hat in den 1990er Jahren ja durchaus an internationalen Bündnissen zwischen linken Gewerkschaften, Refugees und anderen emanzipatorischen sozialen Bewegungen gearbeitet. In dieser Hinsicht hat Bourdieu den Staat sogar als Schutzmacht für die Schwachen verstanden, den es gegen die neoliberale Offensive zu bewahren gelte. Das steht durchaus in einem Spannungsverhältnis zu seiner Analyse des Monopols der symbolischen Macht, als die er den Staat ja auch beschrieben hat.
Ihm ging es grundsätzlich um die Verantwortung staatlicher Institutionen und Prozesse für die Regulierung des Allgemeinwohls, er war auch kein Anarchist, sondern vertrat letztlich eine klassisch linkssozialdemokratische Position. So gesehen war er auch in seinen analytischen Positionen um einiges radikaler als in den politischen.
Aber noch etwas: Neoliberalismus und starker Staat haben sich historisch allerdings auch bloß in der neoliberalen Doktrin, nicht aber in der Praxis gegenseitig ausgeschlossen. Das widerspricht sich also überhaupt nicht. Eine neoliberale Wirtschaftspolitik wurde planmäßig erstmals ab 1975 unter der Militärdiktatur Pinochets in Chile durchgeführt. Über die ganzen 1980er Jahren hinweg haben die Vertreter neoliberaler Ökonomie mit den Konservativen und Neokonservativen politische Bündnisse gepflegt. Auch Thatchers Zerschlagung der Gewerkschaften war ja durchaus ein geplanter, autoritärer Akt.
In den 1990er Jahren wurden dann die Verbindungen mit der so genannten Neuen Sozialdemokratie wichtiger und politisch einflussreicher. Unter dem Banner der Modernisierung wurde, etwa im Schröder-Blair-Papier (1999), zwar die "Marktgesellschaft" offiziell abgelehnt, aber dann wurde sie praktisch doch durchgesetzt mit der Deregulierung der Arbeitsmärkte und der "Reform" der Sozialsysteme.
Lassen Sie uns nochmal zurückgehen. Wie hat sich der Staat in den vergangenen Jahrzehnten verhalten?
Jens Kastner: Auf Druck der neoliberalen Kräfte und lange Zeit im Einverständnis mit großen Teilen der Bevölkerungen sind doch wesentliche Bestandteile des westlichen Wohlfahrts- oder Sozialstaates abgebaut und zurückgefahren worden. Das geschah aber nicht gegen den Staat, sondern letztlich unter seiner Regie, weil die Neoliberalen sich im Feld der Macht nahezu überall durchsetzen konnten. Auch diese Umstrukturierungen gingen mit transformierten Denk- und Wahrnehmungsweisen einher, spielten also nicht nur auf der Ebene der staatlichen Apparate und seines Personals.
Wie meinen Sie das?
Jens Kastner: Die ständige Verfügbarkeit als Arbeitskraft, die Auflösung der Grenzen von Arbeit und Freizeit, der Flexibilitätsimperativ, das Fördern-und-Fordern - dass das alles über weite Strecken akzeptiert worden ist, ist ja historisch relativ neu. Hätten Sie einen Arbeiter oder eine Arbeiterin in den 1960er Jahren gefragt, was das Wort "Reform" bedeutet, wären sie niemals auf die Idee gekommen, damit Austeritätspolitiken zu verbinden oder mit dem Wort "Besitzstandswahrer" die Gewerkschaften. Da steckt schon eine kontinuierliche Arbeit an der Sprache und am Denken dahinter. Die "geistig-moralische Wende", für die Helmut Kohl 1982 an- und eingetreten war, erwies sich leider nicht als leere Drohung.

Staatsversagen

Könnte man von einem Staatsversagen sprechen?
Jens Kastner: Man könnte natürlich argumentieren, dass vom Staat ohnehin nichts anderes zu erwarten ist, als dass er den herrschenden Interessen dient. Aber das ist, denke ich, eine vereinfachende Vorstellung. Im Staat haben sich letztlich immer auch emanzipatorische Effekte sozialer Kämpfe manifestiert, auch wenn die radikalen Forderungen dabei in der Regel auf der Strecke blieben. Manchmal braucht es aber vielleicht auch gesetzliche Regulierungen wie etwa die Frauenquote, wenn man nicht weitere 50 Jahre feministische Bewusstseinarbeit für die Gleichstellung investieren will.
Aber der Rückzug des Staates aus den Sozial-, Kultur- und Bildungsbereichen bei gleichzeitiger infrastruktureller Aufrüstung der so genannten Investitionsstandorte, das ist von einem linken Standpunkt aus unbedingt als Staatsversagen zu interpretieren. Und zwar weil hier ohne Not Kompetenzen und Macht abgegeben wurden, die vorher zumindest formal noch öffentlicher Kontrolle unterlagen.
Und selbst von einem libertären, also prinzipiell staatskritischen Standpunkt aus lässt sich ein Versagen beklagen, wenn man die republikanischen Staatsapparate an ihren eigenen Ansprüchen misst. Die Entwicklung des so genannten Freihandels ist ja nicht nur im Hinblick auf die entstandene Armut und die ausgeweitete soziale Ungleichheit, sondern auch demokratiepolitisch gesehen eine Katastrophe.

Die Politik der Haushaltssanierung und gegen die "Staatsverschuldung" hat die Umverteilung von unten nach oben bewirkt

Was hätte von staatlicher Seite getan werden müssen, um den gesellschaftlichen Verwerfungen entgegenzutreten?
Jens Kastner: Die Politik der Haushaltssanierung und gegen die "Staatsverschuldung" hat letztlich eine Umverteilung von unten nach oben bewirkt. Auch die Schulden wurden privatisiert. Die Grundlagen für die neoliberale Schuldenökonomie wurden - wie der Soziologe Maurizio Lazzarato hervorgehoben hat - durch die Privatisierung der Sozialversicherungssysteme und die Individualisierung der Sozialpolitik gelegt.
All das hätte abgewendet werden müssen. Denn, und in dieser Hinsicht argumentiert Lazzarato ganz ähnlich wie Bourdieu, die private Verschuldung verhindert die selbstbestimmte Gestaltung der Zukunft und zerstört Solidarität. Lebensentwürfe werden sinnlos und statt gegenseitiger Hilfe wird das Ausstechen von Konkurrenten gefeiert.
Letztlich hätte grundsätzlich der Einführung der Unternehmenslogik in die sozialen Beziehungen politisch begegnet werden müssen, anstatt sie opportunistisch aufzugreifen und auch noch finanziell zu belohnen. Aber anstatt sich den Verwerfungen zu stellen, wird - glücklicherweise mit zunehmendem Widerstand - diese Politik noch verschärft, wie wir es an den systematischen Kürzungen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich, die die deutsche Bundesregierung jetzt in Griechenland durchsetzt, noch einmal paradigmatisch vorgeführt bekommen.

Wie sieht staatlicher Rassismus heute aus?

Nochmal zu der Frage: Wie verhält sich der Staat heute? Was beobachten Sie?
Jens Kastner: Wie schon gesagt, es gibt einerseits seit drei Jahrzehnten diesen Rückzug zu beobachten, andererseits ist das natürlich auch kein einheitlicher Prozess und die Zerstörungen, die der Neoliberalismus bislang angerichtet hat, sind in Großbritannien oder in Mexiko weitaus größer als etwa in Österreich.
Aber staatliche Regulierung und Privatisierung schließen sich nicht aus. Die Migrationspolitik ist das beste Beispiel dafür. Hier gehen Verschärfungen der Asylgesetzgebung und die Auslagerung der Grenzsicherung an die Frontex-Agentur Hand in Hand. Die Vereinbarkeit von staatlicher Regulierung und Privatisierungen gilt also auch für den europäischen Rahmen, in dem ein "Staatsapparate-Ensemble" entstanden ist, wie der Politologe Jens Wissel das in einer aktuellen Studie genannt hat, in dem um die Verteilung von Kompetenzen und Ressourcen gerungen wird.
Lassen Sie uns auf das Feld der Macht fokusieren. In einer Ihrer Aufsätze schreiben Sie: "Mit seiner Warnung davor, staatliche Kategorien in den soziologischen Analysen zu übernehmen, deutet Bourdieu an, dass der Staat selbst nicht neutral ist. Die Konstituierung des Feldes der Macht geschieht bereits als ein Spiel, in dem der Kampfplatz, die Mittel des Kampfes und dessen Ziele voneinander durchdrungen sind." Was heißt diese Erkenntnis für ein kritisches Staatsverständnis? Und was bedeutet die Aussage im Hinblick auf aktuelles staatliches Handeln?
Jens Kastner: Für ein kritisches Staatsverständnis geht es zum einen erst einmal darum, diese verschiedenen Ebenen (analytisch) auseinander zu halten, auch um die (politische) Distanz überhaupt zu ermöglichen. Wenn es um Staatskritik geht, sollte es zwar einerseits immer um das prinzipielle Monopol symbolischer Macht, also um Herrschaftsverhältnisse gehen.
Andererseits geht es aber auch darum, konkrete Akteure, Apparate und Praktiken in den Blick zu nehmen. Und hier können sich ja durchaus widersprüchliche Konstellationen ergeben: Als die faschistischen Generäle putschten, haben 1936 in Spanien selbst die Anarchisten auf der Seite des republikanischen Staates gekämpft - und sie haben nebenbei auch noch eine Revolution auf den Weg gebracht.
Bourdieu jedenfalls hielt es angesichts der "neoliberalen Offensive" für sehr angebracht, republikanische Errungenschaften zu verteidigen, letztlich sicherlich auch, um sie ausweiten zu können. Dennoch wurde die Verteidigung des Staates durchaus als Dilemma wahrgenommen, von den Anarchisten 1936 wohl noch um einiges drastischer als von Bourdieu in den 1990ern Jahren.
Die Flüchtlingskrise bringt auch das Thema Rassismus wieder in den Vordergrund. Doch Rassismus geht nicht nur von einzelnen Menschen aus. Bourdieu hat die These eines staatlichen Rassismus aufgestellt. Sie haben sich einmal anhand der deutschen Asylgesetzgebung mit dem Phänomen des staatlichen Rassismus auseinandergesetzt. Wie sieht staatlicher Rassismus heute aus und wen trifft er?
Jens Kastner: Mittlerweile ist man ja auch im deutschsprachigen Raum dazu übergegangen, Diskriminierungen, die auf ethnisierenden Zuschreibungen beruhen, als Rassismus zu bezeichnen. Das war Anfang der 2000er Jahre durchaus noch nicht so, Fremden- oder Ausländerfeindlichkeit schon, aber Rassismus, der Begriff wurde im Grunde der Zeit und der Politik des Nationalsozialismus vorbehalten.

Rassismus hat immer etwas mit Machtverhältnissen zu tun

Rassismus muss aber breiter aufgefasst werden?
Jens Kastner: Rassismus ist auf jeden Fall vielgestaltig und hat auch Konjunkturen. Man darf sich ihn nicht bloß in Form der Nürnberger "Rassegesetze" vorstellen. Fahren sie einmal mit dem Nachtzug bloß über innereuropäische Grenzen, wo ja zumindest formal noch die Reisefreiheit für alle EU-Bürger gilt: Aber je dunkler ihre Haar- und Hautfarbe, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach dem Pass gefragt und durchsucht werden. Die Grenzpolizei ist darauf trainiert, mit Blicken zu kategorisieren und daraufhin Ungleichbehandlungen durchzuführen.
Konjunkturen heißt auch, dass es unterschiedlich scharfe Formen von Rassismus gibt, die sich zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedene Objekte heften. Die Rassismen etwa, denen die ersten "Gastarbeiter" aus Italien oder Portugal in Deutschland ausgesetzt waren, sind fast völlig verschwunden. Aber es gibt natürlich auch rassistische Kontinuitäten, vor allem wahrscheinlich im Hinblick auf den Rassismus gegenüber Roma.
Obwohl auch Opfer des Nationalsozialismus, gibt es gegenüber den Roma kaum eine Gnade: Sie können in Frankreich von öffentlichen Plätzen vertrieben und abgeschoben werden, obwohl sie EU-Bürger sind, und es regt sich kaum Empörung. Gegen die Roma findet gesamteuropäisch betrachtet wohl das Ineinandergreifen von institutionellem und alltäglichem Rassismus seinen krassesten Ausdruck.
Rassismus, das ist auch wichtig zu betonen, hat immer etwas mit Machtverhältnissen zu tun. Er bringt ein Verhältnis von - sicherlich phantasmatischer, aber natürlich auch in die Institutionen einer postkolonialen Weltordnung gegossene - Über- und Unterordnung zum Ausdruck, baut auf ungleicher Ressourcenverteilung auf und reproduziert sie. Deshalb hat es auch mit Rassismus nicht zu tun, wenn Deutsche in Österreich als "Piefkes" beschimpft werden.
Wie erklären Sie sich die Gewalt, den Hass, die Wut, die derzeit gegen Flüchtlinge zu erleben ist? Was sagt eine kritische politische Soziologie dazu?
Jens Kastner: Als die ersten Flüchtlinge Anfang September in großen Gruppen hier in Wien und dann in München ankamen, wurden sie beklatscht. Sicher, man hat dann gleich eine "Willkommenskultur" herbeigeschrieben, die es wohl weder im Alltag geschweige denn institutionell gibt, aber dennoch waren das außergewöhnliche Momente. Anfang der 1990er Jahre wäre das noch absolut undenkbar gewesen.
Gleichzeitig hat zwar die pure Gewalt gegen Flüchtlinge auch wieder Dimensionen erreicht, die an die frühen 1990er Jahre erinnert, aber die ist meines Erachtens diesmal nicht Ausdruck einer relativ homogenen, dominanzgesellschaftlichen Ablehnung, sondern ein Zeichen zunehmender gesellschaftlicher Spaltungen.
Letztlich ist die Gewalt, denke ich, einer Haltung geschuldet, die für die eigene Verlustangst (oder auch die realen eigenen Verluste) immer andere, noch Schwächere verantwortlich machen will. Und das funktioniert meines Erachtens nur (oder besonders gut) vor dem Hintergrund eines Menschenbildes, das davon ausgeht, es stünde diesen anderen auch nicht zu, was man für sich selbst beansprucht. Das heißt, es impliziert eine Vorstellung von Höher- und Minderwertigkeit, die mit der Zugehörigkeit zu einer Nation verbunden wird, zumal einer, die letztlich immer noch offiziell weitgehend nach dem Prinzip der Blutsverwandtschaft geregelt ist.
Seit ich denken kann, weist man von links nach, dass "die Ausländer", die Flüchtlinge etc. "uns" in Wirklichkeit gar nicht die Arbeitsplätze wegnehmen, aber es scheint nicht zu fruchten. Es handelt sich bei rassistischen Haltungen offenbar um habituelle Dispositionen, die staatlich abgesichert werden. Und dies auch dann noch, wenn der moderne Rechtsstaat für sich beansprucht, eine solche Absicherung nicht zu gewährleisten.
Das bedeutet natürlich weder, dass jedes Mitglied eines europäischen Nationalstaats rassistisch ist, noch bedeutet es, dass die Mitgliedschaft davor schützt, Rassismus ausgesetzt zu sein: Schwarzen Deutschen wird ihr Personalausweis wenig nützen, wenn sie nachts einer Horde Faschos begegnen und Jimmy Hartwig oder Gerald Asamoah wurden im Stadion auch rassistisch beschimpft, obwohl sie Nationalspieler waren.
Was eine kritische politische Soziologie dazu sagt, kann ich nicht beantworten. Es gibt ja eine sehr lebendige und interventionistische Migrationsforschung im deutschsprachigen Raum, aber die ist meiner Wahrnehmung nach eher aus den sozialen Bewegungen und Flüchtlingsprotesten entstanden und vor allem auch transdisziplinär, und weniger im Zentrum der akademischen Soziologie zu verorten. Was die politischen Inhalte dieser Migrationsforschung angeht, das auszuführen ginge vielleicht hier zu weit; ich verweise stattdessen mal auf ein relativ neues Forum, das movements journal.
Der Soziologe Heinz Bude hat vor kurzem in der FAZ einen bemerkenswerten Artikel verfasst, in dem er darlegt, dass in Deutschland Personen aus unterschiedlichen Milieus, mit unterschiedlichen Bildungshintergründen, in prekären Verhältnissen leben. Dieses Phänomen gibt es sicher schon länger und Bourdieu hat sich in seiner Arbeit auch intensiv mit der Prekarisierung auseinandergesetzt. Wie betrachten Sie die prekären Lebensverhältnisse im Zusammenhang mit dem Handeln des Staates?
Jens Kastner: Bourdieu hat sich in "Das Elend der Welt" der Prekarisierung gewidmet und auch einen Vortrag mit dem programmatischen und mittlerweile viel zitierten Titel "Prekarität ist überall" (1997) gehalten. Darin wendet er sich einerseits gegen die Dogmen der neoliberalen Ökonomie, stellt sich aber andererseits die Frage nach der Mobilisierungsfähigkeit der Prekarisierten. Hier kommt er zu deutlich pessimistischeren Antworten als andere Theoretiker, die sich mit diesen Fragen beschäftigt haben.
Grob gesagt meinte Bourdieu, wem die Kontrolle und Gestaltungsmacht über die eigene Gegenwart genommen wird, der oder die ist ganz sicher nicht für ein Projekt gesellschaftlicher Erneuerung zu gewinnen oder gar dessen Auslöser. Das entspricht im Grunde Heinz Budes Analyse, denn Bourdieu ging es ja um emanzipatorische Mobilisierungen, und was Bude beschreibt, ist ja eher das Gegenteil: also regressive und ressentimentgeladene Proteste derjenigen, die sich auf verschiedenen Stufen der sozialen Hierarchie um den Lohn ihrer ursprünglichen Erwartungen gebracht sehen.