"Staatsschulden sind ein Indikator für ein Sozialismusdefizit"

Peter Sloterdijk verführt Gabor Steingart und Thorsten Riecke zu sozialistischem Denken

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Der Abschied vom Homo oeconomicus hat in Deutschland längst stattgefunden. Kein Professor oder Publizist, kein Politiker und Moderator wagt es mehr, öffentlich an die heilsamen Wirkungen des Eigennutzes zu appellieren. Aber was kommt danach?

Handelsblatt-Chefredakteur Steingart, HB-Kommentator Riecke und philosophischer Quartettist Sloterdijk haben in einem lesenswerten und fast buchlangen Dialog das Diskussionsfeld von Schuld, Bankstern und Staatsschulden um einige Dimensionen erweitert.

Auf den ersten Blick geht es in dem Dialog um die Schuld an der Schuldenkrise. Sloterdijk mit diebischer Freude an Widerspruch: "Zunächst ist immer der Schuldner der Schuldige." Dieser, so zeigt Sloterdijk am Beispiel der Amerikaner, habe oft von vorneherein keine "ernste Tilgungsabsicht". Deshalb sollte gegenüber jeder Bankfiliale ein Inkassobüro liegen. Steingart und Riecke ergänzen, die Tilgungsabsicht sei von der Tilgungsillusion ersetzt worden, die durch die ständige Umwälzung der Schulden genährt werde.

In der Tat, Rettungspakete werden bereits seit Jahrzehnten geschnürt. Ihr einziger Zweck: Zur Tilgung von Altschulden neue aufzunehmen. Da die Banken in diesem Zyklus nur ein Mittler sind, der ausdrücklich von den Staaten beauftragt wird, Staatsanleihen in Auktionen auf angeblichen "Märkten" abzusetzen, wozu sie diese zuvor selbst übernehmen müssen, wofür ihnen wiederum die Hinterlegung durch Eigenkapital erlassen wird, können sie wohl kaum Urheber der Finanz- und Schuldenkrise sein.

Diese Feststellung ist in dieser Form neu. Auch in der Subprime-Krise haben nur wenige Analysten erwähnt, dass die Lockerung der Bonitätsansprüche an die Häuslebauer in amerikanischen Vororten von der US-Regierung ausdrücklich gefördert und gefordert wurde. Die Verstaatlichung von Freddie Mac und Fannie Mae war dann der kulminative Schlusspunkt einer der wahnwitztigsten Utopien der kapitalistischen Gesellschaft, nämlich die Vision, jeden Bürger zum Grundherren zu machen. Dieser Motivation ist wohl schwer Profitgier und Eigennutz zu bescheinigen.

Sloterdijk nun entwirft zur Heilung des Schuldenstaates die Idee einer von ihm als "psychopolitische Wende" bezeichneten Umwandlung der lästigen Pflichtabgabe von Steuern in eine freiwillige Gabe. Die Umverteilung nämlich, so Sloterdijk, verleide die Lust am Geben und degradiere die Nehmenden. "Die Währung Anerkennung ist das psychopolitische Fluidum, das bei so monströsen Großgesellschaften als einziges halbwegs zuverlässiges Medium für demokratische Kohärenz übrigbleibt", sagt Sloterdijk in seiner schwer übersetzbaren, verschrobenen Intellektualität, die ihn davor schützt, viel in Bild und Stern zitiert zu werden.

Diese, auf den ersten Blick radikal marktliberale Position, die offensichtlich auch Steingart und Riecke entzückt, wird aber zum Entsetzen der Marktliberalen von Peter Sloterdijk als Sozialismusdefizit sogleich der Marktideologie entzogen.

Unter Berufung auf den nur in Fachkreisen bekannten Ökonomen Wilhelm Röpke (1899-1966) "Jenseits von Angebot und Nachfrage" versuchen nun Steingart und Riecke, das Soziale und Solidarische als "Empathie" wiederum der individuellen Tugend zuzurechnen. Der "Giving pledge" von Gates und Buffett erscheint dann als elementare bürgerschaftliche Tugend der Sozialen Marktwirtschaft. Allerdings wird so nicht erklärbar, warum trotz der vorhandenen und im Lastenausgleich 1952 erfolgreich getesteten Empathie die Soziale Marktwirtschaft nahtlos in den Selbstbedienungsladen der Subventionen und Steuergeschenke überging, ohne dass die Regierungs- und Oppositionsparteien CDU und FDP dagegen protestiert hätten.

Das Misstrauen gegen die Bürger, diese könnten möglicherweise nicht bereit sein, Mehrausgaben durch höhere Abgaben und Steuern unter eigenen Opfern mitzutragen, ist heute auch unter Grünen und Piraten mehrheitlich verbreitet.

Das Ergebnis ist eine Politik, die den Bürgern nichts abverlangt und in ihnen die trügerische Illusion weckt, selbst eine schwere Finanzkrise sei am besten durch Nichtstun zu bewältigen. Ein Schnupfen, der vorübergeht.

Sloterdijk, der mit seinen wirtschaftspolitischen Thesen gegen Wohlfahrtsstaat und Steuerbelastung gerne den Marktliberalen zugerechnet wird, ist zu listig, um sich auf das Spiel der heimlich noch immer auf Marktfreiheit hoffenden Ökonomen einzulassen:

Das Sozialismusdefizit drückt sich präzise aus im Ausmaß der Staatsverschuldung. In der Zeit des blühenden Rheinischen Kapitalismus war die Staatsverschuldungsquote niedrig, weil unter konservativen Regierungen der Semi-Sozialismus besser funktioniert. Die Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard umschreibt dieses Konzept auf so sonore Weise, dass auch Konservative es sich gefallen lassen. In Wahrheit leben wir längst in einem massenmedial integrierten, fiskalisierten Semi-Sozialismus auf der Grundlage einer zinsgetriebenen Ökonomie, die viele Leute Kapitalismus nennen.

Sozialismus in diesem Sinne ist eine vom Staat geförderte und organisierte Empathie seiner Bürger mit den Anliegen der Gemeinschaft. Sein einziges Ziel ist die Kostendeckung der Opportunitätskosten in Sicherheit, Bildung, Gesundheit und Sozialem und seit neuestem Umwelt. Wer hätte gedacht, dass die Gebrüder Holtzbrinck - der in Berlin-Kreuzberg geborene Steingart ist übrigens Absolvent der Holtzbrinck-Journalistenakademie - dereinst solche Thesen veröffentlichen würden?

Die ganz offensichtlich in dem Gespräch nicht nur vom Provokateur Sloterdijk, sondern auch von seinen Interviewern Steingart und Riecke vertretene These, die Menschen seien geselliger und solidarischer, als es ihnen von ihren Verwaltern und Interpreten zugestanden werde, scheint gerade in liberalen und konservativen Kreisen als Rettungsanker zu dienen. Die nachhaltig entfremdete Leistungsgesellschaft kann nämlich nun auf die Gnade jener hoffen, die an ihr jahrzehntelang verzweifelten.

Diese Vergebung gelang bereits 1990 in der deutschen Wiedervereinigung, in der nicht die Westdeutschen den Ostdeutschen den realen Sozialismus vergaben - dieser wird nämlich immer wieder als warnendes Beispiel hervorgekramt -, sondern die nicht-sozialistischen Ostdeutschen ihren linientreuen Schwestern und Brüdern.

Nun können wir nicht-ökonomischen Deutschen unseren Ökonomiefanatikern vergeben.

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