Stadt der Ratten
Das düstere "Dishonored" lässt Spielern viele Freiheiten
Die Voraussetzungen könnten kaum besser sein: Hinter "Dishonored" steht das Trio Harvey Smith (Deus Ex, Thief: Deadly Shadow), Raphaël Colantonio (BioShock 2, Arx Fatalis) und Viktor Antonov (Half-Life 2). Kann das Actionspiel aus den französischen Arkane Studios halten, was es verspricht?
Game-Designer benutzen unterschiedlichste Methoden, um ihr Werk attraktiver zu machen. Eine davon ist, dem Spieler Einfluss auf den Handlungsverlauf zu geben. Je bedeutender die Auswirkungen seiner Entscheidungen sind, desto mehr wird sich der Spieler als Handlungssubjekt ernstgenommen fühlen.
Wer über player autonomy diskutiert, kommt an Titeln wie Deus Ex, Mass Effect oder Heavy Rain nicht vorbei: Sie alle haben gezeigt, wie sich spielerische Freiheit mit einer spannenden Story kombinieren lässt. Anfang 2012 war es ausgerechnet ein Point-and-Click-Adventure, das die Handungsautonomie in den Mittelpunkt rückte. In den Dialogen von The Walking Dead muss man sich unter Zeitdruck für eine von mehreren Antworten entscheiden: Manchmal geht es dabei um Leben und Tod, manchmal aber auch darum, ob man sich in Widersprüche verstrickt und künftig mit Misstrauen betrachtet wird. Das Spiel ist eine permanente Gratwanderung - und gerade deshalb hochgradig spannend.
Während The Walking Dead die Entscheidungen des Spielers unter Zeitdruck einfordert, geht Dishonored: Die Maske des Zorns einen anderen Weg. Hier hat man fast immer genügend Zeit, die unterschiedlichen Handlungsoptionen zu prüfen - für welche man sich entscheidet, ist letztendlich vor allem eines: Geschmackssache. Ob man einem Gegner schleichend ausweicht, ob man ihn listig in eine Falle lockt oder mit brachialer Gewalt ins Jenseits befördert: Dishonored gibt dem Spieler die Möglichkeit, das zu tun, was er für richtig hält. Zwar sind die Auswirkungen der Spielweise durchaus spürbar - auf einen Verhaltenskodex verzichten die Macher aber ganz bewusst. "Die Moral hängt in gewisser Weise vom Spieler ab und davon, was er über seine Taten denkt", sagtRaphael Colantonio vom französischen Entwickler Arkane Studios.
In Dishonored übernimmt der Spieler die Rolle des kaiserlichen Leibwächters Corvo Attano in der pestgeplagten Stadt Dunwall. Als die Kaiserin bei einem Anschlag stirbt und ihre Tochter entführt wird, schiebt man Corvo die Schuld in die Schuhe - er wird ins Gefängnis geworfen und soll hingerichtet werden. Gerade noch rechtzeitig verhelfen Untergrundkämpfer dem Ex-Bodyguard zur Flucht - fortan soll er in ihrem Auftrag die neuen Machthaber einen nach dem anderen beseitigen.
Für dieses düstere Szenario liefert Dunwall die passende Kulisse: Eine schmutzige, lebensfeindliche Hafenstadt, die ihren Energiebedarf mit dem Öl erbeuteter Wale stillt. Ein Großteil der Bevölkerung wurde bereits von der Seuche dahingerafft, manche Bewohner sind zu zombieartigen "Weinern" mit blutenden Augen mutiert. Gefahr droht auch von den aggressiven Rattenschwärmen, die ihre Opfer bis auf die Knochen abnagen, und von blutdürstigen Hyänenhunden.
Die Obrigkeit regiert die Stadt derweil mit eiserner Faust: Überall wimmelt es von Wachen, die rigoros den Durchgang versperren; schwerbewaffnete Soldaten machen auf Stelzen Jagd nach Seuchenopfern; die Stadttore sind mit walölbetriebenen Laserschilden blockiert. Statt von Steampunk kann man hier von "Oilpunk" sprechen - vermengt mit Einflüssen des viktorianischen Zeitalters und des Rokoko. Dunwall erinnert entfernt an die City 17 aus Half-Life 2 - kein Wunder, wurden beide Städte doch von Artdesigner Viktor Antonov entworfen.
Eine offene Spielwelt à la GTA bietet Dishonored nicht. Stattdessen finden die Missionen in fest umgrenzten Bezirken statt, die wiederum in mehrere Spielabschnitte unterteilt sind. Corvo erhält seine Aufträge im Hauptquartier der Untergrundkämpfer, einem alten Pub zwischen zerfallenden Hafendocks - von hier aus bringt ihn ein Bootsmann an die entsprechenden Einsatzorte. In seinem ersten Einsatz soll Corvo den korrupten Gefängnisaufseher Campbell ermorden - schon hier darf der Spieler wählen, ob er den direkten Weg über den streng bewachten Clavering Boulevard nimmt oder sich durch Nebengassen vorarbeitet, wo allerdings die berüchtigte "Bottle Street Gang" ihr Unwesen treibt.
Jede Mission enthält optionale Teilaufgaben, deren Erledigung mit Geld oder Ausrüstungsgegenständen belohnt wird. In der Campbell-Episode etwa kann Corvo auch die illegale Destillerie der Bottle Street Gang sabotieren, das Labor eines Wissenschaftlers nach Ratteneingeweiden durchsuchen oder der unheimlichen Lumpengräfin gegen aufdringliche Verehrer beistehen.
Dass Dishonored keine offene Spielwelt besitzt, macht durchaus Sinn: Die zentrale Herausforderung besteht ja gerade darin, schwer bewachte Engpässe zu meistern. Der Spieler erhält dafür eine ganze Reihe nützlicher Werkzeuge, die er - ganz im Sinne der erwähnten Handlungsautonomie - nach Belieben einsetzen kann. Das herkömmliche Waffenarsenal - Armbrust, Säbel und viele andere Mordwerkzeuge - wird ergänzt durch magische Fähigkeiten, die Corvo gleich zu Beginn des Spiels von einem mysteriösen "Outsider" nahegebracht werden. Für Magie benötigt Corvo Runen, die mal mehr, mal weniger gut versteckt über die Level verteilt sind. Die Kombination herkömmlicher und magischer Waffen eröffnet dem Spieler weitreichende Handlungsmöglichkeiten: So kann er eine Schusswaffe abfeuern, dann die Zeit anhalten, vom Körper eines Feindes Besitz ergreifen und diesen schließlich in den Kugelhagel steuern. Auch in die Körper von Ratten und Hunden kann Corvo vorübergehend schlüpfen, wenn es Wachen auszutricksen und schwer zugängliche Orte zu erreichen gilt. Das Zusammenspiel der Kräfte ist jedoch nicht optimal ausbalanciert: Die Fähigkeit zur Teleportation erweist sich auf Dauer als zu mächtig.
Stadt der Ratten (7 Bilder)
Schon im Vorfeld der Veröffentlichung betonten die Entwickler immer wieder, man könne Dishonored auch völlig gewaltfrei durchspielen - eben durch geschicktes Schleichen, Klettern und Teleportieren. Allerdings werden nur die wenigsten Spieler diesen überaus anspruchsvollen Weg gehen, die meisten werden auf einen Mix aus Tarnung und Angriff setzen.
Wie bereits erwähnt, enthält sich Dishonored jeder moralischen Einordnung - gleichwohl steigert exzessive Gewalt das angezeigte Chaos-Niveau in Dunwall: Rattenschwärme tauchen häufiger auf, die Stadt ist strenger bewacht und die Atmosphäre noch düsterer; auch das Ende des Spiels hängt vom angerichteten Chaos ab.
Alles in allem reicht Dishonored nicht ganz an Spiele wie Bioshock oder Half-Life 2 heran. Das liegt vor allem an der vergleichsweise dünnen Handlung, die nach dem Motto "Gehe dorthin, töte diesen Bösewicht" abläuft. Die auftretenden Charaktere sind zwar markant gestaltet, erreichen aber nie die emotionale Tiefe einer Alyx Vance oder eines Andrew Ryan. Die größten Stärken von Dishonored sind das variable Gameplay und die fantastische Atmosphäre der Stadt Dunwall: Schon das reicht, um Dishonored zu einem der spannendsten Spiele des Jahres zu machen.
Dishonored ist für PC, PS3 und Xbox 360 erschienen. Die PC-Fassung erfordert eine Registrierung über Steam.
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