Städte brauchen Gefühl: Für eine Architektur mit Atmosphäre

Seite 2: Gentrifizierung, Betongold oder Großprojekt: Es geht anders

Und wie sich diese Praktiken mit den heute ohnehin als heterogen anzunehmenden traditionalen Bezügen der Bewohner vermitteln. Wenn Stichworte wie Gentrifizierung, Betongold oder Großprojekt die zeitgenössische Stadtentwicklung kennzeichnen, scheint es überfällig, daran zu rütteln.

"Berlin in Abriss" hieß eine epochale Ausstellung, mit der vor vierzig Jahren an der Spree vehement eine neue Stadtwahrnehmung eingefordert wurde. Ihr Kurator Janos Frecot verwahrte sich gegen vornehmlich utilitaristische Betrachtungsweisen:

Dem steht das Bild der Stadt als Lebendiges, als Gestalt und Geflecht gegenüber. Wenn wir Leben nicht als Meßlatte für buchbare Erfolge, wenn wir Wissenschaft weder als Faktenakkumulierung noch als abgehobene Ideengeschichte, sondern als Teil des Geflechts aus Hoffnung, Angst und Traum erfahren haben, werden wir die Stadt als leibliche Gestalt erleben.

Janos Frecot

Damit wird etwas adressiert, was sich auch mit dem Begriff der Atmosphäre umschreiben ließe. Geht es doch um etwas, das sich im Zwischenraum von architektonischer Objektwelt (was aus dem Arrangement der Dinge strahlt) und subjektivem Raumerlebnis (dem Reflex von Stimmungen und Affekten) konstituiert.

In seinem – mittlerweile zum Klassiker avancierten – Buch Atmosphäre hat der Philosoph Gernot Böhme festgehalten:

In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde. Diese Wahrnehmung hat also zwei Seiten: auf der einen Seite die Umgebung, die eine Stimmungsqualität ausstrahlt, auf der anderen Seite ich, indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, dass ich jetzt hier bin.

Gernot Böhme

Die Atmosphäre ist auf eine unbestimmte Art in den Raum ergossen. Nachgegangen werden kann ihr nur, indem sie erfahren wird. Man muss sich ihr aussetzen und affektiv von ihr betroffen sein.

Um auf die Rolle der Architektur zurückzukommen: Abstrakte Schönheit und kühle Rationalität herzustellen, war, zumindest implizit, eine Absicht der klassischen Moderne; ein Vorsatz jedoch, der sich mit den Grundbedürfnissen des Menschen nicht recht zu vertragen scheint.

In der dünnen Höhenluft ästhetischer Sphären hält es der Normalbürger nicht lange aus. Atmosphäre ist schon deshalb ein zentraler Begriff, weil er diesbezüglich ein Defizit benennt. Denn es sind nicht ideale Proportionsverhältnisse wie der Goldene Schnitt und nicht der metrische, euklidische Raum, die den Menschen anrühren.

Es ist der Ort mit seinen Beziehungen und seiner Aura, der alle Sinne anspricht. Es ist die akustische Atmosphäre, die Stimmung des Lichts, der Farbe und der Materialien mit ihren sinnlichen Qualitäten, die zum Anfassen, Anfühlen animieren.

Ähnlich verhält es sich in der nächsthöheren Raumkategorie: Es heißt ja nicht zu Unrecht, die öffentlichen Räume formen das Gedächtnis der Stadt. Hinter dieser poetischen Formulierung verbirgt sich ein über die Jahrhunderte ausgebildetes westliches Stadtverständnis, das von der Prägekraft von Raumfiguren auf stadtgesellschaftliche Wirklichkeit ausgeht.

Wahr jedenfalls ist, dass in der Architektur die Fähigkeit zur Kooperation im Ensemble eine unabdingbare Voraussetzung für höhere Qualität darstellt. Und zwar nicht einfach nur im Sinne der umgebenden Bebauung, sondern im Sinne eines architektonischen Raums, der das menschliche Leben behaust.

Allerdings muss man sehen, dass Atmosphäre heute gerne auch anderweitig vereinnahmt wird: Nämlich als Grundbegriff des Entwerfens von postmodernen Gesamtkunstwerken, in denen Architektur mit anderen Disziplinen, etwa Szenografie oder Mediendesign, so verquickt wird, dass sie in die Konfektionierung von öffentlichen Raum-Bühnen einmünden.

Doch um die Propagierung solch‘ konsumstrategischer Ansätze ist es hier gerade nicht zu tun. Zumal sich – gerade in der Dimension städtischer Phänomene – Atmosphäre nur allmählich, über lange Prozesse aufbaut.

Was heißt das? Gegen den derzeitigen, ungehinderten Zugriff der Immobilienwirtschaft auf alles, was nicht niet- und nagelfest ist, müssen sich erneut Stadtbürger etwa mit Kunsthistorikern und Architekten solidarisieren.

Dabei geht es um die Verteidigung örtlicher und räumlicher Spezifika, die sich nicht allein an vermeintlichen Schönheitskonstanten orientieren, sondern an dem, was Architekten lernen: An Identifikationsangeboten, die für keine Epoche zuvor gelten können, weil sich sozioökonomische oder auch technisch-naturwissenschaftliche Kontexte nie wiederholen.

Das ist kein ästhetisierendes oder akademisches Blabla, sondern ein existenzielles Thema.