Statt Religion Kultur ändern - "wenn man das kann"
Nassim Nicholas Taleb hat Max Weber vom Kopf auf die Beine gestellt
Der bekannte Mathematiker Nassim Nicholas Taleb postuliert in einem aktuellen Aufsatz, dass das vom Soziologen Max Weber entworfene "Narrativ" eines Herabwirkens der Religion auf Kultur und Wirtschaft der "historischen Logik" widerspricht. Seiner Analyse nach transformieren theologische Änderungen keine Gruppen mit gemeinsamer Identität - vielmehr sondern sich diese Gruppen unter Zuhilfenahme theologischer Änderungen stärker von anderen Gruppen ab. Protestanten entwickelten ihre Arbeitsethik Talebs Ansatz nach nicht wegen der Prädestinationslehre: Sie hatten in der frühen Neuzeit eine Kultur entwickelt, die anders war, als die in Südeuropa.
Gruppenidentität und Abgrenzung
Für solch einen Zusammenhang zwischen Theologie und Kultur spricht seiner Ansicht nach, dass die theologischen Unterschiede oft marginal wirken und "ohne reale Substanz" sind - etwa der Streit über die leiblichen Präsenz Jesu in der Hostie, die Katholizismus und Protestantismus trennt. Oder die Frage, ob der Messias neben einer göttlichen auch eine menschliche Natur hatte, bei deren Beantwortung sich die ägyptischen Kopten von den griechischen Byzantinern abgrenzten.
Talebs "robuste Alternative" zur "marshmellowweichen Idee" Webers baut darauf auf, dass Menschen sich innerhalb der Gruppe imitieren, mit der sie sich identifizieren. Sie tendieren dazu, sich ähnlich zu kleiden, ähnlich zu frisieren und ähnlich zu verhalten. Je stärker eine Gruppenidentität wird, desto stärker wirken Tendenzen, sich abzugrenzen. Das kann zum Beispiel mittels religiös begründeter Speise- und Genussmittelverbote gehen, über die er in seinem Bestseller Skin in the Game schrieb und die dem Mathematiker zufolge "erfunden" werden. So sei etwa aus einer "eher vagen Empfehlung [im Koran], dem Schöpfer nicht betrunken gegenüberzutreten" ein Alkoholverbot geworden, mit dem sich die moslemischen Araber nach der Eroberung Bagdads zusätzlich von Christen und Zoroastriern abgrenzten.
"Eigentliche Bedeutungslosigkeit" der Theologie
Weil die theologischen Unterschiede Talebs Ansicht nach wenig außer dieser Abgrenzung bedeuten, können ganz unterschiedliche Kulturen ähnliche Theologien pflegen - zum Beispiel die Puritaner in Neuengland und die saudischen Wahhabiten. Die - wenn man so will - "eigentliche Bedeutungslosigkeit" der Theologie erlaubt es außerdem, dass sich Kulturen ändern können, obwohl die Theologien währenddessen praktisch unverändert bleiben: "Es waren katholische Gruppen", so Taleb, "die den mörderischen Albigenserkreuzzug durchführten, die Inquisition, die Bartholomäusnacht und Weiteres" - aber die Heilige Schrift blieb die gleiche "während der Inquisition, vor der Inquisition und jetzt".
Damit erklärt Taleb auch den Wandel der Kultur des sunnitischen Islam hin zu dem, was die Kultur des Katholizismus früher war. Das "Herangehen an Probleme" ändert sich dem Eindruck des gebürtigen Libanesen nach mit veränderten "Denkweisen". Und die wiederum ändern sich eher mit der Identität als mit der Theologie. Eine Schlussfolgerung, die der Mathematiker daraus zieht, ist, dass eine Änderung von Verhaltensweisen über eine Änderung der Theologie ein müßiges Unterfangen wäre. Stattdessen müsste man dafür "die Mentalitäten und kulturellen Normen ändern - wenn man das kann".
Sind Mathematiker die besseren Gesellschaftsforscher?
Die von Taleb postulierte Dynamik lässt sich auch auf Phänomene anwenden, die sich selbst nicht als Religionen betrachten, aber alle Voraussetzungen für eine entsprechende Einordnung mitbringen (vgl. Heilige Einfalt und Essen als Distinktionsinstrument). Mit dem Bestreiten ihrer Relativität stehen diese Phänomene nicht alleine: Jedes religiöse System formuliert dem Ethnologen Clifford Geertz nach Ideen einer allgemeinen Seinsordnung und umgibt sich mit einer "Aura von Faktizität": "Die [...] Präferenzen der Kultur werden dadurch objektiviert und erscheinen als Notwendigkeit".
Auf diese Weise können sowohl traditionelle als auch neue und "versteckte" Religionen ihren Anhängern etwas glauben machen, was für Außenstehende oft dem Verstand widerspricht. Statt darüber ergebnisoffen zu diskutieren, arbeiten ihre Vertreter häufig mit Tabus. Deshalb wurde dieses hochinteressante Forschungsfeld für Soziologen bislang von den eigentlichen Fachleuten noch so wenig erforscht, dass ein Mathematiker wie Taleb in einem fremden Revier viel Aufmerksamkeit erregen kann (vgl. Deutscher Hochschulverband kritisiert "Erosion der Debatten- und Streitkultur an Universitäten" und "Das Plattformgeschäft ernährt sich von Opfern wie ein blutrünstiger Gott").
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