Statt "Sex & Drugs & Rock’n’Roll" nun "Private Equity & Hedgefonds & Brands’n’Sponsoring"
Seite 3: "Wir erleben eine Segregation"
Welche neuen Geschäftsfelder haben sich die Konzert-Konzerne erschlossen?
Berthold Seliger: Neben der Entwicklung neuer gewinnbringenden Techniken beim Ticketverkauf, wie zum Beispiel "Slow Ticketing", Platin-Tickets oder "Dynamic Pricing", wie wir es von Fluglinien kennen, also lauter Möglichkeiten, die Ticketpreise dramatisch in die Höhe zu treiben und den Fans für jedes Konzert noch mehr Geld aus den Taschen zu ziehen, konzentrieren sich die Konzerne auf Sponsoring und Big Data. Und mit "Sponsoring" ist nicht mehr einfach ein Toursponsor gemeint, der dafür, dass er mit seinem Logo auf Plakaten und Tickets vertreten ist, eine gewisse Summe bezahlt.
Nein, heute sind die Konsumkonzerne in immer mehr Bereichen des Konzertgeschäfts involviert. Live Nation verkauft in Deutschland beispielsweise für gigantische Summen das exklusive Vor-Vorverkaufsrecht für die meisten Konzerte an eine Tochterfirma der Deutschen Telekom AG - während der ersten Tage des Vorverkaufs können Fans nur "Magenta Music Prio Tickets" erwerben, indem sie Kunden der Telekom sind oder dem Konzern ihre kompletten Daten überlassen. Damit wird der sogenannte "freie Markt" des Ticketverkaufs unterminiert, wir erleben eine Segregation.
Die sich übrigens in den Konzerthallen und Stadien fortsetzt - die wirklich guten Plätze bei Großkonzerten, die gerne mal 800 bis 1.000 Euro kosten, können sich ja nur noch die "happy few", also die Wohlhabenden und Reichen leisten, während bis weit in die 80er Jahre die Preise für alle Tickets gleich teuer waren, also eine gewisse Gleichheit unter den Konzertbesuchern herrschte.
Das Geschäftsmodell ist klar: die Konzertveranstalter geben die Attraktivität der Tickets ihrer populären Stars an Branding-Partner ab und lassen sich diesen Image-Transfer teuer bezahlen. Und die Zeche zahlen letztlich natürlich die Fans.
Hinzu kommt der immer größere Einfluss von Big Data. Die Konzertkonzerne sind ja gigantische Datensammler - sie verfügen nicht nur über die Adress- und Bezahldaten der Ticketkäufern, sondern sie saugen beispielsweise mit den NFC-Chips, die sich heute auf fast allen Festivalbändchen befinden, das komplette Konsumverhalten der Fans auf den Veranstaltungen ab, weil die Fans dort nur noch mit den NFC-Chips bezahlen können.
Die Veranstalter verfügen also über ein komplettes Bewegungs- und Konsumprofil aller Konzertbesucher, das sie mit den ohnehin gespeicherten Kunden- und Verkaufsdaten abgleichen können. Wir erleben den "gläsernen Fan". Wer hat uns verraten? Metadaten! Hier geht es um eine ganz neue Form des Überwachungskapitalismus. Und vergessen wir nicht: CTS Eventim zählt in Deutschland zu den drei größten E-Commerce-Anbietern (neben Amazon und Otto). Big Data ist ein gigantisches Zukunftsgeschäft.
"Wir erleben die kulturelle Ödnis marktgerechter Mainstreammusik"
Hat diese Art des Geschäftemachens Auswirkungen auf die Musik selber?
Berthold Seliger: Es ist wahrscheinlich noch zu früh, um das genau zu sagen. Aber man kann bereits eine Entwicklung absehen: Der "Mainstream", das Superstar-Geschäft wird immer stärker, und die kleineren, oft spannenderen und interessanten Bands haben es immer schwerer, zum Beispiel auf die großen Festivalbühnen zu kommen.
Und der "Humus" der Popkultur stirbt Stück für Stück, weil auch die Clubs, die unabhängigen örtlichen Konzertveranstalter und die soziokulturellen Zentren immer größere Probleme haben, überhaupt noch bestimmte erfolgreichere Bands zu buchen, die zunehmend von den Großkonzernen selbst veranstaltet werden - und wenn sie ihre kleinen und wirtschaftlich oft heikleren Konzerte nicht mehr mit erfolgreicheren Konzerten etablierter Bands querfinanzieren können, können sie sich die Aufbauarbeit irgendwann nicht mehr leisten. Damit stirbt die kulturelle Vielfalt, und wir erleben die kulturelle Ödnis marktgerechter Mainstreammusik.
Natürlich ist diese Strategie der Großkonzerne, die kleinen und jungen Bands zu ignorieren, nicht nur kulturell borniert, sondern langfristig gesehen auch ein Fehler. Denn die neuen Bands entstehen ja in aller Regel aus einer lebendigen Clubkultur. Auch die Rolling Stones haben ihre Karriere in den kleinen Clubs begonnen, Tom Jones hat seine ersten Konzerte in einem walisischen Arbeiterclub gespielt, die Beatles wurden zu den Beatles erst durch ihre Residenz im Hamburger Star-Club, und im New Yorker CBGBs hat die kulturelle Boheme New Yorks, von Patti Smith und Blondie über die Ramones bis hin zu den Talking Heads, ja geradezu gelebt.
Popkultur benötigt diese utopischen Räume - und sie benötigt Menschen, denen diese Utopien wichtig sind! Deswegen fordere ich ja einen umfassenden Kulturorte-Schutz, analog zum Denkmalschutz. Kulturelle Orte müssen gesichert und erhalten werden, und zwar sowohl faktisch, als Kulturräume, als auch wirtschaftlich, etwa durch Mieten, die sich nur analog zur Inflationsrate erhöhen dürfen.
Schauen Sie, es kommt ja auch niemand auf die Idee, Opernhäuser oder Philharmonien an private Investoren oder Fondsgesellschaften zu verschachern, die diese Musiktempel abreißen und statt ihrer dann Luxuswohnungen und teure Büros errichten. Die Clubs und Kulturzentren sind jedoch für die kulturelle Vielfalt, für die Kultur unserer Gesellschaft genauso wertvoll wie Philharmonien, Theater oder Opernhäuser, und sie müssen genauso geschützt werden. Dieses grundsätzliche Denken muss selbstverständlich werden. Es geht nicht an, dass wir um jeden einzelnen Club, der in seiner Existenz gefährdet ist, separat kämpfen müssen. Deswegen benötigen wir einen gesetzlichen Kulturorte-Schutz. Unsere Kulturorte sind nicht verhandelbar.
Inwiefern entspricht diese Entwicklung der aktuellen Ausprägung des Kapitalismus?
Berthold Seliger: Natürlich können und dürfen wir die Entwicklung im globalen wie örtlichen Konzertmarkt nicht getrennt von der aktuellen Ausprägung des Kapitalismus sehen. "Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts", hat Hanns Eisler gesagt.
Wir haben drei Jahrzehnte unseres Missvergnügens erleben müssen, in denen der sogenannte Markt zu einem Naturgesetz hochgejazzt wurde und die neoliberale Wirtschaftsweise zum Grundgesetz des Handelns. Und ein Konzern wie Live Nation ist ja eine Ausgeburt des Neoliberalismus, er konnte erst entstehen, als 1996 der von Milton Friedman und seinen Chicago Boys für Ronald Reagan konzipierte neoliberale "Telecommunication Act" in den USA Gesetz wurde und Firmen das "Media Cross-Ownership" erlaubte.
Dann erst konnte Clear Channel, eigentlich eine kleine texanische Radiostation, auf eine gigantische Einkaufstour gehen und sich für gut 30 Milliarden Dollar über 1.200 Radiostationen in den USA sowie etliche Konzert- und Tourneeveranstalter und Venues, aber auch Werbefirmen zunächst in den USA, dann auch weltweit einverleiben. Und aus diesem Konzern musste 2005 Live Nation, die Konzertsparte, aufgrund eines Beschlusses der US-Kartellbehörde herausgelöst werden.
Was Hoffnung macht: Der Neoliberalismus ist eben kein Naturgesetz, auch wenn es vielen Menschen heute leichter zu fallen scheint, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Nein, die Verhältnisse sind veränderbar. Mir scheint, es ist die Zeit für einen neuen moralischen Realismus gekommen. Wem gehört die Stadt, wem gehört die Kultur, wem gehört unser Leben? "Es gibt im Leben mehr als ein bisschen Geld", sagt Frances McDormand als Merge Gunderson in "Cargo".
Gerade in Zeiten der gnadenlosen Imperiengeschäfte ist das Konzept von freier, von unabhängiger Kulturarbeit wichtiger denn je. Es geht darum, der Mainstream- und Konsumkultur der Großkonzerne der Bewusstseinsindustrie etwas Substantielles entgegenzusetzen. Musik war immer auch eine Trägerin von Protest und von teilweise hedonistischen Gegenmodellen zur herrschenden Kultur. Musik ist, wie Herbert Marcuse sagte, die "große Kraft der Negation".
Darauf sollten wir uns besinnen und die Musik aus der Umklammerung der Großkonzerne befreien. Die Grundbedürfnisse des Menschseins dürfen nicht auf dem Altar des Profits geopfert werden - wir benötigen die Kultur zum Menschsein wie die Luft zum Atmen, das Wasser, das wir trinken, die Liebe, die wir leben, oder wie das Grundrecht auf menschenwürdiges Leben, auf Wohnen beispielsweise.
"Gralserzählung des Kapitalismus im 21.Jahrhundert"
Sie beschreiben in Ihrem Buch öfter Szenen aus der Fernsehserie "Breaking Bad". Was versinnbildlicht diese Serie in Bezug zu Ihrem Buch in besonderem Maße?
"Breaking Bad" zeigt die dunkle Seite des Kapitalismus amerikanischer Prägung in einer aus den Fugen geratenen Welt. Im heutigen "progressiven Neoliberalismus" geht es nicht mehr darum, einen Laden zu besitzen und diesen erfolgreich zu führen oder ein bestimmtes Produkt zu entwickeln und erfolgreich zu verkaufen. Nein, man macht einen Laden auf, um größer zu werden, um einen zweiten aufzumachen, einen dritten und so weiter, bis man den Markt beherrscht, bis man ein Imperium geschaffen hat. Es geht um Weltherrschaft. Kapitalismus um des Kapitalismus willen. Walter White betont an einer zentralen Stelle von "Breaking Bad": "Ich bin nicht im Drogengeschäft, ich bin im Imperiengeschäft." Das ist die Gralserzählung des Kapitalismus im 21.Jahrhundert - und übrigens spielt "Breaking Bad" ja in Albuquerque in New Mexico, also just in der Stadt, in der eine Firma namens Microsoft gegründet wurde ...
Am Rande: es ist den Handelnden beim Imperiengeschäft prinzipiell egal, in welchem Geschäft oder mit welchen Produkten sie ihr Imperium erschaffen, ganz so wie Walt in "Breaking Bad", es kann im Zweifel eben auch das Drogengeschäft sein. Der Rapper Gucci Mane, der "trap god", hat in seiner jüngst erschienen Autobiografie das Drogengeschäft, in dem er reichlich Erfahrung hat, mit dem Musikgeschäft verglichen. In beiden Geschäftsfeldern hat Gucci Mane Millioneneinnahmen erzielt, ob als Drogendealer oder als Rap-Produzent. Und in beiden Geschäftsfeldern kommt es auf die Vertriebswege an. Einziger Unterschied: Beim Handeln mit Musik läuft man nicht Gefahr, im Knast zu landen - jedenfalls in aller Regel nicht ...
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