Steigt Indien zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt auf?
Seite 2: Von Outsourcing zum biometrischen Zentralregister
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Interessant ist, welche ökonomischen Einzelaspekte die Banker dagegen besonders betonen. Sie heben etwa hervor, dass die Zahl der Inder:innen, die Arbeiten bei verlagerten Produktionsprozessen aus anderen Ländern übernehmen, sich im nächsten Jahrzehnt auf mindesten elf Millionen verdoppeln wird. In der gleichen Zeit sollen die Aufwendungen für solche outgesourcten Tätigkeiten weltweit von heute 180 auf dann über 500 Milliarden US-Dollar steigen.
Der Onlinehandel soll seine Volumina bis 2031 ebenfalls verdoppeln und dann 12,3 Prozent des gesamten Handels ausmachen. Heute kaufen 250 Millionen Menschen auf dem Subkontinent online ein, 2031 sollen es 700 Millionen sein. Parallel dazu soll die Zahl der Internetnutzer:innen von heute 650 auf 960 Millionen Menschen anwachsen – damit wären dann etwa zwei Drittel der Inder:innen online.
Das umstrittene Aadhaar-System – einem biometrischen Zentralregister, in dem mittlerweile 1,3 Milliarden Inder:innen mit ihren Daten aufgenommen worden sind –, loben die Analysten von Morgan Stanley als Grundlage für "einfache und preiswerte Finanztransaktionen". Über das System sollen mittlerweile monatlich 4,5 Milliarden Zahlungsvorgänge mit einem Umsatz von umgerechnet etwa drei Milliarden US-Dollar abgewickelt werden. Darunter fallen Mautgebühren in Höhe von mehr als 15 Millionen US-Dollar pro Tag.
Wachstum, das begeistert?
Am meisten begeistern sich die Investmentbanker über das von ihnen prognostizierte Wirtschaftswachstum. Da Indien das einzige Land weltweit sei, das ab 2023 jährlich über 400 Milliarden US-Dollar Wachstum haben werde und mehr als 500 Milliarden ab 2028, müsse die indische Ökonomie ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Investoren rücken.
Wer allerdings auf die physische Seite dieser Prognosen blickt, kann ein gewisses Gefühl der Unbehaglichkeit wahrscheinlich kaum unterdrücken: Ein Viertel des Wachstums der Automobilverkäufe werden auf Indien entfallen, und 2030 sollen 30 Prozent aller Personenfahrzeuge Stromer sein. Der Energieverbrauch werde bis dahin um etwa 60 Prozent ansteigen, was Investitionen von über 700 Milliarden US-Dollar nötig mache.
Zwar verfügen mittlerweile alle der mehr als 600.000 Dörfer Indiens über einen Zugang zum Stromnetz. Doch die Herausforderungen auf dem Weg zu einer modernen – geschweige denn inklusiven – Infrastruktur sind erheblich, wie etwa Standard & Poor schreibt.
Übrigens stammen derzeit drei Viertel des Stroms in Indien aus Kohle und rund 20 Prozent aus erneuerbaren Energien (Stand 2021). Die Umweltprobleme auf dem Subkontinent sind weiter enorm. Telepolis hat immer wieder darüber berichtet.
Große Hürden
In der Studie der US-Banker wird auch auf die "signifikanten Effekte" hingewiesen, die das zu erwartende Wirtschaftswachstum auf die Nachfrage im Wohnungsmarkt und nach Gewerbeimmobilien haben dürfte. Diese Aussicht bereitet den allermeisten Inder:innen dagegen sicherlich schlaflose Nächte.
Denn die Situation vor allem in den extrem dicht bevölkerten Städten ist schon heute beängstigend. Im Großraum Delhi sind die Preise für Land von Mitte 2021 bis Mitte 2022 um zehn Prozent und die für Wohnimmobilien um 20 Prozent gestiegen. Seit 2019 sind die Preise für Land in Indien zwischen 30 und 40 Prozent gestiegen.
Fragen der sozialen Entwicklung spart Morgan Stanley fast vollständig aus. Der Bericht erwähnt lediglich, dass der Anteil der Nutzer:innen im Gesundheitssystem in den nächsten zehn Jahren von heute 30 bis 40 Prozent auf 60 bis 70 Prozent steigen könne. Aspekte wie Armutsbekämpfung fehlen. Auch die wirtschaftlich durchaus relevante Tatsache, dass Indien die größte Ungleichheit bei der Entlohnung zwischen Männern und Frauen in ganz Asien aufweist, hat in den Erwägungen der Investmentbanker keinen Platz.
Sollte der derzeitige Trend anhalten, könnte Indien in den nächsten zehn Jahren zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen. Dass sich die Prognosen der US-Banker allerdings in vollem Umfang bewahrheiten, muss derzeit als zu optimistisch gelten.