Stillstand durch Handel?

Die Auseinandersetzungen zwischen den USA und der BRD um die exzessive deutsche Exportausrichtung verweisen auf blinde Flecken im westlichen Krisendiskurs

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Die zunehmenden Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik wurden jüngst um eine weitere Facette bereichert. In ungewöhnlich scharfer Form griff das US-Finanzministerium am vergangenen Mittwoch das Geschäftsmodell der Deutschland AG an, indem es die aggressive Exportorientierung und insbesondere die ausartenden Handelsüberschüsse der Bundesrepublik für die anhaltende wirtschaftliche Misere in der Eurozone verantwortlich machte. Deutschland belaste "mit seinem Rekordhandelsüberschuss die gesamte EU", so fasste Spiegel Online die Vorwürfe zusammen.

Damit hat Washington seine Zurückhaltung bei der Kritik der exzessiven Exportausrichtung der deutschen Volkswirtschaft aufgegeben, da bislang die US-Administration diese Streitpunkte diskret "hinter den Kulissen" ansprach, wie der Spiegel bemerkte. Nun hieß es in dem Bericht des US-Finanzministeriums unzweideutig:

Deutschlands anämisches Wachstum der Binnennachfrage und seine Exportabhängigkeit behindern das Ausbalancieren in einer Zeit, da viele andere Länder der Euro-Zone unter schwerem Druck stehen, die Nachfrage einzudämmen und Importe zu drosseln.

Washington verschärft somit seine Forderungen nach einer Anhebung der Binnennachfrage in der BRD, um so den krisengebeutelten südeuropäischen Volkswirtschaften, die unter dem deutschen Spardiktat zusammenzubrechen drohen, etwas Luft zum Atmen zu verschaffen - diese können nämlich die massiven Nachfrageeinbrüche auf den Binnenmarkt, die von der Austeritätspolitik ausgelöst werden, nicht durch steigende Exporte kompensieren, solange die Bundesrepublik weiterhin Rekordüberschüsse generiert und keine nennenswerte Erhöhung des Lohnniveaus zulässt.

Höhere Löhne? Eine Belebung der Binnennachfrage, die womöglich den Massenkonsum beleben würde? Diese unverschämten Forderungen trieben einer deutschen Wirtschaft und Politik umgehend die Zornesröte ins Gesicht. Man sei "ein starkes Exportland und stolz darauf", titelte etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Sprecher des Wirtschaftsministeriums bezeichneten die Kritik Washingtons als "nicht nachvollziehbar". Finanzstaatssekretär Steffen Kampeter verwies in der FAZ darauf, dass die Bundesregierung darauf dränge, den "Euroraum insgesamt wettbewerbsfähiger" zu machen, um so die "weltwirtschaftliche Entwicklung insgesamt positiver" zu gestalten. Hannes Hesse, Hauptgeschäftsführer des Maschinenbauer-Branchenverbands VDMA, bezeichnete die Argumentation Washingtons empört gar als "völligen Unsinn". Die deutsche Wirtschat stelle hingegen ein Fundament dar, "auf dem die wirtschaftliche Stabilität Europas steht."

Ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums behauptete gegenüber dem Wall Street Journal (WSJ) gar, mehrere internationale Organisationen wie etwa der Internationale Währungsfonds (IWF) hätten die Wirtschaftspolitik Deutschlands positiv beurteilt - nur um wenig später vom IWF korrigiert zu werden, dessen stellvertretender Direktor David Lipton ebenfalls darauf insistierte, dass Deutschland seine Binnennachfrage zu steigern und eine bessere wirtschaftliche Balance durch stärkeres Lohnwachstum anzustreben habe.

Washington und der IWF sprechen hier mit der aggressiven Exportausrichtung der BRD eigentlich nur eine in Deutschland tabuisierte Selbstverständlichkeit aus (wohl als Vergeltung für die von Berlin hochgekochte Spionageaffäre?), deren Grundzüge Telepolis-Leser schon vor knapp einem Jahr nachvollziehen konnten (siehe: Der Exportüberschussweltmeister). Der Aufschrei unter den deutschen Funktionseliten aus Wirtschaft, Politik und Medien ist aber nur zu verständlich, da hier tatsächlich ein essenzieller "blinder Fleck" im deutschen Krisendiskurs beleuchtet wurde, wie die New York Times erläuterte. Problematisch ist nämlich nicht das Exportvolumen Deutschlands, sondern es sind die deutschen Exportüberschüsse, die sich in einem extremen Leistungsbilanzüberschuss materialisierten. Dieser sei viel höher als in China, so die NYT:

Letztes Jahr betrug Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss sieben Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts; in China hingegen, das oftmals für die Verfolgung einer aggressiven Exportpolitik kritisiert wird, betrug der Überschuss nur 2,3 Prozent.

Einem deutschen Überschuss in der Leistungsbilanz müssen Defizite im Ausland entsprechen, so hat es nun mal die Mathematik in ihrer unergründlichen Weisheit eingerichtet. Wenn die Bundesrepublik 2012 einen Leistungsbilanzüberschuss von sieben Prozent ihres BIP erzielte, dann bedeutet dies im Umkehrschluss, dass im Ausland - in den Zielländern der deutschen Exportoffensiven - Defizite in gleicher Höhe anfielen. Die deutschen Exportüberschüsse beruhen somit auf Verschuldung, auf einem Schuldenberg, der im Ausland zu ihrer Begleichung angehäuft werden muss.

Handelsüberschüsse sind zum wichtigsten Motor des Wirtschaftswachstums geworden

Dabei bilden diese Exportüberschüsse inzwischen auch den mit Abstand wichtigsten Konjunkturmotor der Bundesrepublik, wie etwa das Statistische Bundesamt in aller Unschuld feststellte. Der durch die Handelsüberschüsse erzeugte konjunkturelle Außenbeitrag betrug 2012 rund 1,1 Prozent des deutschen BIP, während das Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr nur 0,7 Prozent erreichte. Das Statistische Bundesamt formulierte die daraus resultierenden Tatsachen folgendermaßen:

Die Differenz zwischen Exporten und Importen - der Außenbeitrag - steuerte 1,1 Prozentpunkte zum BIP-Wachstum 2012 bei und war damit einmal mehr wichtigster Wachstumsmotor der deutschen Wirtschaft.

Man kann das auch pointierter zusammenfassen: Ohne Handelsüberschüsse wäre die Bundesrepublik 2012 in einer Rezession versunken. Deutschlands Wirtschaft ist somit von den Handelsüberschüssen regelrecht abhängig, die von der deutschen Exportindustrie generiert werden. Damit läuft die Konjunktur hierzulande ebenfalls "auf Pump", nur werden die dafür notwendigen Verschuldungsprozesse eben mit den deutschen Ausfuhrüberschüssen ins Ausland exportiert. Diese Tatsachen, die im "blinden Fleck" des deutschen Krisendiskurses verschwinden, lassen die deutschlandweit grassierende Empörung über ausartende Auslandsverschuldung nun vollends absurd erscheinen: Man empört sich hierzulande gerne über die Voraussetzungen des Geschäftsmodells der Deutschland AG.

Ein "Geschäftsmodell", das darauf beruht, vermittels extremer Exportüberschüsse die Konkurrenz im Ausland in die Verschuldung und letztendlich in den Ruin zu treiben, stellt nun aber wirklich keine großartige Innovation dar - es ist so alt wie der Kapitalismus selber. Die Militärdespotien der frühen Neuzeit - wie das absolutistische Preußen oder das Frankreich Ludwig des XIV. - verfolgten eben diese Wirtschaftsausrichtung, die gemeinhin als Merkantilismus bezeichnet wird. Und genauso rigoros wie im frühneuzeitlichen Kasernenkapitalismus mussten sich das harsche Arbeitsregime und die miserable Lohnentwicklung in der Bundesrepublik gestalten, um die tollen "Exporterfolge" der Deutschland AG zu erreichen. Deutschland weist immer noch eine miserable Reallohnentwicklung in Europa auf, die maßgeblich zum konkurrenzlos niedrigen Anstieg der deutschen Lohnstückkosten beitrug (Happy Birthday, Schweinesystem!), wie auch zu einer regelrechten Epidemie von arbeitsbedingten Erkrankungen wie dem Burnout führte, die durch die permanent gesteigerte Arbeitsintensität befeuert wurde.

Der Euro war eine Grundvoraussetzung für den Siegeszug des neuen deutschen Merkantilismus

Eine vom Wall Street Journal publizierte Grafik illustriert, dass diese extreme Exportausrichtung des Link auf :38239 ziemlich genau mit der Einführung des Euro ausgebildet wurde - im Jahr 2000 verzeichnete die Bundesrepublik noch ein Leistungsbilanzdefizit. Tatsächlich bildete der Euro eine Grundvoraussetzung für den Siegeszug des deutschen Merkantilismus, da er den unterlegenen südeuropäischen Volkswirtschaften die Möglichkeit nahm, vermittels Währungsabwertungen die Konkurrenzfähigkeit mit der deutschen Exportindustrie zumindest partiell wiederherzustellen.

Die Kritik der USA an der extremen deutschen Exportausrichtung, die mit der Überschuldung und Deindustrialisierung Südeuropas einhergeht, ist somit voll berechtigt und zutreffend. Plötzlich scheinen die Rollen vertauscht, die der deutschlandweit grassierende Antiamerikanismus den beiden Ländern zuweist: Die BRD erscheint als das Land des rücksichtslosen Raubtierkapitalismus, während Obama - zumindest bei seiner Europapolitik - in die Rolle des nachfrageorientierten Sozialdemokraten schlüpft.

Diese Europapolitik hat den USA bereits einen gewissen Popularitätsschub insbesondere in den europäischen Krisenländern verschafft, wie eine im August publizierte Umfrage in Griechenland offenbarte -, wo die USA aufgrund des von ihnen unterstützten Militärputsches 1967 eigentlich über miserable Umfragewerte verfügten:

Deutlich an Popularität gewonnen haben dagegen die Vereinigten Staaten: Laut Umfrage werten 55,5 Prozent der Befragten die USA positiv. Der Anstieg ist bemerkenswert. Vor acht Jahren hatten nur 27,8 Prozent der damals Befragten Sympathie für die Amerikaner gezeigt. Die US-Präsident Barack Obama plädierte in der Euro-Krise dafür, weniger hart zu sparen und stattdessen die Wirtschaft stärker zu fördern.

Die Popularitätswerte für Deutschland sind im gleichen Zeitraum von 78,4 Prozent auf 33,2 Prozent abgestürzt. Der Otto-Rehhagel-Bonus ist somit aufgebraucht.

Ohne Defizitbildung gäbe es schlicht keine deutschen/chinesischen/japanischen Exportüberschüsse

Washington trifft mit seiner Kritik an Merkels Spardiktat somit ins Schwarze und kann damit ausgerechnet im europäischen Hinterhof Deutschlands punkten. Dennoch würden die von Washington in Europa propagierten Krisenrezepte (Belebung der Binnennachfrage) genauso wenig zur Überwindung der Krise beitragen wie das deutsche Spardiktat. Der amerikanische Krisendiskurs weist nämlich ebenfalls einen "blinden Fleck" auf, den die Nachrichtenagentur Bloomberg thematisierte.

Die konsumfreudigen USA, in denen rund zwei Drittel des BIP auf den privaten Konsum zurückgehen, weisen zugleich ein gigantisches Leistungsbilanzdefizit auf. Die in der Tat sehr ausgeprägte Binnennachfrage der USA wird somit über Defizitbildung, sprich über Verschuldung erzeugt. Dies ist in den Vereinigten Staaten nur deswegen noch möglich, weil sie - im Unterschied zu den südeuropäischen Krisenländern - mit dem Dollar über die Weltleitwährung verfügen, die Washington schier endlose Möglichkeiten einer Aufrechterhaltung dieser Verschuldungsdynamik einräumt. Eine Steigerung des "Binnenkonsums" ist in der Praxis somit nur vermittels Defizitbildung möglich, wie es die USA an ihrer eigenen Leistungsbilanz eindrucksvoll demonstrieren. Die sich daraus ergebenen globalen Ungleichgewichte beschrieb Bloomberg größtenteils zutreffend:

Japan, China und Deutschland sind total von ihren Exporten abhängig, um die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten. Die USA weisen ein beständiges Leistungsbilanzdefizit auf, und sie weisen dies schon seit 1990 auf. Niemand glaubt, dass dies tragfähig ist. Zugleich will keiner der großen Spieler das ändern.

Niemand will das ändern? In Wahrheit verhält es sich so, dass niemand dies ändern kann. Diesen globalen "Ungleichgewichten", bei denen sich exportabhängige und defizitbildende Volkswirtschaften gegenüberstehen, liegt selbstverständlich eine Verschuldungsdynamik zugrunde: Ohne Defizitbildung gäbe es schlicht keine deutschen/chinesischen/japanischen Exportüberschüsse. Die Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen sind folglich nur Ausdruck einer Verschuldungsdynamik, die doch offensichtlich notwendig ist, um das kapitalistische Weltsystem noch aufrechtzuerhalten.

Die jüngsten Auseinandersetzungen um die exzessive Exportausrichtung der deutschen Wirtschaft rühren somit tatsächlich an einen tief reichenden "blinden Fleck" im westlichen Krisendiskurs, den man aber weder in Berlin noch in Washington wahrnehmen will. In der ausartenden Schuldendynamik manifestieren sich die objektiven Entwicklungsschranken des kapitalistischen Weltsystems, das an seiner eigenen Produktivität erstickt. Aufgrund der ungeheuren Produktivitätsschübe, die mit der anhaltenden mikroelektronischen Revolution einhergehen, wird die Arbeitskraft in immer stärkerem Ausmaß aus der Warenproduktion verdrängt - und somit gehen den Warenproduzenten auch die Konsumenten verloren. Der Kapitalismus ist folglich als Gesamtsystem längst zu einem Schuldenjunkie verkommen, der sein zombiehaftes Scheinleben nur noch vermittels ausartender Defizitbildung aufrechterhalten kann. Die Verschuldungsdynamik generiert schlicht die Massennachfrage, die es etwa der deutschen Wirtschaft überhaupt noch ermöglicht, ihre Handelsüberschüsse zu generieren.

Der funktionierende Kapitalismus, die heile kapitalistische Arbeitsgesellschaft, stellt somit nur noch eine Illusion dar, die nur noch vermittels permanenter Defizitbildung aufrechterhalten werden kann. In Deutschland geschieht das in bewährter Tradition auf Kosten des Auslands, indem man vermittels der Exportüberschüsse schwächere Konkurrenten in den Ruin treibt. In den USA verlässt man sich auf die Stellung des US-Dollars als Weltleitwährung, um die Defizitbildung weiter aufrechterhalten zu können.

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