Stillstand und Aussichtslosigkeit
Ein von arabischen Wissenschaftlern veröffentlichter UN-Bericht über die arabische Welt kommt zu bedenklichen Ergebnissen
Spätestens seit dem 11.9. stehen muslimische Gruppen im Vordergrund, wenn es um terroristische Aktivitäten geht. Rückwärtsgerichtete muslimische Extremisten, die einen Gottesstaat einrichten wollen und die westliche Lebensweise verurteilen, richten sich zwar gegen die USA, Israel und andere westliche Staaten, aber die Gründe dafür, das Leben einzusetzen und dabei wahllos Menschen mit in den Tod zu reißen, liegen vermutlich zumindest auch in den arabischen Systemen selbst. Ein UN-Bericht über die Lage in den arabischen Ländern, verfasst von arabischen Wissenschaftlern, legt die Vermutung nahe, dass daran ein eklatanter Zukunfts- und Entwicklungsstau der religiös und politisch geknebelten Gesellschaft mitbeteiligt ist, die von Männern dominiert wird.
In dem ersten Arab Human Development Report der gestern von der UNDP, dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, in Kairo vorgestellt wurde, wird eines sehr deutlich herausgearbeitet: Die arabischen Regime versperren den Menschen nicht nur individuelle und politische Freiheiten, sie eröffnen ihnen auch keine Zukunft, auf die hin sie sich entwickeln und verändern könnten. Möglicherweise ist das ein Grund, warum die Aussichtslosigkeit oder die versperrte Entwicklungsmöglichkeit in den religiösen Extremismus und in Gewalt implodiert, in gesellschaftlich sanktionierte Handlungen, die zugleich einen Ausbruch bedeuten, auch wenn dieser nicht kreativ, sondern nur destruktiv ist. In der Feier des Märtyrertums als letztem Ziel kommt das "no future" nur am deutlichsten zum Ausdruck. Und vielleicht ist für Manche, wie den "gebildeten" Selbstmordattentätern vom 11.9., der versuchte Ausbruch aus der arabischen Kultur, eher: aus den religiösen Zwängen, mit Schuld beladen, die sie in den scheinbar politischen, aber religiös grundierten Terrorismus treibt. Schließlich gingen der europäischen Aufklärung auch die Hexenverfolgungen und Kreuzzüge vorher und wurde sie begleitet von gewaltigen Konflikten, die auch das letzte Jahrhundert noch geprägt haben. Allerdings macht die Situaion noch komplizierter, dass die westlichen Länder - mitsamt ihren Werten - Teil des Konflikts sind, da sie die geopolitische Ordnung verursacht haben und weiterhin ihre Interessen ausspielen, indem sie bestimmte Herrschaftsstrukturen wie in Saudi-Arabien am Leben erhalten.
Arm an Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten
Der Bericht untersucht die Lage in den 22 arabischen Staaten in Nordafrika und im Mittleren Osten. Natürlich gab es, nicht zuletzt wegen des Öls, auch hier Fortschritte. Während der letzten drei Jahrzehnte ist die Lebenserwartung um 15 Jahre gestiegen, während die Kindersterblichkeit um zwei Drittel abgenommen hat. Selbst die Armut ist hier nicht so drückend wie in anderen Regionen der Welt. Gleichwohl müssen 20 Prozent der 280 Millionen Menschen von weniger als 2 US-Dollar täglich leben. Der Reichtum durch das Öl wurde nicht gleich über die Region verteilt, vor allem aber wurde das Geld nicht in die Wirtschaft und die Bildung investiert. Die arabische Region ist, wie der Bericht es beschreibt, "reicher, als sie entwickelt ist". Arm sei die gesamte Region vor allem an Chancen und Kapazitäten.
Die Zahlen sprechen hier eine deutliche Sprache. Während in der übrigen Welt in den letzten 30 Jahren die Produktivität zunahmen, sank sie in der arabischen pro Jahr durchschnittlich um 0,2 Prozent. Lag 1960 die industrielle Arbeitsproduktivität noch bei einem Drittel von der in Nordamerika, so beträgt sie jetzt nur noch 19 Prozent. Auch der Einkommenszuwachs pro Kopf schleicht mit 0,5 Prozent jährlich voran. Um sein Einkommen zu verdoppeln, müsste ein arabischer Mensch 140 Jahre leben, in anderen Ländern seien dafür - zumindest vor der gegenwärtigen Wirtschaftskrise - gerade einmal 10 Jahre notwendig.
Die arabischen Länder sind jüngere Gesellschaften als die anderen Länder. 38 Prozent der Menschen sind unter 14 Jahren. Bis 2020 wird die Bevölkerung von 280 Millionen auf bis zu 460 Millionen gewachsen sein. Wobei die Altersstruktur in etwa erhalten bleiben wird. Das kann ein großer Vorteil sein, doch wenn der nachwachsenden Generation nichts geboten werden kann, wird sie zu einer überschüssigen Generation, deren Verhalten sich möglicherweise in dem gegenwärtigen Hang zur selbstzerstörerischen terroristischen Aktivität andeuten mag, zumindest bei denen, die keine Möglichkeit haben, ihr Leben anderswo führen zu können. Bei einer Befragung stellte sich so heraus, dass 51 Prozent der jungen Erwachsenen und 45 Prozent der Jugendlichen auswandern wollen. Das weist auf die hohe Unzufriedenheit und das Gefühl der Aussichtslosigkeit hin. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und wird weiter zunehmen.
Die Hälfte der Bevölkerung ist ausgeschlossen
Zwar wird in den arabischen Ländern mehr Geld im Hinblick auf das Bruttoarbeitsprodukt wie in anderen Entwicklungsländern ausgegeben, aber es gibt noch immer viele Kinder, die nicht zur Schule gehen. Der Anteil derjenigen, die auf weiterführende Schulen gehen, liegt mit 13 Prozent im Vergleich mit den westlichen Ländern (60 Prozent) relativ gering. Noch immer aber sind mehr als 40 Prozent der Menschen Analphabeten. Und auch wenn sich die Zahl der Frauen, die lesen und schreiben können, in den letzten 30 Jahren verdreifacht hat, so sind zwei Drittel der 65 Millionen Analphabeten Frauen.
Und die Stellung der Frauen ist, wie der Bereicht auch hervorhebt, besonders kennzeichnend für die verfahrene Situation. Frauen werden noch immer weitgehend von höherer Bildung ausgeschlossen, in der Politik sind sie praktisch nicht präsent. Nur 3,5 Prozent der Parlamentssitze werden von Frauen eingenommen, in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara sind das schon 11 Prozent. In manchen Ländern dürfen auch heute noch Frauen weder wählen noch eine politische Funktion einnehmen. Die Hälfte der Frauen sind Analphabeten. Das lähmt neben den verweigerten Chancen für die Frauen die ganze Gesellschaft, deren Fundament der Ausschluss und die Unterdrückung der Hälfte ihrer Bevölkerung ist.
Weltweit als Region am Tiefpunkt, was politische und informationelle Freiheit betrifft
In der ganzen arabischen Welt werden jährlich gerade einmal 330 Bücher übersetzt. Das ist ein Fünftel der Menge, die allein in Griechenland übersetzt wird. Angeblich haben so die Araber seit 1000 Jahren gerade einmal so viel Bücher übersetzt, wie dies in Spanien jährlich gemacht wird. Ob diese Zahlen nun stimmen oder nicht, so weisen sie ebenso wie Zensurmaßnahmen auf eine rigorose Abdichtung gegenüber allen Einflüssen von außen hin, die der Unbeweglichkeit der Regime zugrunde liegt.
Systematisch ist auch, dass kaum Geld in die Forschung gesteckt wird. In Wissenschaft und Forschung werden gerade ein Siebtel des weltweiten Durchschnitts gesteckt. Da kann sich auch mental nicht viel entwickeln, denn die arabische Region genießt nach dem Bericht die geringste Freiheit aller sieben Regionen der Welt. Mitwirkung an politischen Prozessen, Meinungsfreiheit, politische Rechte oder Pressefreiheit sind nicht gefragt. Auch bei diesen Indikatoren stellt die arabische Region das Schlusslicht dar, auch wenn sich dies in einzelnen Ländern natürlich gegenüber früher verbessert hat. Die Medien seien "bestenfalls teilweise frei". In den arabischen Ländern sitzen auch die meisten "Feinde des Internet", die die Benutzung kontrollieren, wenn es denn überhaupt einen Zugang zum Netz gibt. Gerade einmal 0,6 Prozent der Bevölkerung benutzen das Internet, 1,2 Prozent haben einen Computer: auch wieder weltweit ein Tiefststand. Die Bürokratie sei übermächtig und trägt zur Erstickung der Zivilgesellschaft bei. Die religiösen Institutionen, die im Bereicht auffällig wenig direkt kritisiert werden, dürften für die fehlende Freiheit und die herrschende Fortschritts- oder Entwicklungssperre eine ganz entscheidende Rolle spielen.
Wenn es für die arabischen Länder eine wirkliche Zukunft geben soll, so der Bericht, dann geht es nicht nur um Wirtschaftswachstum, sondern auch das kann nur entstehen, wenn die Menschen politisch und geistig größere Freiheiten erhalten, wenn die politischen Systeme offener werden, es freie und regelmäßige Wahlen und eine Rechtsstaat gibt, die Menschenrechte geachtet werden, die Länder sich stärker auf den Erwerb von Wissen und damit auf Innovation und Kreativität ausrichten - und wenn vor allem die Frauen befreit werden.
Der Bericht weist auf die Lage im Nahen Osten hin und stellt fest, dass vor allem für die Palästinenser ein Fortschritt unter der israelischen Besatzung kaum möglich sei. Das habe die demokratische Entwicklung verhindert und hinausgezögert. Daraus aber lässt sich schwerlich die Stagnation der gesamten Region und damit auch eines Teils der arabischen Kultur erklären, sondern lässt eher deutlich werden, dass die in weiten Teilen der arabischen Welt herrschende Haltung, Israel und den Zionismus zur Ursache aller Probleme zu machen, ein Ablenkungsmanöver ist, der die Strukturen nur zementiert.
Dass der von arabischen Wissenschaftlern erstellte Bericht zwar explizit auf den Konflikt mit Israel und dessen Besetzung von arabischem Land hinweist, aber ansonsten - bei aller prowestlichen Orientierung an Demokratie, Menschenrechten, Frauenemanzipation, Meinungsfreiheit und Wissenschaft - Kritik an den Herrschaftsstrukturen und vor allem an den religiösen Institutionen und Ideologien nur höchst indirekt übt, mag für die Schwierigkeiten in den arabischen Ländern und für die arabischen Menschen ebenfalls bezeichnend sein.