Strategischer Kompass weist den Weg zur Militärmacht EU

Seite 2: Eingreiftruppe ohne Konsens

Auf der Grundlage der Bedrohungsanalyse werden im Strategischen Kompass im Anschluss rund 60 Vorschläge unterbreitet, die größtenteils mit konkreten Zeitplänen in den vier unterschiedlichen Bereichen ("Handeln", "Sichern" "Investieren", "Mit Partnern zusammenarbeiten") versehen wurden.

Am meisten Aufmerksamkeit erhielt dabei der von Anfang an enthaltene Plan, eine 5.000 Soldat:innen umfassende Schnelle Eingreiftruppe aufzubauen. Damit soll bereits in diesem Jahr begonnen werden, bis 2025 soll sie voll einsatzfähig sein. Als Einsatzfelder sind nicht nur "Rettungs- und Evakuierungseinsätze", sondern auch die "Anfangsphase von Stabilisierungseinsätzen", also Kriegseinsätze in einem "nicht bedrohungsfreien Umfeld" vorgesehen.

Gleichzeitig sollen die Entscheidungsmechanismen überarbeitet werden, um so das bislang gültige Konsensprinzip bei Beschlüssen zum Beginn von Militäreinsätzen in wesentlichen Teilen auszuhebeln. Gelingen soll das durch eine Kombination aus der Bildung von Ad-hoc-Koalitionen (Artikel 44 EUV), die als Kleingruppen im Namen der EU-Militäreinsätze durchführen sollen, und mit der Einführung von "konstruktiven Enthaltungen" (Artikel 31 EUV).

Bei derlei Enthaltungen kommt ein Beschluss nur dann nicht zustande, sollten ihm mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten, die mindestens ein Drittel der Unionsbevölkerung ausmachen, nicht zustimmen – das bislang gültige Konsensprinzip wäre damit in einem wesentlichen Punkt faktisch ausgehebelt und der Einfluss insbesondere von Deutschland und Frankreich würde noch einmal erheblich steigen.

Ob dies tatsächlich gelingen wird, ist noch offen, gerade für kleine und mittelgroße Mitgliedsstaaten ist das Konsensprinzip ein wesentliches Mittel, um überhaupt einen gewissen Einfluss auf die Entscheidungsfindung in der EU zu haben. Angekündigt wurde jedenfalls, bis 2023 über die praktischen Modalitäten zu entscheiden.

Außerdem sieht der Kompass in diesem Zusammenhang vor, ebenfalls bis 2025 die Kapazitäten der "Militärischen Planungs- und Führungsfähigkeit" so zu erweitern, dass es als EU-Hauptquartier Einsätze im Umfang von bis zu 5.000 Soldat:innen leiten kann.

Auch die Finanzierungsanteile von Militäreinsätzen aus dem EU-Haushalt sollen erhöht werden. Die Botschaft ist eindeutig: Die EU will künftig "einfacher" und "besser" Krieg führen können, und zwar bis an die Zähne bewaffnet.

Rüstungsmaßnahmen

Neben Kapitel 1 ("Handeln") finden sich vor allem im Kapazitäten-Kapitel (Kapitel 4, "Investieren") die konkretesten und auch problematischsten Vorschläge. Dort werden generell größere Investitionen in den militärischen Bereich sowie höhere Verteidigungsausgaben angekündigt: Bereits bis Mitte 2022 sollen "Ziele für höhere und verbesserte Verteidigungsausgaben" festgelegt werden. Bis 2023 will die EU den "Planzielprozess überarbeiten", der militärische Zielvorgaben an Soldat:innen und militärischem Gerät formuliert.

Grundsätzlich soll die Anbahnung länderübergreifender europäischer Rüstungsprojekte noch stärker gefördert werden, unter anderem durch stärkere Anreizsysteme im EU-Verteidigungsfonds. In diesem Zusammenhang wird die Kommission auch beauftragt, bis 2023 einen Vorschlag auszuarbeiten, "der eine Mehrwertsteuerbefreiung ermöglichen würde, um die gemeinsame Beschaffung von und das gemeinsame Eigentum an Verteidigungsfähigkeiten, die gemeinschaftlich innerhalb der EU entwickelt werden, zu fördern".

Auf dieser Grundlage wird gefordert, eine ganze Reihe äußerst kostspieliger EU-Großprojekte in den Bereichen Land, Luft, Marine, Cyber und Weltraum aufzulegen. Bereits beginnend mit diesem Jahr soll es außerdem künftig "jährliche Tagungen der Verteidigungsministerinnen und -minister zu EU-Verteidigungsinitiativen zur Fähigkeitenentwicklung" geben, um dem Thema stärkere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Vertane Chance

Während sich in Sachen Truppengenerierung und Kapazitätsausbau einiges tut, geht es in den beiden Kapitel "Sichern" und "Partner" deutlich ruhiger zu. Generell fällt auf, dass einem zentralen Thema wie der "Förderung von Abrüstung, Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle" in dem über vierzigseitigen Dokument nicht einmal eine halbe Seite als Unterabschnitt im "Sichern"-Kapitel des Kompasses gewidmet wurde.

Bei den "Partnern" wird zwar auf die Vereinten Nationen und die OSZE verwiesen, im Gegensatz zu den anderen Teilen gibt es hier aber nur wenige und sehr vage formulierte Handlungsankündigungen.

Einzig was die Bedeutung der Nato und die Intensivierung der Nato-EU-Zusammenarbeit anbelangt, wird es wieder etwas konkreter. Diese Passagen wurden nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ebenfalls noch einmal etwas aufgewertet, ohne jedoch den Anspruch fallen zu lassen, als eigenständiger militärischer Akteur in das Ringen der Großmächte nicht nur wirtschaftlich, sondern bei Bedarf auch militärisch noch intensiver als bislang einzutreten.

Der Kompass hätte ein Anfang sein können, um ernsthaft an einer europäischen Friedensordnung zu arbeiten. Stattdessen ist er ein bloßes Arbeitsprogramm zur Aufrüstung der Union geworden. Dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung in der EU und dem Frieden wird so nicht gedient – im Gegenteil.