Streik der Ingenieure und Wissenschaftler
Bei Boeing, dem weltweit größten Flugzeughersteller, brodelt es
Zu einem der interessantesten Streiks seit Jahren könnte sich der Ausstand entwickeln, der seit Mittwoch beim weltweit größten Flugzeughersteller Boeing Co. für Aufsehen sorgt. Nach dem Scheitern der Tarifverhandlungen, die seit Mitte November vor sich hindümpelten, waren es nicht die Fließband-Arbeiter in den Produktionshallen, deren starker Arm den Stillstand wollte, sondern die "white collar workers" von Boeing: Ingenieure, Wissenschaftler, Software-Designer, sonstige Techniker und Vorarbeiter.
Nach zwei Urabstimmungen brach die Gewerkschaft "Society of Professional Engeneering Employees in Aerospace" (SPEEA) Dienstagnacht die Verhandlungen ab. Schon am nächsten Morgen fanden sich Tausende zu einer ersten Gewerkschaftsdemonstration in der Nähe des Boeing-Werks südlich von Seattle an der amerikanischen Nordwestküste zusammen. "I just went to work, shut down my computer, copied my hard drive to Zip disks and got the hell out of there", wurde ein Boeing-Streikposten in der Presse zitiert.
Mit fast 20.000 Streikenden handelt es sich um rund 90 Prozent der "white collar workers " bei Boeing. Von ihnen sind 63 Prozent gewerkschaftlich organisiert. Es ist einer der größten Facharbeiterstreiks in der US-Geschichte. Die Gewerkschaft hatte in Gesprächen mit der Firmenleitung auf höheren Garantielöhnen und Bonuszahlungen bestanden. Boeing dagegen wollte "selective pay hikes" einführen - unter anderem weniger Betriebszuschüsse für die Lebensversicherung und Änderungen bei den Zuschüssen für die Krankenversicherung.
Der Streik ist insofern hochinteressant, als er im Fall eines Erfolgs motivierend auf Arbeiter und Angestellte andere Branchen wirken könnte, die zunehmend neue Technologien einsetzen. Es geht um gewerkschaftliche Organisierung, Aufklärung, Arbeitsplatzschutz und gemeinsame Lohnpolitik in Sektoren, in denen auch die Vereinzelung (mit Bildschirmarbeit beispielsweise) neu ist. Außerdem ist die Gewerkschaft völlig unerfahren, was Streiks angeht. In den 56 Jahren ihrer Existenz gab es nur einen einzigen Ausstand - vor acht Jahren für einen Tag - und er war symbolischer Natur.
Vieles liegt im Argen, was den weiteren Streikverlauf äußerst kompliziert macht. So hat der US-GewerkschaftsverbandAFL-CIO zwar seine Unterstützung zugesagt. Doch es ist unklar, wie der Ausstand überhaupt finanziert werden soll, denn SPEEA hat keinen Streikfonds. Als weiteres Problem stellt sich der Zeitpunkt heraus, denn Boeing ist angesichts der Situation der Firma derzeit nicht unbedingt auf die Entwicklung von Neumodellen angewiesen. Überdies muss die bestreikte Abteilung "Forschung und Entwicklung" so oder so mit Entlassungen rechnen. Deshalb ist man sich weitgehend einig, dass ein langfristig angelegter Streik wenig Sinn macht. An einem zeitraubenden Patt hat auch Boeing kein Interesse, weil die Firma das Absinken ihrer Börsenwerte und Abwerbungen seiner hochqualifizierten Arbeitskräfte befürchten muss. Die Produktion in den Boeing-Werken in Washington State, Kansas, Florida, Kalifornien, Oregon, Texas und Utah läuft unterdessen trotz des Streiks weiter.
Schnellen und massiven Druck könnte, so meinen Gewerkschaftsexperten, eigentlich nur aus den Produktionshallen kommen. Doch die 46.000 Montage-Arbeiter, die von der International Association of Machinists and Aerospace Workers vertreten werden, dürfen aus vertraglichen Gründen keinen Solidaritätsstreik eingehen. Sie hatten im vergangenen Jahr Arbeitsverträge mit den entsprechenden Klauseln erkämpft, an die sie gebunden sind. Trotzdem sollen nächste Woche bei einem Treffen der AFL-CIO-Spitze in New Orleans erörtert werden, ob es rechtliche Auswege gibt.
Während sich Gewerkschafter und Management jeweils intern warmlaufen, um ihre Verhandlungspositionen zu stärken, haben sie ihre Propagandamaschinen schon in Stellung gebracht. Die Seattle Times berichtete, dass es bereits völlig konträre Einschätzungen darüber gebe, ob der Streik zum jetzigen Zeitpunkt Schaden angerichtet habe.