Streitpunkt Nationale Wasserstoffstrategie
Technokratische Ansätze für die Energiewende
Drei Tage vor der Bürgerschaftswahl zog die Hamburger SPD-Spitze eine Wasserstoffkarte aus dem Ärmel. Sie will eine Machbarkeitsstudie in Auftrag geben, ob ein 800 Megawatt-Block des umstrittenen Kohlekraftwerks Hamburg-Moorburg auf "Grünen Wasserstoff" umgestellt werden könne.
Konzepte für eine Wasserstoffwirtschaft, die schon seit 50 Jahren entwickelt werden , werden jetzt als Wundertechnologie gepriesen: "Wasserstoff wird die Grundlage bilden für die zukünftige Industrie in Deutschland. Deshalb müssen wir dieser Technologie auch den Pfad ermöglichen, dass die Industrie hier im Land bleibt. [...] Die Energiewende in Deutschland verleiht dem Wirtschaftswachstum Flügel", verhieß Bernd Westphal (SPD) am 31. Januar 2020 im Deutschen Bundestag.
Malte Daniljuk zeigte in seinem TP-Artikel "Brüssel will weiter Öl- und Gaskonzerne subventionieren" vom 01. Februar 2020 faktenreich, wie die EU-Energiekommissare den Interessen der Fossil-Lobbyisten Rechnung tragen und so den Klimaschutz und "die überfällige Energiewende grundsätzlich torpedieren". Doch aus welchem Grund macht die EU-Kommission das?
Auch in Deutschland soll es neue Energie-Subventionen geben. Das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) verspricht in seinem Entwurf einer "Nationalen Wasserstoffstrategie":
Deutschland wird die Wasserstoff-Technologie mit einem Gesamtbetrag von über zwei Milliarden Euro bis zum Jahr 2025 fördern.
Den Grund dafür verschweigt die Bundesregierung nicht. Wirtschaftsminister Altmaier hat mit seiner Wasserstoffstrategie
ehrgeizige Ziele: Deutschland habe die Chance, "im internationalen Wettbewerb eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung und dem Export von Wasserstoff-Technologien einzunehmen" [...] Wasserstoff biete "große industriepolitische Chancen; um diese Potenziale zu heben, werden wir jetzt die Weichen stellen, dass Deutschland seine globale Vorreiterposition sichert."
Eine Förderung umweltschädlicher Erdgasprojekte durch die EU und eine Förderung umstrittener Wasserstoffprojekte durch die Bundesregierung: Beide Strategien verfolgen die widersprüchlichen Ziele, einerseits als Maßnahmen eines Green Deals angeblich einen ambitionierten Beitrag zur Bekämpfung der globalen Klimakrise zu liefern, andererseits aber die wirtschaftliche Dominanz auf diesen Zukunftsmärkten zu sichern und möglichst auszubauen.
Schon 2006 bis 2016 haben Bundesregierung und Industrie 1,4 Mrd. Euro in das "Nationale Innovationsprogramm Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie" (NIP) investiert.
November 2019 erklärten die fünf norddeutschen Küstenländer,
dass ein wesentlicher Teil der gesamten Treibhausgasemissionen nicht über den Einsatz von Strom vermieden werden kann, sondern überwiegend entweder grünen Wasserstoff direkt oder einen darauf basierenden Energieträger benötigt.
Deshalb wollen sie bis 2025 "mindestens 500 Megawatt und bis zum Jahre 2030 mindestens fünf Gigawatt Elektrolyseleistung zur Erzeugung von grünem Wasserstoff installiert" haben. Hamburg sucht noch einen Investor für das 150-Millionen-Euro-Projekt der weltgrößten Anlage für Wasserstoff-Elektrolyse mit einer Leistung von 100 Megawatt.
Am 29. Januar 2020 wurde der mit fünfwöchiger Verspätung erstellte Entwurf einer "Nationalen Wasserstoffstrategie" des Bundeswirtschaftsministeriums bekannt; der Plan ist jetzt in die Ressortabstimmung gegangen. In ihm soll der sogenannte "CO2-freie" Wasserstoff eine "zentrale Rolle" bei der Energiewende spielen. Zu seiner Erzeugung und Verteilung sollen Versorgungsinfrastrukturen aufgebaut, Forschung und Innovationen sollen gefördert werden.
Bei Wasserstoff soll Deutschland eine Marktführerschaft aufbauen, die möglichst nicht wie in der Photovoltaik wieder ins Ausland abwandert. Aber Wasserstoff wird im industriellen Maßstab zunächst nicht allein aus Wind- oder Sonnenstrom produziert werden können. Damit bis 2030 zumindest 20 Prozent des Wasserstoffs aus nachhaltigen Quellen stammen, will die Bundesregierung Elektrolyse-Kapazitäten fördern. Geplant sind drei bis fünf Gigawatt.
Die Leitstudie der Deutschen Energie-Agentur (dena) von Juli 2018 geht sogar davon aus, dass 2030 in Deutschland Elektrolysekapazitäten von 15 GW bereitstehen können.
Auch die Deutsche Energie-Agentur rechnet vor, dass in Verkehr und Industrie zunehmend elektrolysebasierter Wasserstoff eingesetzt werden müsse, wenn man die Klimaziele erfüllen wolle. 2050 wären zwischen 147 und 169 TWh Grüner Wasserstoff erforderlich. Dementsprechend empfehlen schon heute Spekulanten Wasserstoff-Aktien.
Eine "Dekarbonisierung der Stahlproduktion" mit dem Ersatz von Koks durch Wasserstoff wird wegen der bis 30 Jahre dauernden Investitions- und Innovationszyklen in der Stahl- und Chemieindustrie wohl erst ab 2040 umfangreich zum Einsatz kommen. 2050 soll der Anteil von Wasserstoff (in Reinform oder als Beimischung zu synthetischem Methan) am Energiebedarf in der Stahlindustrie bis zu 20 Prozent betragen, 8,5 Prozent in der Chemieindustrie und 28 Prozent in der Stein-und-Erden-Industrie, wo die Zementherstellun fast 8 Prozent der globalen Kohlendioxidemissionen verursacht.
Wasserstoff für Auto- und Schwerlastverkehr?
Strittig in der GroKo ist der Einsatz von Wasserstoff im Verkehrssektor. Das SPD-geführte Bundesumweltministerium will ihn fast ausschließlich in der Stahl- und Chemieindustrie sowie im See- und Luftverkehr einsetzen lassen und setzt bei Pkw auf Elektro-Antriebe. Das Wirtschafts- (CDU) und das Verkehrsministerium (CSU) dagegen wollen "CO2-freien" Wasserstoff auch für den Auto- und Schwerlastverkehr fördern, "um dem Verbrennungsmotor noch eine Zukunft zu geben".
Das sei ein Beitrag zur Reduktion der Treibhausgasemissionen des Verkehrs. Daher will man, wie von der Mineralölwirtschaft seit Jahren gefordert, die Verwendung von Wasserstoff bei der Produktion von Kraftstoffen auf die Treibhausgasminderungsquote anrechnen lassen. Außerdem soll eine verschärfte Quote für CO2-freie Kraftstoffe dem Wasserstoff im Verkehr zum Durchbruch verhelfen. Diese soll bis 2030 bei 20 Prozent liegen und somit höher sein als von der EU vorgesehen.
Und das Wasserstoff-Tankstellennetz soll vergrößert werden. Die fünf norddeutschen Küstenländer halten für die "Versorgung mit grünem Wasserstoff für Mobilität und Industrie ... ca. 250 Wasserstoff-Tankstellen [für] erforderlich".
Das sind gute Nachrichten etwa für den norwegischen Wasserstoff-Tankstellenbetreiber Nel Asa. Aber auch die beiden Industriegase-Giganten Linde und Air Liquide werden von solchen Plänen profitieren.
Im Juni 2016 waren 21 Wasserstofftankstellen mit der Standard-Betankungstechnologie von 700 bar für Pkw in Deutschland in Betrieb. Oktober 2019 waren es 75 Wasserstoff-Tankstellen und weitere 24 waren fertiggestellt, in Genehmigung bzw. in Planung. Bis 2025 [sollen] deutschlandweit insgesamt bis zu 400 Tankstellen verfügbar" sein.
Wasserstoff aus Afrika
Der größte Teil des Wasserstoffs soll im Ausland, in Nordafrika oder Australien, aus Wind- oder Sonnenstrom produziert und importiert werden. Die alte Desertec-Idee könnte wiederaufleben.
Der Wasserstoff könnte in Form von Ammoniak per Schiff nach Europa transportiert werden, deutsche Anlagen- und Maschinenbauer erhielten neue Absatzmärkte. Je ungünstiger die Bedingungen für erneuerbare Stromerzeugung in Deutschland sein werden, desto mehr Wasserstoff würde aus dem Ausland importiert. Forschungsministerin Karliczek (CDU) nennt den grünen importierten Wasserstoff "das Öl von morgen". Sie will den deutschen Energiebedarf bis 2050 zu mehr als der Hälfte aus importiertem und nachhaltig erzeugtem Wasserstoff vor allem aus Afrika decken.
"CO2-freier" Wasserstoff: sauberer Grüner + schmutziger Blauer + pyrolytischer Türkiser Wasserstoff
Die nationale Wasserstoffstrategie des Wirtschaftsministeriums sieht vor, dieses Gas im industriellen Maßstab herzustellen. Doch es gibt bisher kaum klimaneutralen "Grünen", mit erneuerbaren Energien durch Elektrolyse hergestellten Wasserstoff. Für den anderen, den "blauen" Wasserstoff1 wird überwiegend fossiles Erdgas mit Dampfreformierung aufgespalten in Wasserstoff und das Treibhausgas Kohlendioxid; es entsteht genauso viel CO2 wie bei einer Verbrennung des Gases.
Deshalb vermeidet das BMWi die Unterscheidung zwischen "grünem" und "blauem" Wasserstoff und redet - zum Unmut des SPD-geführten Umweltministeriums - lieber pauschal von "CO2-freiem Wasserstoff".
Lieferanten aus Norwegen und Russland stehen bereit, blauen Wasserstoff zu liefern; Norwegen würde das Klimagas CO2 abscheiden und in alten Gasspeichern unterirdisch einlagern. Doch das sogenannte Carbon Capture and Storage (CCS) war in Deutschland, auf heftigen Widerstand gestoßen, so dass die Regierung von dem Vorhaben abgerückt war. Im Klimapaket des Bundes war CCS nach Jahren erstmals wieder als Option genannt worden. Würde CO2 aus der Wasserstoff-Produktion in Norwegen gespeichert, würde dies auch die Debatte für Industrieunternehmen öffnen. Sie könnten ihr CO2 dorthin bringen und so als "grün" gelten.
Um konkurrenzfähig zu werden, fordern Elektrolyse-Unternehmen, den eingesetzten Strom von der EEG-Umlage oder den Netzentgelten zu befreien:
Die elektrolysebasierte Wasserstoffherstellung könnte um etwa ein Drittel günstiger werden, würden Elektrolyseure nicht mehr als Letztverbraucher beim Strom gelten und damit von der EEG-Umlage befreit.
Das dürfte insbesondere die Stromübertragungsnetzbetreiber Amprion und Tennet hellhörig machen. Die Unternehmen haben unabhängig voneinander zwei große Projekte geplant im Norden Deutschlands. Sie wollen dort aus überschüssigem Windstrom mittels Elektrolyse klimaneutralen Wasserstoff herstellen.
Pyrolyse: Türkiser Wasserstoff
Wissenschaftler am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) entwickeln derzeit im Labormaßstab eine Methode der Wasserstoff-Gewinnung, die ohne die klimaschädlichen Emissionen auskommt. Dabei zerfällt das Methan des Erdgases bei 1.200 Grad Celsius in einer Pyrolyse-Reaktion in seine Bestandteile Kohlenstoff und Wasserstoff:↓
CH4 -> C + 2H2
Der als mikrogranulares Pulver anfallende reine Kohlenstoff ist ein nützliches Abfallprodukt. Laut Deutsche Energie-Agentur könnte ab 2035 eventuell ein Durchbruch der Methanpyrolyse-Technologie erfolgen und für die Ammoniaksynthese eingesetzt werden. Und mit Pyrolyse-Wasserstoff könnte zumindest das bei der Gasförderung aus dem Boden entweichende besonders klimaschädliche Methan CO2-neutral verwertet werden. Wegen dieser Methan-Entweichungen setzt russische Erdgas gleichviel CO2e (CO2-Äquivalente pro erzeugter Kilowattstunde Strom) frei wie Kohle, Fracking-Gas aus den USA sogar 40 Prozent mehr CO2e als Kohle.
Widersprüchliches zum Strombedarf 2030
Die Klimapolitik hängt ab von einer ökologisch verträglichen Stromerzeugung. Doch die Bundesregierung plant nicht, wie stark der gesamte Stromverbrauch zurückgehen solle, um Ressourcen zu schonen. Stattdessen prognostizieren Bundesregierung und Bundesnetzagentur, dass der Strombedarf in zehn Jahren knapp unter dem heutigen Niveau liegen würde. In den letzten acht Jahren lag er (einschließlich Verluste in den Netzen) bei jährlich ca. 600 Terawattstunden (= TWh = Billionen Wattstunden). Der Faktor "Steigerung der Energieeffizienz" könnte laut Agora Energiewende dazu beitragen, dass bis 2030 50 TWh weniger Strom verbraucht wird.
Andere Experten prognostizieren für 2030 einen Bruttostromverbrauch von 683 TWh [Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik] oder gar 748 TWh [Energiewirtschaftliches Institut der Universität Köln, EWI, Max Gierkink].
Das EWI führt für dieses Wachstum folgende Faktoren an:
- mehr Stromverbrauch durch Elektromobilität: von 11 TWh (2019) auf 75 TWh (2030)
- CO₂-neutraler Wasserstoff durch Elektrolyse: plus 55 TWh
- Digitalisierung
- Wärmepumpen, die Gas- und Ölheizungen verdrängen
- Wirtschaftswachstum: plus 35 TWh
Dieser prognostizierte Strommehrbedarf 2030 könnte gedeckt werden durch:
- Photovoltaik: von heute ca. 50 auf 66 Gigawatt (GW) (Prognose EWI) bzw. auf 98 GW (Prognose Bundesregierung),
- Windenergie an Land: von heute ca. 53 auf 68 GW (EWI und Bundesregierung) durch 4.500 neue Windräder.
Für das Lastmanagement der Stromversbrauchs "kann die Wasserstoffproduktion zur (saisonalen) Lastglättung beitragen und eine wichtige Energiesystemdienstleistung erbringen", empfiehlt das Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen 2018.
Hoher Stromverbrauch mit niedrigem EE-Anteil läßt Klimapolitik scheitert
Aber der Windenergie-Ausbau ist praktisch zum Erliegen gekommen: 2019 wurden nur 325 neue Windräder (Gesamtleistung: 1 GW) gebaut, so wenig wie in den Neunzigern. Erforderlich wäre dagegen einen Zubaubedarf bei der Windenergie von 4 GW jährlich, um die Ausbauziele der Bundesregierung zu erreichen, und von 7 GW jährlich, um das Pariser Klimaabkommen einzuhalten.
Wenn der Stromverbrauch wächst und der Ausbau der erneuerbaren Energien weiter blockiert wird, dann wird der EE-Anteil bei 43 Prozent bleiben und die von der Bundesregierung für 2030 angepeilten 65 Prozent werden weit verfehlt. Dann scheitert die Klimapolitik.
Die Bundesregierung formuliert (wie auch EU-Kommission & Rat) mit ihrer Wasserstoffstrategie und ihren Green Deals keine verbindlichen Umweltziele und keinen Einstieg in eine ökologisch tragfähige Wirtschaftsweise. Vielmehr will sie mit Anreizen und Subventionen einen wettbewerbsorientierten Energiemarkt "designen", auf dem im post-fossilen Zeitalter globale Geschäfte gemacht werden sollen. Da nach neoliberaler Logik der Markt das Weitere gut regelt, soll er dann irgendwie auch das Klima retten. Wenn er dieses Wunder nicht vollbringt, würde sich bewahrheiten, dass der Kapitalismus das einzige System ist, das auch noch mit der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen Geschäfte macht?