Streitthema Hamburger Schulreform

Beim Volksentscheid über die Schulreform geht es auch um unterschiedlichen Vorstellungen von der Gesellschaft

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am Sonntag, den 18. Juli stimmen 1,25 Millionen wahlberechtigte Hamburger im Volksentscheid darüber ab, ob eine Primarschule über sechs Jahre eingeführt wird oder die Grundschule erhalten bleibt. Die Bürger wählen zwischen der schwarz-grünen Schulreform oder dem Bürgerbündnis Wir wollen lernen!. Doch der Bürger entscheidet am Sonntag nicht nur über eine Schulreform, sondern über ein Gesellschaftskonzept und laut Gerüchten auch über den zukünftigen Oberbürger von Hamburg.

Medien-Umfragen sagen ein knappes Kopf-an-Kopf-Rennen voraus. Rund 41 Prozent der Wähler unterstützen die Volksinitiative, und 38 Prozent die Vorlage der Bürgerschaft. Während die Wähler der SPD sowie der Regierungspartei GAL sich mehrheitlich für das Reformprojekt der schwarz-grünen Koalition aussprechen, scheinen sich viele Wechselwähler noch nicht schlüssig. Dazu kommen noch Reformgegner innerhalb der CDU sowie die Wähler der FDP, die gegen eine Gesetzesänderung sind.

Rein statistisch sei die Volksinitiative abgelehnt, wenn weniger als ein Fünftel der Wahlberechtigten zur letzten Bürgerschaftswahl, mindestens 247 335 Wähler dafür stimmen; die Volksinitiative weniger Ja- als Nein- Stimmen erhält und die Vorlage der Bürgerschaft an Ja-Stimmen nicht übertrifft, erklärt Abstimmungsleiter Willi Beiß. Eine Doppelabstimmung mit weitreichenden politischen Folgen. Der ohnehin amtsmüde Oberbürgermeister Ole von Beust, der seit 2001 im Hamburger Senat regiert und laut Hamburger Abendblatt und Spiegel zunehmend an der Kritik seiner Politik zu knabbern hat, könnte bei einem NEIN zur Schulreform sein Amt niederlegen.

Klassengesellschaft versus sozial-gerechte, multi-kulti Gesellschaft?

Beeindruckt hat das Bürgerbündnis den Senat bereits durch seine Unterschriftenkampagne, bei der 1.300 freiwillige Helfer aus allen Stadtteilen Hamburgs 184.500 Unterschriften zusammengetragen haben. Doppelt so viele Unterschriften, als eigentlich für die Durchführung eines Volksentscheids nötig sind.

Rechtsanwalt Walter Scheuerl (48 Jahre), Sprecher der Volksinitiative "Wir wollen lernen!", gibt sich deshalb im Interview mit Hamburg 1 optimistisch und glaubt an einen Sieg, den seine Mitstreiter der Bürgerrechtsbewegung über zwei Jahre mit vorbereitet hätten.

Scheuerls Schulkonzept legt auf Selektion und Leistung an. Die Gesellschaftsidee, die er vertritt, ist die pyramidale, die das Bildungsprivileg für die oberen Schichten garantieren möchte.

Die Argumente

Scheuerl kritisiert die Schulreform als unrentabl. "100 Millionen Euro werden für ein überflüssiges Primarschulexperiment zum Fenster hinaus geworfen", sagt Scheuerl, der vom Bund der Steuerzahler viel Unterstützung bekommt, in einem Videostreitgespräch von ?ild mit seiner Gegenspielerin, Schulsenatorin Christa Goetsch. Die Primarschule sei schlechter als die Grundschule, die Kinder würden nicht optimal entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert.

Christa Goetsch, die als ehemalige Lehrerin eine Hauptstreiterin der Schulreform ist, kontert geschickt. Der Senatsentwurf bereite die beste Bildungschance für alle Kinder. Und das unabhängig davon, aus welchem Stadtteil sie kämen, welchen Beruf die Eltern ausübten, ob sie Mehmet oder Anna hießen. Leistung würde nicht nach der Herkunft beurteilt, betont Goetsch. "Wenn die Kinder sechs Jahre zusammen in kleinen Klassen, mit neuer Lernkultur und mehr Lehrern lernen, verbessert sich so später ihre berufliche Perspektive", so die Schulsenatorin.

Goetsch weiß, wovon sie spricht, wenn sie bei allen Kindern für Chancengleichheit mit Beginn der Schullaufbahn plädiert. Im Unterschied zum Flächenstaat Bayern gehört der Stadtstaat Hamburg zu den Staaten mit dem höchsten Ausländeranteil in Deutschland. Von Hamburgs Erstklässlern hat jedes zweite Kind einen Migrationshintergrund. Häufig sind die Kinder im späteren Berufsleben benachteiligt. Der 8. Bericht der Bundesregierung zur Lage der Ausländer weist nach, dass 2008 13,5 Prozent der 15- bis 19-jährigen Jugendlichen mit Migrationshintergrund keinen Abschluss erzielten. Laut Bericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes macht nur jeder dritte Schüler Abitur und von den Schülern mit Migrationshintergrund nur jeder Zehnte. Der Grund: Die Eltern seien nicht genügend in die Schule integriert und Sprachförderung sowie Mehrsprachigkeit der Kinder nicht genügend unterstützt worden, kritisiert Michael Gwosdz, bildungspolitischer Sprecher der GAL-Bürgerschaftsfraktion.

Die letzten PISA-Studien 2000, 2003, und 2006 belegen jedoch Schwächen bei allen Jugendlichen in Deutschland in den Kernkompetenzen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Bei der Stichprobe 2006, wobei 500 Schülerinnen an 230 Schulen über Fragebögen in den Naturwissenschaften getestet wurden, lag Deutschland erstmals unter dem OECD-Durchschnitt. 2003 schnitten die Hamburger Schüler im Vergleich zu den Schülern in Bayern und Baden-Württemberg schlechter in Mathematik ab. 2006 bildete Hamburg in den Naturwissenschaften sogar das Schlusslicht im internationalen Vergleich der 15-Jährigen.

Senat setzt auf soziale Kernkompetenz an Schulen

Mit der Schulreform soll nicht nur die UN-Kinderrechtskonvention berücksichtigt werden, die jedem Kind das Recht auf Bildung entsprechend seiner Fähigkeiten zuerkennt, sondern ein längeres gemeinsames Lernen von der 1. bis zur 6. Klasse ermöglicht werden. Ähnlich wie an Privatschulen soll in der Primarschule ab der 1. Klasse Englisch unterrichtet werden. Dabei stehe die Förderung der sozialen Kompetenz durch mehr Lehrkräfte, kleinere Klassen bis 23 Kinder und die Unterstützung der leistungsschwächeren Kinder durch die Leistungsstärkeren im Vordergrund. So lernten die Kinder im Team und projektbezogen zu arbeiten, ihre Schwächen und Stärken zu artikulieren, und sie übernehmen Führungsrollen wie im späteren Beruf.

Beispiel Starterschule Grumbrechtstraße Hamburg-Harburg

Lautes Gerede zwischen den Kindern im Unterricht an der Starterschule Grumbrechtstraße in Hamburg-Harburg. Das ist kein Versehen, nein hier ist es Absicht, hier ist es Unterrichtsmethode. Nach Ansicht der Lehrerin können sich die Kinder durch den Austausch miteinander gegenseitig unterstützen, Fragen beantworten, miteinander lernen. Justin besucht die zweite Klasse der Grumbrechtschule und will "viel schaffen". Weil er gut im Diktat ist, übt er mit seiner Nachbarin Deutschdiktat und liest ihr laut vor. Im Hintergrund beobachtet eine Pädagogin das Lernen der Kinder. Starke Matheschüler helfen denen, die damit Probleme haben. Aber auch sie kommen nicht zu kurz. Für sie gibt es extra schwierigere Einzelaufgaben, die die Lehrerin für die Matheasse an die Tafel schreibt.

Im Unterschied zum trockenen Deutschunterricht an den normalen Grundschulen wird hier der Wortschatz der Kinder spielerisch bereichert. In einem Rap-Kurs lernen die Schüler Wortassoziationen, die sich reimen. "Der Baum, die Maus, das kunterbunte Haus" singen die Kinder im rhythmischen Sprechgesang und tanzen dazu. Nach dem Motto, nur wer Spaß am Lernen hat, lernt schnell und gut. Hinterher geben sie sich in der Gruppe ein Feedback, wer sich mehr bewegt oder nicht so deutlich gesprochen hat.

Und auch der Spanisch-Unterricht ist Anschauungsunterricht mit Alltagsbezug und findet auf dem Gemüsemarkt der Schule statt, wo die Kinder auf Spanisch die Früchte einkaufen. Das Konzept der Starterschule: Die Kinder lernen länger und nachhaltiger gemeinsam, wobei der Unterricht jedes Kind dort abholt, wo es steht. Ein Beispiel, das ab 1. August vielleicht in ganz Hamburg Schule machen wird.