Südkaukasus vor Großkrieg?

"Zerstörung eines armenischen Panzers". Bild: Verteidigungsministerium Aserbaidschan/gemeinfrei

Unterstützt von der Türkei starteten aserbaidschanische Truppen einen Großangriff gegen die armenische Region Nagorny-Karabach

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Seit dem Wochenende scheint der eingefrorene Konflikt um die abtrünnige Region Nagrony-Karabach rasch zu eskalieren, womit die Gefahr eines langfristigen Krieges zwischen den postsowjetischen Staaten Armenien und Aserbaidschan akut wird. Berichten der Konfliktparteien zufolge sollen - nachdem die Kämpfe am Sonntag entlang der gesamten Front der armenischen Enklave entflammt sind - bereits Dutzende Menschen getötet und Hunderte verletzt worden sein.

Der Krieg um Nagrony-Karabach - ein von Armeniern besiedeltes Gebiet, das ab 1923 als autonome Region der Sowjetrepublik Aserbaidschan zugesprochen wurde - bildete einen der schwersten Konflikte, die im Gefolge des Zerfalls der Sowjetunion ausbrachen. Im Verlauf der bis 1994 andauernden Kämpfe wurden Zehntausende Menschen getötet und mehr als eine Million vertrieben.

Als zentrale Konflikttreiber erwiesen sich dabei die Pogrome an der armenischen Minderheit Aserbaidschans 1990, die von Armenien sofort in Zusammenhang mit dem türkischen Genozid an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches im Jahr 1915 gebracht wurden. Armenien konnte den Krieg zwar für sich entscheiden, doch hat die aserbaidschanische Führung die Rückeroberung der ehemaligen sowjetischen autonomen Region zu einer Maxime ihrer Außenpolitik erhoben.

Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig, die aktuellen Kämpfe begonnen zu haben. Laut der aserbaidschanischen Führung habe die Armee eines Landes eine "Gegenoffensive" gestartet, nachdem Armenien die Kämpfe provoziert habe. Aus Armenien hieß es wiederum, die aserbaidschanische Armee habe die international nicht anerkannte Republik Arzach, die auf dem Territorium der Region Nagorny-Karabach gegründet worden ist, am Sonntagmorgen mit schweren Waffen angegriffen. Dabei sollen auch zivile Ziele in der Hauptstadt von Arzach, dem rund 50.000 Einwohner zählenden Stepanakert, beschossen worden sein.

Aus Baku hieß es kurz nach Ausbruch der Kämpfe, die aserbaidschanische Armee habe bei ihren Angriffen bereits sieben Dörfer in Nagorny-Karabach erobert. Die Führung der Republik Arzach dementierte diese Berichte umgehend, hierbei handele es ich um "Lügen", man habe die Lage an der Front unter Kontrolle.

Generalmobilmachung und Kriegsrecht

Für den Ernst der Lage spricht indes die Tatsache, dass nicht nur Arzach, sondern auch die Republik Armenien die Generalmobilmachung anordnete und das Kriegsrecht ausrief. In mehreren Städten Armeniens sammelten sich bereits Freiwillige und einberufene Reservisten für den Fronteinsatz. Am frühen Sonntag bezeichnete der armenische Premier Nikol Paschinjan die aserbaidschanische Offensive als eine Kriegserklärung an das armenische Volk. Armenien sei "zu diesem Krieg bereit", so Paschinjan. Am Sonntagabend rief Baku das Kriegsrecht, sowie eine nächtliche Ausgangssperre in mehreren Großstädten und Frontnahen Regionen aus.

Beide Seiten meldeten bereits militärische Erfolge. Dutzende von Waffensystemen - hierunter Panzer, Drohnen, Hubschrauber, Luftabwehrsysteme, Transportfahrzeuge und Geschütze - sollen vernichtet worden sein. Aserbaidschan veröffentlichte Videoaufnahmen von der Zerstörung armenischer Luftabwehrstellungen, zudem wurden massive Luftangriffe auf Nagorny-Karabach bestätigt.

Videos der armenischen Armee zeigen indes die Ausschaltung mehrerer aserbaidschanischer Panzer bei ihrem Vormarsch in Nagorny-Karabach, sowie erfolgreiche Angriffe auf aserbaidschanische Militärkolonnen.

Russland ruft zur Waffenruhe auf, Türkei zündelt

In einer ersten öffentlichen Reaktion hat Russland, das als wichtigster Verbündeter Armeniens gilt, zu einer sofortigen Waffenruhe aufgerufen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow telefonierte in diesem Zusammenhang sowohl mit seinem armenischen wie mit seinem aserbaidschanischen Amtskollegen. In einer Erklärung des Kremls hieß es, Russland werde weiterhin seine Vermittlungsbemühungen fortsetzen. Überdies sprach Lawrow mit dem türkischen Außenminister, da Ankara als der zentrale Unterstützer Aserbaidschans agiert.

Obwohl die militärisch-technische Überlegenheit des ölreichen Aserbaidschans aufgrund des hohen Militäretats, der die Ausmaße des gesamten armenischen Haushalts erreicht, in den letzten Jahren zumindest theoretisch immer deutlicher wurde, scheint eine direkte militärische Intervention Moskaus in den Konflikt um Nagorny-Karabach unwahrscheinlich. Für Russland stellt Armenien aufgrund eines russischen Militärstützpunktes und der Übernahme der Energieinfrastruktur in dem Land eine wichtige geopolitische Basis in der Region dar, die den Einfluss des Westens an der russischen Südflanke abblocken soll.

Doch zugleich unterhält Moskau auch recht gute Beziehungen zu Aserbaidschan - vor allem als Waffenlieferant. Folglich dürfte Russland nur dann intervenieren, wenn Armeniens Territorium angegriffen würde, was die russischen Interessen in der Region direkt tangierte. Dies wäre etwa bei einem türkischen Angriff gegen die Republik Armenien der Fall, der inzwischen nicht mehr gänzlich ausgeschlossen werden kann.

Die sich rasch islamisierende Türkei hat auch in der aktuellen Eskalation sich offen auf die Seite der "aserbaidschanischen Brüder" gestellt. In einer Erklärung des türkischen Verteidigungsministeriums hieß es, das christliche Armenien spiele mit dem Feuer, da es "heroische aserbaidschanische Soldaten" getötet habe. Man wünsche den aserbaidschanischen "Märtyrern" die "Gnade Allahs", erklärte das türkische Verteidigungsministerium.

Beide Staaten hätten ein enges militärisches Bündnis geschmiedet, hieß es in türkischen Medien, das unter dem Motto "Eine Nation, zwei Staaten" stehe. Diesen türkischen Expansionsdrang im Südkaukasus unterstützt auch die türkische Opposition, die vor allem in der deutschen Öffentlichkeit gerne als eine "demokratische" Alternative zum autoritären Kurs der islamisch-nationalistischen Koalition um Erdogan verkauft wird.

Der außenpolitische Sprecher der größten Oppositionspartei der Türkei, der sozialdemokratischen CHP, bekundete ebenfalls volle Unterstützung für Aserbaidschan und gab seiner Hoffnung auf baldigen Frieden Ausdruck - indem Armenien sich aus den "besetzten Gebieten" zurückziehe.

Hinter der türkischen Haltung steht mehr als bloße propagandistische Rhetorik. Die rasche Eskalation im Kaukasus muss mit den gerade etwas abklingenden Spannungen im östlichen Mittelmeer im Zusammenhang gesehen werden.

Die Expansionspläne Ankaras in der Ägäis sind aufgrund der unnachgiebigen Haltung Frankreichs, das in offenen Gegensatz zum protürkischen Appeasement Berlins trat, vorerst gescheitert, sodass Erdogan - bedrängt von einer schweren Wirtschaftskrise im Innern - sich nach einem schwächeren außenpolitischen Angriffsziel umsehen musste.

Türkischer Dschihadistenexport gen Kaukasus

Seit der kurzfristigen militärischen Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan im vergangenen Juli hat sich Ankara verstärkt als der zentrale Unterstützer Aserbaidschans positioniert, was nicht nur durch nationalistische Propaganda, die über die desolate Wirtschaftslage hinwegtrösten soll, motiviert ist. Seit dem türkischen Genozid an den Armeniern, dessen verbissene Leugnung Teil türkischer Staatsräson ist, dienen Armenier als Sündenböcke und Feindbilder des türkischen Nationalismus wie Islamismus.

Hinzu kommen aber handfeste strategische Überlegungen. Mit der massiven Unterstützung für Baku will sich Ankara im Kaukasus als ein neuer geopolitischer Akteur etablieren, sodass sich die Türkei hier auf Konfrontationskurs mit Moskau bewegt. Die Türkei hofft, durch die Expansion in dieser traditionellen russischen Einflusssphäre ihre Abhängigkeit von russischen Lieferungen von Energieträgern mindern zu können.

Mitte August, kurz nach dem armenisch-aserbaidschanischen Zusammenstößen im Juli, weilte eine hochrangige türkische Militärdelegation in Baku, um eine raschen Intensivierung der militärischen Kooperation zwischen beiden Ländern zu besprechen, in deren Folge die Türkei zum "Partner Nr. 1" Aserbaidschans aufsteigen solle, so Staatschef Allijew anlässlich der Visite.

Insbesondere Mehrfachraketenwerfer und türkische Kampfdrohnen stoßen in Aserbaidschan auf rege Nachfrage. Zuvor, Anfang August, hielten türkische und aserbaidschanische Truppen gemeinsame Militärmanöver in dem Kaukasusstaat ab, die als Reaktion auf die Kämpfe in Nordarmenien vom Juli gewertet wurden.

Die Unterstützung des islamisch-nationalistischen Regimes in Ankara für die aufgrund ethnischer und religiöser Verbindungen als "Brudervolk" wahrgenommene Republik Aserbaidschan geht aber noch weiter. Israelische Medien meldeten kurz vor Ausbruch der aktuellen Feindseligkeiten, dass Ankara nicht nur die "Rhetorik" gegenüber Armenien verschärft, sondern zugleich mehrere hundert syrisch-islamistische Söldner nach Aserbaidschan verlegt habe, um die anstehende Offensive gegen Nagrony-Karabach zu unterstützen.

Ähnliche Berichte, die auch in griechischen Medien zirkulierten, sprechen von bis zu 1.000 Islamisten, die mit Gehältern von rund 600 US-Dollar geködert würden. Diese seit Tagen verbreiteten Meldungen berufen sich auf syrische Oppositionskräfte und kurdische Quellen in Nordsyrien, die ebenfalls von diesem türkischen "Dschihadistenexport" gen Kaukasus berichten.

Die günstigen Gotteskämpfer sollen nicht nur im türkisch besetzten Nordsyrien und dem Kanton Afrin rekrutiert werden, wo sie massive Menschenrechtsverletzungen begehen, sondern mitunter direkt aus Libyen verlegt werden, wo die türkische Praxis des Söldnerexports zuerst erfolgreich etabliert wurde. In Afrin sollen regelrechte Anwerbebüros für all jene Dschihadisten eröffnet worden sein, die bei den Plünderungszügen in Nordsyrien zu kurz kamen.

Damit scheint die Türkei nun im Kaukasus auf Eskalation zu setzen, indem sie auf die in Libyen bewährte Taktik einer informellen und indirekten militärischen Intervention setzt, bei der islamistische Söldnertruppen als Kanonenfutter dienen. Somit scheint Erdogan aber auch gegenüber Putin auf Konfliktkurs zu gehen.