Suppenküchen ja, aber bitte nicht für alle!
Europa ist auf neoliberalem Kurs - und entdeckt gleichzeitig seine soziale Ader
Nach der Verabschiedung der Dienstleistungsrichtlinie als uneingeschränktes Bekenntnis zur Globalisierung wird nun ein großzügiges Hilfspaket für die Benachteiligten derselben nachgeschoben. Deutschland will allerdings von derlei Hilfspaketen nichts wissen.
Aus einem demokratischen Kochbuch (Vorrede):
Wir enthalten uns hier ausdrücklich jeder Politik, da wir der demokratischen Auffassung sind, dass die Hauptgebiete des Lebens, wie zum Beispiel die Nahrungszufuhr, unpolitisch sind und es auch bleiben müssen. Daher folgen hier die Rezepte in der ungekürzten Fassung der Vorkriegszeit, ohne Rücksicht auf die Zeitereignisse.
Kurt Tucholsky
Es geht um ein Nahrungsmittelhilfsprogramm, das die Europäische Kommission aufstocken will. Solche Hilfen hat die EU bereits 1987 aufgelegt, nach einem extrem harten Winter. Zunächst verteilte Brüssel landwirtschaftliche Überschüsse. Als die Butter-, Milch und Apfelberge kleiner wurden, stellte die Union zunehmend Geld für den Kauf von Lebensmitteln zur Verfügung.
Mit einer öffentlichen Anhören, die im März diesen Jahres gestartet wurde, wollte die EU-Kommission nun in Erfahrung bringen, wie Wohltätigkeitsorganisationen, Regierungsstellen und interessierte nichtstaatliche Organisationen sowie die Öffentlichkeit zu den Plänen steht, das Programm auszubauen. Die Analyse der Kommission zeigte, dass mit der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) sich die Lage in den vergangenen Jahren grundsätzlich geändert hat. Die Lebensmittelbestände sind so niedrig wie nie zuvor, die Zahl der Bedürftigen sei dagegen gewachsen, und zuletzt stiegen auch noch die Lebensmittelpreise stark an. Fazit: Die EU-Kommission hält es für notwendig, die finanziellen Aufwendungen für die Fortsetzung des Programms zu erhöhen und den Ankauf von Nahrungsmitteln am freien Markt dauerhaft zu ermöglichen.
Den aktuellen Zahlen zufolge waren im Jahr 2006 in der EU-25 schätzungsweise 43 Millionen Menschen von Ernährungsarmut bedroht. Der prozentuale Anteil an der Bevölkerung reichte von 2 Prozent in Dänemark bis 37 Prozent in der Slowakei. In fünf der zehn neuen Mitgliedstaaten lag der Indikator über 20 Prozent. Kinder aus armen Familien gelten als besonders gefährdet. «Aus ihrer Ernährung können sich künftige gesundheitliche Probleme ergeben, z. B. eine verminderte Entwicklung des Gehirns und verminderte Lernfähigkeit», heißt es in dem Papier der Kommission. «Ältere Menschen leiden häufig unter Fehlernährung. Armut oder Behinderungen haben oft eine inadäquate und unzureichende Ernährung zur Folge.» Außerdem seien Obdachlose eindeutig gefährdet, ebenso wie Asylbewerber und irreguläre Wanderarbeitnehmer, die in den offiziellen Zahlen im Allgemeinen nicht auftauchen. «Aufgrund ihres Status kann es vorkommen, dass ihnen Sozialleistungen vorenthalten bleiben, und in den Suppenküchen machen diese Personen einen großen Anteil der Empfänger aus.»
In der öffentlichen Konsultation stellte die EU-Kommission gleich vier Optionen zur Debatte:
- Intervention als alleinige Bezugsquelle („Status quo“) Wenn nicht permanent auf Marktkäufe zurückgegriffen werden kann, könne das Programm auf die verfügbaren Interventionsbestände als einzige Bezugsquelle für Nahrungsmittel zur Abgabe an Bedürftige angewiesen sein. Diese würden unter der Verantwortung der Mitgliedstaaten gegen besser geeignete Nahrungsmittel derselben «Familie» ausgetauscht werden. Wie auch jetzt würden die Nahrungsmittel dann von Einrichtungen verteilt, die von den Mitgliedstaaten ausgewählt werden.
- Interventionsbestände, ergänzt durch Marktkäufe Grundlage dieses Programms wären weiterhin Entnahmen aus den Interventionsbeständen, sofern vorhanden, die durch Marktkäufe ergänzt würden. Sollten die verfügbaren Bestände ungeeignet sein (eignen sich beispielsweise die Erzeugnisse aufgrund ihrer Qualität nicht für den Verzehr) oder würden sich aus ihrem Standort unverhältnismäßig hohe Beförderungskosten ergeben, so wären die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, sie für das Nahrungsmittelhilfeprogramm zu verwenden.
- Ausschließlich Marktkäufe Die Bindung an die Interventionsbestände würde entfallen, und dieses Programm würde ausschließlich auf einer Übertragung von Haushaltsmitteln basieren, die für Marktkäufe zu verwenden wären. Die Mitgliedstaaten würden ohne Einschränkung darüber entscheiden, welche Erzeugnisse mit den zugewiesenen Gemeinschaftsmitteln beschafft werden sollen. Das Ergebnis wären wie bei Option 2 mehr Flexibilität, eine ausgewogenere Ernährung als derzeit möglich und eine effizientere Verwaltung des Nahrungsmittelhilfeprogramms. Wie bei Option 2 würde auf die Verbreitung von Informationen über die Angebote geachtet.
- Einstellung des Nahrungsmittelhilfeprogramms Da die verfügbaren Interventionsbestände abgenommen haben, hat das Programm einen Teil seiner Daseinsbegründung verloren und sollte nach 2009 eingestellt werden oder schrittweise auslaufen.
Nach dem Konsultationsverfahren hat sich die Kommission nun dazu verständigt, dem Europäischen Rat nun eine Überarbeitung des Nahrungsmittelhilfeprogramms auf der Grundlage der nachstehenden Elemente vorzuschlagen:
- Die Nahrungsmittel können aus Interventionsbeständen oder vom Markt bezogen werden. Die letztgenannte Möglichkeit wäre nicht länger auf Fälle beschränkt, in denen zeitweilig keine Interventionsbestände verfügbar sind. Allerdings wird dem Rückgriff auf Interventionsbestände, sofern solche zur Verfügung stehen, Vorrang eingeräumt.
- Damit die im Rahmen des Programms bereitgestellten Nahrungsmittel zu einer ausgewogeneren Ernährung beitragen, würden nicht mehr nur Erzeugnisse abgegeben, auf die die Intervention Anwendung findet. Die Nahrungsmittel würden von den Behörden der Mitgliedstaaten anhand von Ernährungskriterien ausgewählt und in Zusammenarbeit mit Partnern aus der Zivilgesellschaft verteilt.
- Nahrungsmittelhilfeaktionen erfordern eine langfristige Planung und eine sorgfältige Vorbereitung durch die betreffenden nationalen Behörden und Partner aus der Zivilgesellschaft. Zur Steigerung der Effizienz würde das gemeinschaftliche Nahrungsmittelhilfeprogramm für einen Zeitraum von drei Jahren aufgestellt. Die Beträge für das zweite und das dritte Jahr würden nur einen Richtwert darstellen und müssten anschließend von der Haushaltsbehörde bestätigt werden.
- Die Mitgliedstaaten würden ihre Anträge auf der Grundlage nationaler Nahrungsmittelhilfeprogramme einreichen und dabei ihre Ziele und Prioritäten in Bezug auf die Abgabe von Nahrungsmitteln an Bedürftige darstellen.
- Eine Kofinanzierung würde die kohäsionspolitische Dimension der Regelung stärken, eine ordnungsgemäße Planung gewährleisten und Synergien fördern. Zur Gewährleistung einer reibungslosen Einführung und einer weiterhin hohen Inanspruchnahme der bereitgestellten Gemeinschaftsmittel würde der gemeinschaftliche Kofinanzierungssatz für das Programm für 2010-2012 bei 75 Prozent bzw. - in den aus dem Kohäsionsfonds geförderten Mitgliedstaaten - 85 Prozent und anschließend, d. h. ab dem Programm für 2013-2015 bei 50 bzw. 75 Prozent liegen.
- Die Berichterstattungspflichten auf den verschiedenen Ebenen werden erweitert und schließen einen Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat bis spätestens 31. Dezember 2012 ein.
Zuletzt nahmen 19 der 27 Mitgliedstaaten das Programm in Anspruch - die Bundesrepublik gehört seit 1989 allerdings nicht dazu. Dabei stellt sich unweigerlich die Frage, warum Deutschland sich nicht am Programm beteiligt, denn am fehlenden Bedarf kann es nicht liegen. In den 15 Jahren des Bestehens versorgen inzwischen 800 Tafeln hierzulande nach eigenen Angaben nahezu eine Million Menschen mit gespendeten Lebensmitteln. «Dass sich Einrichtungen wie die Tafeln in dieser kurzen Zeit etablieren konnten, zeigt, wie löcherig das soziale Netz geworden ist», resümierte beispielsweise der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes Deutsche Tafel, Gerd Häuser anlässlich der Jahrespressekonferenz in Magdeburg.
Als sich die ersten Tafeln gegründet haben, ging es noch vorwiegend darum Obdachlosen zu helfen», sagte Häuser. Doch mit den Jahren sei immer deutlicher geworden, wie viele Menschen tatsächlich bedürftig sind: Heute suchen Langzeitarbeitslose sowie Familien mit Kindern, darunter viele Alleinerziehende, die Unterstützung der Tafeln. Zu ihren «Kunden» zählen aber auch Berufstätige und Rentner, deren Einkommen kaum zum Leben reicht. Sie alle sind Empfänger staatlicher Transferleistungen. «Die Tafeln füllen eine größer werdende sozialpolitische Lücke», weiß Häuser. «Dass es sie überhaupt geben muss, ist ein Armutszeugnis für ein nach wie vor reiches Industrieland wie Deutschland.
Gerd Häuser
Die deutsche Bundespolitik sieht das offenbar anders. Im Landwirtschaftsministerium hieß es auf Nachfrage des Westdeutschen Rundfunks (WDR), man werde auf diese Unterstützung verzichten, denn man sei gegen das Brüsseler Hilfsprogramm. Bereits 2006 hatten die deutschen «Tafeln» den Antrag gestellt, an diesem Programm beteiligt zu werden. Bundesminister Horst Seehofer lehnte ab. In einem Brief schrieb er sinngemäß, dass die europäische Unterstützung den in Deutschland mit staatlichen Geldern finanzierten Regelleistungen widerspreche. Außerdem sprach er der Kommission eine Zuständigkeit ab: «Als rein sozialpolitisch motivierte Maßnahme fehlt der Europäischen Union die Legitimation ein solches Programm durchzuführen.»
Die zuständige EU-Kommissarin Mariann Fischer Boel stellte auf Nachfrage den Vorwurf der Bundesregierung in Abrede. Das Programm stehe auf soliden europäischen Füßen und müsse nur durch gesetzliche Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten untersetzt werden. «Es besteht heute ein höherer Bedarf als je zuvor», sagte sie. Obwohl der Lebensstandard in der EU durchschnittlich zu den höchsten der Welt gehört, gebe es «auch hier Menschen, die sich nicht ausreichend ernähren können». Schätzungsweise 43 Millionen Menschen in der EU leben am Existenzminimum, sagte sie. Diese können sich nicht einmal jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Huhn oder Fisch leisten.
Seit 1986 hat die Europäische Kommission im Rahmen der Nahrungsmittelhilfe für bedürftige Personen in der Gemeinschaft rund 2,5 Milliarden Euro bereitgestellt. Im Jahr 2007 zählte das Programm über 13 Millionen Begünstigte in 18 Mitgliedstaaten. Allein Belgien erhielt im vergangenen Jahr Nahrungsmittel für 8,4 Millionen Euro. Zurzeit nehmen 19 Mitgliedstaaten an dem Programm teil, dagegen beteiligen sich außer Deutschland auch Slowenien, Schweden, die Niederlande und Großbritannien nicht daran.