Supraleiter schmuggelt Hitze über Theoriegrenzen

Neues Stück im Puzzle der Physik kondensierter Materie

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Bisher gingen die Physiker davon aus, dass der Transport von Wärme und Elektrizität in einem Leiter nach bestimmten Regeln miteinander verbunden ist. Neue Experimente mit einem Hochtemperatur-Supraleiter zeigen nun, dass dieses Material sich anders verhält. Das bedeutet, dass grundlegende Theorien überprüft werden müssen.

Canadian Institute for Advanced Research (CIAR)

R.W. Hill, Cyrill Proust, Louis Taillefer von der University of Toronto, Canada sowie Patrick Fournier und R.L. Greene von der University of Maryland, College Park, Maryland veröffentlichen ihre Ergebnisse in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsjournals Nature. Sie untersuchten die Leitfähigkeit von Wärme und Elektrizität in dem Kupferoxid-Supraleiter (Pr,Ce)2CuO4 kurz PCCO genannt.

PCCO ist ein Hochtemperatursupraleiter, also eine Verbindung, die im Verhältnis zu reinen Metallen bei relativ hohen Temperaturen supraleitende Eigenschaften zeigt. Als Hochtemperatur-Supraleiter bezeichnet man Materialien, die oberhalb von 77,15 Kelvin (minus 196 Grad Celsius), der Temperatur flüssigen Stickstoffs, supraleitend werden, d.h. ihren Ohm'schen Widerstand verlieren und den elektrischen Strom fast verlustfrei transportieren. Den Temperatur-Weltrekord halten bisher die keramischen Kupfer-Sauerstoff-Verbindungen, so genannte Oxocuprate, die bereits bei 160 Kelvin (minus 113 °C) supraleitend werden. Als extrem viel versprechend für kommerzielle Anwendungen gilt inzwischen auch das extrem preisgünstige Material Magnesiumdiborid (MgB2), das bei 39 Kelvin (minus 234 °C) supraleitend wird (Vgl. Die Mechanismen der Supraleitung bei Magnesiumdiborid).

Die Mechanismen der Hochtemperatur-Supraleitung sind noch rätselhaft, auch wenn kürzlich Wissenschaftler neue Analysen des photoelektronischen Spektrums von Kupferoxid-Supraleitern vorlegten, die zeigten dass sie sich ähnlich wie konventionelle Supraleiter verhalten (Vgl. Der Knick im Supraleiter).

Der aktuelle Artikel des kanadisch-amerikanischen Teams um Hill wird die Diskussion um die unkonventionellen Eigenschaften der Hochtemperatur-Supraleiter sicherlich neu beleben. Sie berichten von ihrem Versuch, PCCO auf extrem niedrige Temperatur, also Null Kelvin oder minus 273 °C, gekühlt und dann mithilfe eines magnetischen Feldes die Supraleitfähigkeit unterdrückt zu haben. Das verblüffende Resultat: das Kupferoxid leitete mehr Wärme als es nach herkömmlichen Ansätzen möglich ist. Das so genannte Wiedemann-Franz-Gesetz, ein Wärmeleitungsgesetz, gilt in der Physik seit fast 150 Jahren und es bestimmt das Verhältnis von elektrischer Leitung und Temperatur. Es besagt, dass das Verhältnis aus thermischer zu elektrischer Leitfähigkeit proportional zur absoluten Temperatur ist. Deshalb können die Temperaturkoeffizienten der thermischen Leitfähigkeit näherungsweise aus der elektrischen Leitfähigkeit bestimmt werden.

Wiedemann und Franz hatten aufgezeigt, dass es eine bemerkenswerte Korrelation zwischen thermischer und elektrischer Leitfähigkeit in verschiedenen Metallen gibt, gute elektrische Leiter sind auch effektive Leiter von Wärme. Der Nachweis des Wiedemann-Franz-Gesetz in Materialien wird bei Temperaturen nahe des absoluten Nullpunkts durchgeführt und galt bisher als unumstößlich.

Die Erkenntnis, dass das Kupferoxid PCCO als erstes bekanntes Material das Wiedemann-Franz-Gesetz bricht, hat zur Folge, dass weitere als gesichert geltende Theorien ins Wanken geraten. Seit Mitte der 50er Jahre gibt es die von dem Nobelpreisträger Lev Landau entwickelte Theorie der Fermi-Flüssigkeit. Die wechselwirkenden Elektronen werden durch so genannte "Quasiteilchen" (Fermionen) ersetzt, also als frei definierte Teilchen. Der Unterschied zwischen Elektronen und Quasiteilchen besteht darin, dass deren träge Masse gegenüber der von freien Elektronen erhöht ist. Die Erhöhung der trägen Masse entspricht der Stärke der Wechselwirkung. Die meisten metallischen Elemente und Verbindungen sind Fermi-Flüssigkeiten.

Kamran Behnia von der Ecole Superieure de Physique et de Chimie Industrielles in Paris, Frankreich stellt in seinem begleitenden News&Views-Artikel in der gleichen Ausgabe von Nature fest, dass die Hochtemperatursupraleiter von der Wissenschaft immer noch nicht umfassend verstanden werden. Die neue Analyse der Physiker um Hill stellt grundlegend einige der anerkannten Ansätze in Frage. Es gab bereits Versuche, die erwiesen hatten, dass Landaus Quasiteilchen nur im supraleitenden Zustand aufzutreten schienen. Erklärt wurde dieser Nicht-Fermi-Flüssigkeitszustand mit der Möglichkeit der Trennung von zwei fundamentalen Eigenschaften des Elektrons: des Spins und der Ladung. Das konnte aber experimentell nicht belegt werden. Hill und Kollegen sind einen ganz neuen Weg gegangen.

Sie haben an Hand des Kupferoxids PCCO, das eine Sprungtemperatur von 20 Kelvin ( minus 253 °C) hat, belegt, dass es bei sehr tiefen Temperaturen und Unterdrückung der Supraleitfähigkeit durch ein schwaches Magnetfeld keine Korrelation zwischen thermaler und elektrischer Leitfähigkeit gibt. Es findet ein unerwartet hoher Transport von Wärme statt. Behnia zieht das Fazit:

Hill und Kollegen berichten, dass ein Kopferoxid-Material, bei tiefen Temperaturen (nahe dem absoluten Nullpunkt oder minus 273 °C) und Unterdrückung des supraleitenden Zustands, das Wiedemann-Franz-Gesetz bricht. (...) Weil das Wiedemann-Franz-Gesetz eine natürliche Konsequenz des Fermi-Flüssigkeits-Bildes ist, hat dieser spektakuläre Gesetzesbruch unmittelbare Konsequenzen für das Verständnis der elementaren Anregungen in Kupferoxiden. Als Nominalwert genommen, bedeutet es, dass elektrische Ladung und Wärme nicht von dem gleichen Typ elektrischer Anregung transportiert werden, vielleicht gibt es wirklich eine Art von Spin-Ladungs-Trennung in diesen Materialien. Das alles ist tatsächlich erst der Anfang. Wir werden die Messungen von Supraleitern mit unterschiedlichen Beimengungen, also unterschiedlichem chemischen Dopings, wiederholen müssen, um genau zu bestimmen, wo das Bild der Fermi-Flüssigkeit einbricht. Darüber hinaus werden Studien anderer Verbindungen mit stärkeren magnetischen Feldern zeigen, ob der exzessive Wärmefluss mit dem Spin des Elektrons verbunden ist, wie es vermutet wird. Viele Teile des riesigen Puzzles der modernen Physik kondensierter Materie warten noch darauf, an ihren Platz gelegt zu werden.