Symptomatisch?!

Seite 3: Merkels bittere Bilanz

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Niemand hätte 2009 ahnen können, dass nach vier Merkel-Jahren die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Währungsunion zerstört, die Kriterien des Maastricht-Vertrags faktisch über Bord geworfen sind. Niemand hätte 2009 ahnen können, dass das nationale Haushaltsrecht der einzelnen Mitgliedsstaaten immer weiter ausgehöhlt, die Finanzpolitik der nationalen Eigenverantwortung immer weiter entzogen wird. Niemand hätte im Traum daran gedacht, dass die Deutschen für die Schulden von Griechen, Iren, Portugiesen, Spaniern, Zyprioten - und es werden nicht die letzten sein – einmal geradestehen müssen.

Die bisher geltenden Anreize für eine solide Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten sind mit der faktischen Vergemeinschaftung der Schulden beseitigt worden. Diese Politik der Kanzlerin wird uns alle noch teuer zu stehen kommen. Ganz unmerklich, gleichsam auf leisen Sohlen, und von einer breiten Öffentlichkeit noch weitgehend unbemerkt haften die deutschen Steuerzahler zwischenzeitlich für die Schulden ihrer Euro-Partner in einer Höhe von über 700 Milliarden Euro. Und das ist nicht das letzte Wort.

"Policy Mainstreaming"

Merkel hat es geschafft, die großen Themen deutscher Politik aus dem „Parteienstreit“ herauszuhalten. Das ist ihrer größter Coup, ihre größte politische Leistung. Damit hat sich das politische Meinungsspektrum in den letzten Jahren bedenklich eingeengt. Grundsatzfragen deutscher Politik werden kaum noch debattiert; grundlegende Differenzen sind zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien nicht mehr auszumachen. Unterschiede sind nur noch in Nuancen, gleichsam im Kleingedruckten, zu erkennen. Ein Geschäft für Journalisten und Politologen.

Angela Merkel steht seit ihrem Amtsantritt 2005 faktisch einer inoffiziellen Allparteienkoalition vor, die - bis auf die rückwärtsgewandte „Linke“ - in den wesentlichen Fragen deutscher Politik an einem Strang zieht. Ob es sich um Finanz- oder Haushaltspolitik, Europa-, Außen- oder Sicherheitspolitik, Energie- und Umweltpolitik handelt, ob es um Gesundheits- oder Familienpolitik, Renten- oder Arbeitsmarktpolitik, um Mindestlohn oder selbst um Scheinfragen wie der Frauenquote geht, immer ist die Kanzlerin zur Stelle und kündigt Abhilfe an. Ein „policy mainstreaming“ hat sich bei uns breitgemacht, das omnipotent erscheint und das die Debatten beherrscht: in den Parteien, in den meisten Medien, in den Verbänden, den Gewerkschaften, ja selbst in den Kirchen.

Selbst bei Wahlen tendiert der Einfluss der Bürger zwischenzeitlich gegen Null. Hat die Bundeskanzlerin im Wahlkampf 2009 etwa gesagt, was sie zur Rettung des Euros so alles vorhat und zu was sie sich alles bereitfinden wird? Natürlich nicht. Hat sie von der europäischen Haftungs- und Schuldenunion gesprochen? Nein. Hat die Bundeskanzlerin gesagt, der deutsche Steuerzahler müsse einen Teil der Staatsschuld Griechenlands übernehmen. Nein. Sie hat das Gegenteil versprochen. Hat die Bundeskanzlerin gesagt, sie würde dem Aufkauf von Schrottpapieren deutscher und vor allem französischer Banken durch die EZB zustimmen? Natürlich nicht. Sie hat das Gegenteil versprochen.

Hat die Bundeskanzlerin damals im Wahlkampf 2009 vom Atomausstieg und von der Energiewende gesprochen? Nein, sie sprach von der Verlängerung der Laufzeiten bestehender Kraftwerke und der Notwenigkeit eines vernünftigen Energiemix. Natürlich: Fukushima! Die Japaner hatten die Katastrophe und bleiben dennoch bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie und die Deutschen - die haben den Atomausstieg mit steigenden Strompreisen und immer weniger Versorgungssicherheit. Ein Thema der politischen Klasse? Weit gefehlt. Dabei wusste jeder Bescheid. Natürlich steigen die Strompreise weiter und die Versorgungssicherheit nimmt ab.

Unerledigt, ungeklärt

Und wie sieht es heute aus? Im Wahlkampf 2013? Wer spricht über die vergangenen vier doch sehr ereignisreichen Jahre. Wer spricht z. B. über den beängstigenden Bedeutungsverlust des Deutschen Bundestages, wer über die ständigen Mahnungen des Verfassungsgerichts an die Regierung, die Souveränitätsrechte der Bundesrepublik zu wahren und zu achten und die Rechte des Parlaments nicht weiter auszuhöhlen.

Klaus Funken

Keine Auseinandersetzung mehr darüber, dass die Finanzpolitik der Euro-Länder in nationaler Eigenverantwortung bleiben muss. Keine Auseinandersetzung mehr darüber, dass Mitgliedstaaten, auch die Europäische Union nicht, für die Schulden eines anderen Mitgliedstaates eintreten. Alles Schnee von gestern. Längst vergessen. Und es gibt keine Opposition, die dies der Merkel-Regierung vorhält.

Im Wahlkampf müsste man doch jetzt fragen: Wie geht es weiter mit der Haftung und wohlmöglich auch Übernahme von Schulden süd- und westeuropäischer Staaten? Welche Belastungen kommen auf die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich zu? Welchen Entscheidungsspielraum haben die deutschen Volksvertreter bei der sogenannten „Euro-Rettung“ überhaupt noch? Ist der „materielle (unantastbare) Identitätskern unserer Verfassung“ noch gegeben, wenn das Budgetrecht des Parlaments immer weiter eingeschränkt wird und wenn beispielsweise ein Kommissar aus Brüssel dem Deutschen Bundestag die Haushaltspolitik vorschreibt?

Was tun Regierung und ihre Vertreter in den europäischen Gremien, um den Zugriff südeuropäischer Regierungen auf die deutschen Steuermilliarden abzuwehren? Es drängt sich der Eindruck auf, dass zwischenzeitlich Hollande, Monti und Rajoy ungeniert den Takt bei der Euro-Rettung vorgeben, die Schuldner den Gläubigern also die Bedingungen diktieren. Wie lange kann das gut gehen? Für die „Allparteien-Koalition“ unter Merkel im Deutschen Bundestag kein Thema. Und im kommenden Wahlkampf vermutlich auch nicht.

Die wohlklingende Chimäre

Dafür nun die wohlklingende Chimäre von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Die harten geld- und finanzpolitischen Entscheidungen der vergangenen Jahre sollen nun tröstend überhöht, ja versöhnt werden mit der Zukunftsvision eines europäischen Bundesstaates, in dem die Nationalstaaten der Europäischen Union aufgehen werden. Nur: Wer will in Europa eigentlich die „Vereinigten Staaten von Europa“? Klar die Briten nicht, die Iren auch nicht, das wissen alle.

Die Franzosen, die Spanier, die Italiener? Vermutlich auch nicht. Es war doch die sozialistische Partei Frankreichs, die maßgeblich dazu beigetragen (allen voran der heutige Außenminister Laurent Fabius) hat, den europäischen Verfassungsvertrag zu Fall zu bringen. Wer in Osteuropa will die gerade erst errungene Souveränität gegen einen Bundesstaat eintauschen? Wahrscheinlich niemand. Die Griechen? Die fürchten sich heute schon vor dem von Deutschland dominierten Europa. Die Niederländer, die Belgier? ja natürlich die Luxemburger.

Und Hand aufs Herz: Wer in Deutschland will einen europäischen Bundesstaat? Natürlich seit eh und je die politischen Parteien, die Meinungsmacher, die Gewerkschaften, die Wirtschaftskapitäne der Großunternehmen. Das vereinte Europa als Elitenprojekt - wieder mal. Jetzt wird ein Volksentscheid z. B. von Finanzminister Schäuble „angedacht“, der vermutlich dann zu einem Zeitpunkt anberaumt wird, an dem aufgrund der bekannten „eisernen Logik der Sachzwänge“ eine echte Entscheidung gar nicht mehr möglich ist.

Einmal ganz konkret gefragt

Und was sagen die Parteien den Bürgern in ihren Programmen zu den „Vereinigten Staaten von Europa - einmal ganz konkret gefragt? Wann kann der Bürger über eine europäische Verfassung entscheiden? Noch in der nächsten Legislaturperiode? Fehlanzeige. Wann löst sich der souveräne Staat Bundesrepublik Deutschland auf? In fünf Jahren oder in zehn Jahren? Keine Antwort. Wann wird aus dem heutigen Quasiparlament in Strasbourg und Brüssel eine echte Volksvertretung des europäischen Staatsvolkes? Und was ist das eigentlich: das europäischen Staatsvolk? Antwort: Fehlanzeige.

Wann geht das Haushaltsrecht des Deutschen Bundestages auf das Europäische Parlament über? Fehlanzeige. Wann wird das Aufkommen aus der Mehrwertsteuer, Einkommensteuer, Mineralölsteuer, um nur die wichtigsten Steuern zu nennen, nach Brüssel überwiesen? Fehlanzeige. Anstatt konkreter Antworten bieten die Parteien Politlyrik, wie wir sie seit Jahrzehnten kennen. Kurz gesagt: Erneut erbitten die Parteien vom Wahlvolk einen Blankoscheck, der ihnen alle Optionen offen hält. Keine guten Aussichten für die Demokratie.

Stattdessen wird „Wahlkampf“ gefeiert: Politunterhaltung mit allerlei Vergnüglichem, wahlweise auch Unappetitlichem nach der Machart „Affäre Brüderle“.

Klaus Funken, der diesen Gastbeitrag in Telepolis verfasste, war früher wirtschaftspolitischer Referent der SPD-Bundestagsfraktion.