Syrien: Neue Foltervorwürfe gegen Assads Regierung
Kommentar: Mehr als Hundertausend sollen nach einem Bericht der New York Times systematisch zum Verschwinden gebracht worden sein. Augenzeugen sprechen von schwersten Foltermethoden
Menschenrechte haben als Maßgaben in der internationalen Politik an Relevanz eingebüßt, wie es die USA vor einiger Zeit auch offen und direkt erklärten (Abschied vom Menschenrechtsimperialismus?. Dennoch haben Foltervorwürfe gegen Führungen eines Staates nach wie vor politisches Gewicht, wie sich etwas an der Reaktion der türkischen Regierung zeigt.
Aus Ankara kam eine schnelle und empörte Entgegnung auf die Vorwürfe des "Welt"-Journalisten Deniz Yücel (Berlin, Ankara und die Folter): Die Anschuldigungen seien gegenstandslos und zielten darauf ab, die Türkei schlechtzumachen. Das Image ist auch für staatliche Akteure wichtig, da es Wirkungen auf politische und wirtschaftliche Beziehungen hat. Investoren scheuen Kalamitäten. In politischen Verhandlungen kann Druck mit der öffentlichen Meinung gemacht werden.
Im Fall der syrischen Regierung unter Baschar al-Assad treffen Folterwürfe auf eine ganz eigene politische Konstellation. Der syrische Präsident hat sich trotz jahrelangen vehementen Widerstands seiner Gegner an der Macht gehalten. Allgemein lautet die Einschätzung, dass seiner Armee und seinen Verbündeten der militärische Sieg zwar schwer gemacht werden kann, aber auf lange Frist nicht mehr zu nehmen ist.
Gegen Normalisierung
So haben einige Staaten damit begonnen, ihr Verhältnis zur syrischen Regierung zu überdenken und neu zu auszurichten. Der Begriff der "Normalisierung" des Verhältnisses zu Syrien unter Assad macht die Runde.
Genau gegen diese Normalisierung wendet sich ein Artikel der New York Times, der am Wochenende erschien und zur Debatte über Syrien neue Foltervorwürfe gegen die Führung des Staates vorlegt. Die Vorwürfe sind von einer beachtlichen Dimension.
Die Opferzahlen, über die berichtet wird, sind enorm hoch. Vorgebracht werden, dass etwa 128.000 Menschen in Gefängnissen verschwunden sind. Die Zeitung spricht von Grausamkeiten in einem "industriellen Maßstab (i.O. "industrial scale"). Berichtet werden Aussagen von Opfern, die schlimmste Folter erlebt oder mitbekommen haben: "Scheisse fressen, Urin trinken, schwerste körperliche Misshandlungen, Haut, die abgezogen wird, Zehen- oder Fingernägel, die herausgerissen werden, Vergewaltigungen, Prügel, nackt stundenlang in der Kälte stehen usf." … Die Liste der brutalen Behandlungen von Gefangenen, die erwähnt werden, ließe sich noch weiter fortsetzen.
"Systematisch gegen Dissenz in der Bevölkerung"
Vorgeworfen wird im NYT-Artikel eine groß angelegte, raffiniert-böswillige Systematik seitens der syrischen Machthaber, um "jegliche Dissenz niederzumachen".
Dass der "industrielle Maßstab" Vergleiche mit Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland aufkommen lässt, gehört zum Resonanzraum der Vorwürfe. Zwar kommt "Hitler" nur als Hund in einem geschilderten Folter"spiel" vor, aber der Bericht der US-Zeitung schildert Syrien unter den Assads - also auch schon unter dem Vater des amtierenden Präsidenten, Hafez al-Assad - als eine gnadenlose Gewaltherrschaft und Tyrannei, die Vergleiche mit dem nationalsozialistischen Terrorsystem unweigerlich heraufbeschwört, ohne sie exakt benennen zu müssen.
Mit der Exaktheit gibt es ein paar Probleme im Bericht. Anders gesagt: Es gibt eine Diskrepanz zwischen der Wucht der Behauptungen und dem, was die Nachweise gegenwärtig leisten.
Zentrale Behauptungen
Die Vorwürfe, die vorgebracht werden, entsprechen präzise dem, was Assads in vielen Schlagzeilen vorgeworfen wird, die den Krieg Baschar al-Assads gegen "seine" Zivilbevölkerung brandmarken. Dass die Herrschaft Assad sich mit brutalen Methoden gegen die Bevölkerung richtet, ist auch eine zentrale Behauptung im Artikel der New York Times. Die Verbreitung von Angst und Schrecken sei eine wichtige Säule der Herrschaft Assads. Die in den Folterverliesen Verschwundenen, Gepeinigten und Getöteten werden als hunderttausendfache Belege für dieses infame System gewertet.
Während die syrische Armee, unterstützt durch Russland und Iran, gegen bewaffnete Rebellen einen Kampf um Territorien führte, hat die Regierung einen rücksichtslosen Krieg gegen Zivilisten geführt und Hundertausende in schmutzige Verliese geworfen wo Tausende gefoltert und getötet wurden.
New York Times
Darüber hinaus wird behauptet, dass die Darstellung des Krieges als Kampf gegen Islamisten und Dschihadisten einer Agenda folgt, die sich die syrische Regierung zurechtgelegt hat. Sie sei maßgeblich dafür verantwortlich, dass sie nun, wie es der Sprachgebrauch in Damaskus formuliert, "gegen Terroristen" kämpft.
Die Opposition, die 2011 auf der Straße protestierte, habe sich bewaffnen müssen, nachdem der syrische Sicherheitsapparat ihr keine andere Chance ließ - die islamistischen Milizen waren somit eine zwangsläufige Folge der Aktionen der Führung in Damaskus. Zudem habe Präsident al-Assad mit der Freilassung namhafter Islamisten, wie zum Beispiel Hassan Aboud (Ahrar Al-Sham) oder Zahran Alloush (Dschaisch al-Islam) aus der Haft die Milizen unterstützt, die zum Dschihad in Syrien aufriefen.
Beide Behauptungen entsprechen sehr präzise einer politisch verengten Perspektive auf die Geschehnisse, die der syrischen Regierung die Hauptverantwortung für die kriegerischen Auseinandersetzungen zuschreiben. Dazu gibt es aber Einwände, die der Zeitungsbericht gar nicht erwähnt.
Dass die politischen Gegner Assads 2011 keine andere Chance hatten, als sich zu bewaffnen, dem wurde seinerzeit schon von Sympathisanten der Opposition widersprochen. Auch gibt es Berichte, die schon sehr frühzeitig auf bewaffnete Angriffe auf syrische Sicherheitskräfte, Polizei und Armee, aufmerksam machten, wie auch darauf, dass sich hier Netzwerke und Verbindungen bemerkbar machten, die in Nachbarländer führten. Dass die Türkei ihre Grenzen für den Nachschub an Rekruten, Waffen und Geld sehr großzügig offenließ, gehört ebenfalls zum größeren Bild.
Die Rolle von Ländern, die sich in den syrischen Konflikt einmischten, von der Türkei bis zu den USA, wird in den Behauptungen zu Assads Kriegsführung gänzlich ausgelassen, obwohl aus Damaskus sehr bald gemeldet wurde, dass die eskalierenden Auseinandersetzungen in Syrien mit der Beteiligung von anderen Staaten zu tun haben. Mittlerweile ist die Unterstützung der islamistischen Milizen durch Länder in der Region offensichtlich geworden.
Auch zur Behauptung, Assad habe durch die Freilassung der bekannten Islamisten willentlich die Dschihad-Bewegung gestärkt, um seine Darstellung der Gegner als Terroristen zu untermauern, gibt es dem zuwiderlaufende Berichte der Geschehnisse, nämlich dass die Freilassung Ergebnis von Verhandlungen zwischen der Regierung und Opponenten war.
Zum damaligen Zeitpunkt war der Druck auf Assad groß, den Konflikt mit politischem Entgegenkommen einzudämmen. Dazu gehörte die Freilassung von Gefangenen, deren Anklagen strittig waren. In diesem Zusammenhang fielen auch die Namen der "charismatischen Persönlichkeiten". Die Möglichkeit, dass Assad mit der Freilassung einen ausgehandelten Kompromiss einging, ist eine andere Lesart, die freilich nicht zum Bild passt, das von Assads Herrschaft gezeichnet wird.
Dies zu verifizieren, ist allerdings im Streit der Ansichten schwierig. Wer glaubt schon der Regierung in Damaskus? Gegendarstellungen gehen davon aus, dass die Regierung einen aufreibenden Kampf gegen Islamisten, mit denen sie sich seit vielen Jahren in verlustreichen Konflikten befand, willentlich suchte und damit hohe Verluste in eigenen Reihen riskierte.
Das Problem der Verifikation
Das Problem des Verifizierens stellt sich auch bei den Zahlen, die zu den Foltervorwürfen beigebracht werden. Hier sind Unterscheidungen wichtig. Sieben Jahre lang hat die New York Times nach eigenen Angaben in der Sache recherchiert. Die Aussagen der Opfer, die zitiert werden, sind bestürzend und sie sind glaubwürdig - wer kann ihnen weit entfernt von ihrem Leid absprechen, dass sie die Wahrheit erzählen? Es ist Sache von Gerichten, dem auf den Grund zu gehen.
Politisch erhalten ihre Berichte eine umfassendere Dimension, da sie als Teil eines groß angelegten mörderischen Systems dargestellt werden. Kürzlich erschienene Berichte über offizielle Schreiben der syrischen Regierung an Angehörige, die im Nachhinein bestätigen, das gesuchte Familienmitglieder in ihrer Haft umgekommen sind, weisen - nicht zum ersten Mal - darauf hin, dass einiges sehr faul ist im Staat Syrien. Aber Hundertausende, die über Massenverhaftungen in "Foltergefängnissen" verschwunden sind?
Die Zahl stammt vom Syrian Network of Human Rights. Bemerkenswert ist, dass sie zunächst bis auf die Einerstelle präzise angegeben wird - 127.916 -, es aber später im Zeitungsbericht heißt, dass eine genaue Zahl schwer zu ermitteln ist. Wie auch die Behauptung eines ausgearbeiteten Systems mit bestimmten für Folter und Mord an Systemgegnern vorgesehenen Haftanstalten später im Bericht etwas aufgeweicht wird. Dort ist dann die Rede davon, dass im Grunde alle Gefängnisse in Syrien für die Tortur und das Verschwinden von politisch unbequemen Gefangenen genutzt werden.
Die Relativierungen sind etwas irritierend, weil sie eine zuvor aufgestellte Behauptungshöhe unterlaufen. Die exakten Zahlen suggerieren ja, dass die Folterfälle sehr genau dokumentiert sind. Und der Hinweis auf besondere Gefängnisse, etwa dem Saydnaya-Gefängnis, unterstützt die Behauptung, dass die syrische Führung einen ganz eigenen, abgegrenzten Apparat geschaffen hat, um politische Gegner zum Verschwinden zu bringen.
Aber diesen Irritation an der Darstellung steht die Zahl von über 120.000 Opfern von "Massenverhaftungen" gegenüber, die in ihrer schieren Größe alles überstrahlt, sowie Berichte über Vorgänge im berüchtigten Saydnaya-Gefängnis, wie sie etwa prominent Amnesty International vor einiger Zeit vorgelegt hat. Deren Untersuchung wurde damals eine politische Agenda vorgehalten (Folter und Hinrichtungen: AI erhebt schwere Vorwürfe gegen syrische Regierung).
Zustande kam die Zahl durch Meldungen und Familienberichte, die das Syrian Network of Human Rights über Jahre hinweg gesammelt und abgeglichen haben soll, auch Regierungspapiere sollen darunter sein, wie die New York Times vorbringt, die die Angaben des Syrischen Netzwerkes für Menschenrechte mit eigenen Recherchen ergänzt. Als verstärkender Beleg wird angeführt, dass sich viele Aussagen einander ähneln und dass Überläufer oder Abtrünnige des Regierungsapparates die Vorwürfe bestätigen.
Gerichtsverfahren
Dies alles auf Wahrheitsgehalt zu prüfen, ist eine sehr aufwendige Aufgabe. Verlässlich zu leisten ist das nur in Bruchstücken, am besten über Gerichtsverfahren. Ein Beispiel dafür wäre der Prozess gegen Mitglieder des syrischen Sicherheitsapparates, die in Deutschland im Februar auf Veranlassung des Generalbundesanwalts verhaftet wurden.
Damit würde in einer genauen Falluntersuchung vor Gericht und an die Öffentlichkeit kommen, was vom Syrian Network of Human Rights als Vorwürfe gegen ein "System" vorgebracht wird, das sich bestens vor Anlagen und Strafen zu schützen weiß. Das bedeutet auf der konkreten Ebene eine notwendige, mühsame, langwierige Aufarbeitung.
Die politische Botschaft
Diese Ebene wird von einer politischen überlagert. Diese prägt auch den Bericht der New York Times und die Öffentlichkeitsarbeit des Syrian Network of Human Rights. Die Organisation arbeitet anwaltschaftlich eng mit der UN zusammen; man kann sie als eine bedeutende Quelle für UN-Berichte zur Menschenrechtslage in Syrien bezeichnen, wobei die Regierung in Damaskus um einiges deutlicher im Visier der Anklagen steht als die gegnerischen Milizen, die sich nicht gerade als Verfechter von universalen Menschenrechten auszeichnen.
Das Syrische Netzwerk für Menschenrechte hat eine politische Ausrichtung. Sie plädiert dafür, dass auswärtige Staaten "Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung" haben, was auch auf eine militärische Intervention miteinschließen kann. Im Fall Syrien reiht sie sich damit in den Kreis derjenigen ein, die daran arbeiten, dass die Assad-Regierung abgelöst wird. Sie liefert Argumente für diese Seite, für mehr Druck und ein Nein zu einem politischen Arrangement mit der Führung in Damaskus. Ob das zu mehr Stabilität und besseren Lebensverhältnissen in Syrien führt, ist nach den Erfahrungen der letzten acht Jahre stark zu bezweifeln.
Wer auf der Position steht, dass Arrangements mit Polizeistaaten im Nahen Osten politisch völlig ausgeschlossen sind, sei auf die Treffen von westlichen Staatsvertretern bei dem ägyptischen Präsidenten al-Sisi verwiesen, bei denen lukrative Geschäfte gemacht werden, oder auf Treffen mit Vertretern des saudischen Königshauses. Von einer kohärenten Haltung, die auf Menschenrechte setzt, kann man da nicht sprechen.