Syrien: Plant die Türkei einen Einmarsch in Afrin?

Kurdische Sicherheitskräfte bei einer Demonstration gegen die Angriffe der Türkei in Afrin. Bild: YPG-News, Twitter

Erdogan setzt westlich des Euphrats auf die Zusammenarbeit mit Moskau

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Zehntausende Einwohner des Kantons Afrin in Nordsyrien gingen am Mittwoch verganger Woche auf die Straße. Sie protestierten gegen die Artillerie-Angriffe der Türkei und der angegliederten Freien Syrischen Armee (FSA) in Afrin und der Sheba-Region. Die Türkei will mit ihrer erneuten Intervention einen Korridor verhindern, der alle Kantone der nordsyrischen demokratischen Föderation verbindet. Dabei setzt sie auf die Unterstützung aus Moskau.

Ein FSA-Anführer berichtete, ihr Ziel sei, die YPG von der türkischen Grenze zu vertreiben. Als ersten Schritt wollen sie die Kontrolle über die Stadt Tel Rifaat (auch: Tall Rifaat) und den nahegelegenen Militärflugplatz übernehmen. Danach soll Afrin belagert werden.

Al-Monitor berichtete von einem Angriff der türkischen Armee und der FSA mit Haubitzen auf YPG-Stellungen südwestlich von Azaz und nördlich von Tel Rifaat in der letzten Woche. Die YPG erwiderte das Feuer. Östlich von Tel Rifaat soll es ebenfalls zu Angriffen von der FSA gekommen sein. In der Sheba-Region zündeten die türkischen Proxytruppen die Kornfelder der Bauern an.

Die syrische Partei Syriac Union Party, verbunden mit den YPG, verurteilte die türkische Einmischung. Die Türkei unterstütze den Terror und stehe einer politischen Lösung in Syrien im Wege, heißt es in einer Erklärung. Die Angriffe auf die kurdischen Dörfer in der Sheba-Region und in Afrin dienten einzig den türkischen Interessen und schwächen den Kampf gegen den IS. Sie forderte die internationale Gemeinschaft auf, sich gegen die türkischen Angriffe zu stellen und stattdessen die syrischen demokratischen Kräfte wie die SDF zu unterstützen.

Moskau braucht die Türkei

Nachdem Ankaras Bemühungen gescheitert sind, die USA von der Kooperation mit den SDF bei Rakka abzuhalten, setzt Erdogan westlich des Euphrats auf die Zusammenarbeit mit Moskau. In der Tat scheint Moskau die Türkei in der Region rund um Idlib, südwestlich von Aleppo, zu brauchen. In Idlib tummeln sich verschiedene konkurrierende salafistische und dschihadistische Gruppen wie zum Beispiel Hayat Tahrir al-Sham (ein al-Qaida-Ableger, Kerngruppe ist die al-Nusra-Front), Jabhat Fatah al-Sham (ebenso unter Führung von al-Nusra), Ahrar al-Sham und verschiedene sunnitische bewaffnete Gruppen.

Die Türkei hatte während ihrer letzten Intervention "Euphrates Shield" versucht, diese Gruppen in die FSA zu integrieren. Russland und die syrische Regierung wollen Idlib, die Hochburg der bewaffneten Milizen der sogenannten syrischen Opposition, unter Kontrolle bringen, denn sie liegt genau zwischen Assads Kernland um Latakia, wo sich auch der Hauptstützpunkt Russlands befindet, und dem vor einigen Monaten zurückeroberten Aleppo. Die Rückeroberung von Aleppo war für Assad aus vielen Gründen eminent wichtig.

Offensive bei Idlib steht bevor

Verschiedene Quellen berichten von einer bevorstehenden Offensive Russlands und der syrischen Armee auf Idlib. Es sei in diesem Zusammenhang geplant, den Rebellen samt Familien den Abzug in die türkisch kontrollierten Gebiete im Dreieck Jarablus, Al-Bab und Al-Rai zu gewähren. Ankara könnte als Vermittler zu den islamistischen Gruppen behilflich sein, so das Kalkül Moskaus. Doch wohin mit Zehntausenden von Menschen aus Idlib?

Al-Monitor mutmaßt, dass das bisher von den türkischen Proxytruppen kontrollierte Gebiet nicht ausreiche und deshalb erweitert werden müsse. Eine Erweiterung südlich von Al-Bab oder Richtung Manbij wird militärisch nicht durchsetzbar sein. Es bleiben also nur noch Afrin oder Teile davon, etwa die Gegend von Kiliz über Azaz bis nach Tel Rifaat und von Mare nach Tel Rifaat. Als Gegenleistung für die türkische Unterstützung bei Idlib könnte Moskau dieser Operation zustimmen.

Der türkische Regierungssprecher Ibrahim Kalin stellte 300-500 Soldaten für die Idlib-Offensive in Aussicht. Ob es der Türkei allerdings gelingt, die untereinander konkurrierenden Gruppen, allen voran Ahrar al-Sham und die Jabhat Al-Nusra Fraktionen, unter ein Dach zu bekommen, ist fraglich. Vor allem die Jabhat Al-Nusra-Fraktionen sind der Türkei nicht wohlgesinnt und lehnen weitere Interventionen der Türkei in Syrien ab.

Die al-Qaida-Dschihadisten in Idlib haben ihre Erfahrungen aus Aleppo nicht vergessen und wissen, was passieren kann, wenn sie der Türkei vertrauen. Dieses Abenteuer kann genauso gut in einer Katastrophe für die Türkei enden.

Türkische Annexion oder Besatzung von Afrin?

Spannend könnte es beim nächsten Astana-Gipfel am 10. Juli werden. Zum einen wird es um den möglichen Einsatz zentralasiatischer Truppen aus Kirgistan und Kasachstan in Syrien gehen. Solch ein Einsatz ist nicht unproblematisch, denn viele Islamisten aus Zentralasien, wie zum Beispiel Uiguren bei Idlib, haben sich in Nordsyrien salafistischen oder dschihadistischen Gruppen angeschlossen.

Zum anderen darf man gespannt sein, wie die Türkei eine Okkupation von Afrin und der Sheba-Region mit der syrischen territorialen Integrität in Einklang bringen will. Parallelen zum heutigen Hatay drängen sich auf: Die Provinz Hatay gehörte bis zu Beginn des 20. Jahrhundert als "Sancak von Alexandrette" zum Osmanischen Reich. Nach dessen Zerfall wurde der Sancak 1918 von Frankreich besetzt und im Rahmen eines Völkerbundmandates als Teil Syriens von Frankreich verwaltet. 1923 erhielt der Sancak einen Autonomiestatus.

Dort sollten armenische Flüchtlinge, Überlebende des Genozids, zusammen mit den alawitischen Arabern, die die Bevölkerungsmehrheit stellten, eine neue Heimat erhalten. 1936 lief das französische Völkerbundsmandat über Syrien ab. Die Türkei meldete Ansprüche auf den Sancak an. Um die Türkei davon abzuhalten, auf Seiten des Deutschen Reiches in den 2. Weltkrieg einzutreten, schloss Frankreich im Juni 1939 einen Vertrag mit der Türkei, der dieses Gebiet als neue Provinz der Türkei zuschlug.

Es folgten dann die bekannten demographischen Eingriffe, um die Mehrheitsverhältnisse der Bevölkerung in der Region zu verändern. Die Provinz Hatay ist heute noch eine der multikulturellsten Provinzen der Türkei: Neben einer heute mehrheitlich türkischsprachigen Bevölkerung leben dort viele arabische Alawiten (Nusairier) und syrisch-orthodoxe und katholische Christen. Es gibt noch eine jüdische Gemeinde und das armenische Dorf Vakifli.

Im Norden des Hatay leben neben türkischen Sunniten auch ezidische Kurden, die vermehrt aus Anatolien in den Hatay übersiedelten. Offiziell beansprucht Syrien das Gebiet der Provinz Hatay nach wie vor für sich. Auf syrischen Landkarten ist der Hatay nach wie vor als syrisches Territorium ausgewiesen.

Eine Okkupation und spätere Annexion des angrenzenden syrischen Gebietes um Afrin würde eine Gebietserweiterung für die Türkei bedeuten und der Gewinn eines fruchtbaren Geländes. Dies kann das syrische Regime eigentlich nicht tolerieren.

Der PYD-Vorsitzende Salih Muslim soll die Türkei bereits gewarnt haben: Wenn die Türkei Afrin angreife, würde die YPG angesichts einer etwaigen militärischen Niederlage Afrin eher an das Assad-Regime übergeben, als sich Erdogan geschlagen zu geben.

Afrin bittet um internationale Unterstützung

Sinem Mohamed, die Europavertreterin für Rojava bzw. der "nordsyrischen demokratischen Föderation", bat am Donnerstag in Hamburg auf einer Veranstaltung zum G20-Gipfel alle demokratischen Staaten um Unterstützung für Rojava und Afrin. Sinem Mohamed, die selbst aus Afrin stammt, berichtete, dass während Erdogan in Hamburg am G 20-Gipfel teilnehme, die Türkei Afrin unter permanenten Artilleriebeschuss halte.

Am Mittwoch starben dadurch 5 Zivilisten - drei Frauen und zwei Kinder. Weiterhin baue die Türkei auf syrischem Territorium eine Mauer um Afrin. 5.000 Olivenbäume syrischer Bauern aus Afrin seien von der türkischen Armee bereits dafür gefällt worden. Die türkischen Angriffe dienten nicht dem Kampf gegen den IS oder Assads Armee - die betroffenen Dörfer seien frei und sicher. Sie dienten einzig und allein dem Kampf gegen die Föderation Nordsyrien.

Die Türkei bringe mit ihrem Beschuss und der Besetzung syrischen Territoriums noch mehr Leid und Unruhe ins Land. Sinem Mohamed stellte an die Teilnehmer des G 20-Gipfels die Frage, warum die Welt akzeptiere, dass die Vertreter der Nordsyrischen Föderation nicht an den Genfer Gesprächen teilnehmen dürfen, nur weil Erdogan dies nicht wolle. Schließlich seien sie diejenigen, die den IS in der Region am erfolgreichsten bekämpfen würden.

Weitere kurdische Politiker aus Afrin riefen am Montag die Internationale Gemeinschaft um Hilfe, wie die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) berichtete. Via Internet wandten sie sich an Europa. Die alawitisch-kurdische Präsidentin des Kantons, Hevi Mustafa, bat die GfbV, die deutsche und europäische Öffentlichkeit über den "ungerechtfertigten barbarischen Krieg von Recep Tayyip Erdogan gegen die Zivilbevölkerung" in Nordsyrien zu informieren.

Furcht vor Vertreibung Zehntausender

Der selbst aus der Region stammende Nahostexperte der GfbV, Kamal Sido, befürchtet die Vertreibung von hunderttausenden Kurden und zehntausenden arabischen Flüchtlingen. Denn mittlerweile leben in der Region über eine Million Menschen, die Hälfte davon sind syrische Binnen-Flüchtlinge. Die Mehrheit der kurdischen Einwohner sind sunnitische Muslime, die mehrheitlich die Politik der PYD unterstützen. Neben verschiedenen arabischen Stämmen leben in der Region auch einige tausend Eziden in verschiedenen Dörfern. Es gibt auch ein kurdisch-alawitisches Dorf mit ca. 5.000 Einwohnern in Afrin.

Hacı Ehmed, der Kommandant der lokalen Jaysh Al Thuwar Brigade, die sich den SDF angeschlossen hat, berichtet in einem Interview mit ANF über die türkischen Vorbereitungen einer Annexion Afrins und der Sheba-Region. Die Bevölkerung in der von der Türkei besetzten Sheba-Region sei inzwischen gegen die Türken. Sie hätten gemerkt, dass es sich im Grunde um eine türkische Annexion handle.

Erst sei die Bevölkerung der türkischen Armee gegenüber positiv eingestellt gewesen, da sie sich eine Befreiung von den Islamisten erhoffte. Anfänglich habe die FSA und danach der IS die Region terrorisiert. Als die Türken kamen und der IS den Türken das Gebiet übergeben hätte, sei den Bewohnern bewusst geworden, dass sich mit den Türken nichts ändern würde. Sie hätten verstanden, dass es der Türkei nicht darum geht, die Bevölkerung vom Terror der Islamisten zu befreien, sondern darum, Stützpunkte für Angriffe gegen die kurdische Bevölkerung aufzubauen.

Die SDF mit ihren alliierten Truppen seien jedoch hochmotiviert, den "Großenkeln der Osmanen" kein Stück ihres Landes zu überlassen. Diese Äußerung sollte die Türkei als Warnung begreifen. Es scheint, dass nicht nur die Militärs der nordsyrischen Armee entschlossen sind, sich einer Annexion entgegenzustellen.

Die ansässige Bevölkerung, die nicht nur aus Kurden besteht, scheint es ebenfalls satt zu haben, von der Türkei bevormundet und indoktriniert zu werden. Ein türkischer Angriff auf Afrin wäre für die nach den Säuberungen des letzten Jahres stark geschwächte türkische Armee alles andere als ein Spaziergang, der nicht nur innenpolitisch unabsehbare Konsequenzen hätte.

Auch außenpolitisch könnte die Lage schnell außer Kontrolle geraten, wenn ein NATO-Mitglied für alle Welt sichtbar ein Nachbarland offen angreift, um vermeintlich sein Kurdenproblem zu lösen. Die entscheidende Frage angesichts von "Afrin im Würgegriff" (Frankfurter Rundschau) wäre, ob es noch jemanden gibt, der bereit und fähig ist, Erdogan zu stoppen.