Syrien: Terrorismusbekämpfung zwischen Kuhhandel und Blockkonfrontation

Seite 5: Eskalationsgefahren

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Der Bürgerkrieg in Syrien forderte seit 2011 mehr als 250.000 Todesopfer. Die Masse der Todesopfer geht auf das Konto der syrischen Streitkräfte. Als besonders brutal gilt der "Islamische Staat", allerdings soll dieser nur ca. 1.500 Opfer umgebracht haben. Sollte sich diese (fragwürdige) Einschätzung der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) von Osama Suleiman in Coventry (United Kingdom) tatsächlich bestätigen, müsste man die Gefährlichkeit des IS neu bewerten.

Große Teile des Landes liegen in Trümmern. Von den einst 22 Millionen Einwohnern sind 7,6 Millionen Menschen innerhalb Syriens auf der Flucht, mehr als 4 Millionen sind aus dem Land geflüchtet, davon rund ein Drittel nach Europa. Unter diesem Druck scheint sich nun ein erneuter Versuch einer konstruktiven Konfliktlösung anzubahnen.

Während die russische Regierung bisher darauf setzte, Bashar al-Assad in Amt und Würden zu belassen, deutet sich nun an, dass man sich auch mit einer Lösung ohne diesen arrangieren könnte. Demgegenüber setzte die NATO bisher darauf, dass Bashar al-Assad unbedingt aus dem Amt entfernt werden müsste, hält nun aber diese Grundbedingung nicht mehr aufrecht. Jetzt bleibt abzuwarten, welche der beiden Seiten sich durchsetzen wird und ob Bashar al-Assad für sein Durchhalten beim Völkermord an seinem eigenen Volk honoriert wird.

Sollte es soweit kommen, dann wäre eine Minimallösung die Verhängung einer No-Fly-Flugverbotszone, um die syrische Luftwaffe daran zu hindern, weiterhin die eigene Bevölkerung durch Fassbomben zu massakrieren. Sollte aber Assad gestürzt werden oder ins Exil flüchten, begönne die Suche nach einem Nachfolger, auf den sich die verschiedenen internationalen Akteure einigen könnten. Nach Angaben des finnischen ex-Präsidenten Martti Ahtisaari hatte die russische Regierung bereits 2013 dem "Westen" einen Friedensplan für Syrien vorgeschlagen, der von einem Ende des Assad-Regimes ausging (Westen soll 2012 russischen Syrien-Friedensplan ohne Assad ignoriert haben).

Angesichts der politisch diametral gegensätzlichen Positionen beider ex-Supermächte wäre es sehr gefährlich, wenn beide Staaten mit ihren Truppen auf verschiedenen Seiten der Front in Syrien intervenieren. Während die Russen in Syrien selbst aktiv sind, baute die NATO ihre militärische Infrastruktur lediglich in den Nachbarländern rund um Syrien herum auf und verzichtete bis zum Sommer 2015 weitestgehend auf Angriffen in Syrien. Schon dadurch war die eine direkte Konfrontation zwischen der NATO und Russland auf ein Minimum reduziert. So gibt es bisher keine glaubwürdige Meldung über eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen einer NATO-Spezialeinheit und einer russischen Sondereinheit auf syrischem Territorium; es fehlt jegliche detaillierte Information über einen geheimen Stellvertreterkrieg auf syrischem Territorium.

Trotz der täglichen "Kriegsberichterstattung" erfährt die Öffentlichkeit seit Kriegsbeginn kaum etwas über die vermeintlichen oder tatsächlichen Ereignisse. Jedenfalls kann eine Ost-West-Konfrontation im weiteren Verlauf des Konfliktes nicht ausgeschlossen werden. So wäre es möglich, dass bei einem Luftangriff der einen Seite Truppen der anderen Seite "kollateral" attackiert werden, dann droht ein offener Konflikt. Ebenso fatal wäre es, wenn die islamistische Jabhat al-Nusra mit militärischer Unterstützung durch die USA das russische Kontingent in Syrien angreifen würde.

Bereits jetzt deutet sich ein West-Ost-Rüstungswettlauf in und um Syrien statt. Parallel zum russischen Aufmarsch verstärken die NATO-Staaten (USA, Großbritannien, Frankreich, Türkei,…) ihre Militärkontingente.

Dass Eskalationsbefürchtungen durchaus berechtigt sind, zeigt ein Rückblick auf den ersten bewaffneten Konflikt nach dem Ende des Kalten Krieges, in dem beide Seiten gemeinsam versucht hatten, durch den Einsatz ihrer Truppen eine Konfliktbeilegung zu erzwingen, nämlich im Kosovo: Was damals genau geschah unterliegt bis heute der militärischen Geheimhaltung und so sind verschiedene Version im Umlauf. Auf jeden Fall gab es im Juni 1999 einen Wettlauf zwischen den NATO-Truppen und den russischen Streitkräfte um die Eroberung des Flughafens Slatina bei Pristina, nachdem die Serben dort ihre Truppen zurückgezogen hatten.

In einem Gewaltmarsch preschten 200 russische Fallschirmjäger vor und eroberten den Fliegerhorst am 12. Juni 1999. Erst einen Tag später konnten britische Fallschirmjäger der 5 Airborne Brigade den Raum Pristina einnehmen. Angeblich wollte der amerikanische NATO-Oberbefehlshaber General Wesley Clark den russischen Erfolg im letzten Moment verhindern, indem er einen NATO-Luftangriff oder einen Sturmangriff der britischen Spezialeinheit SAS auf das russische Kontingent anordnete. Diesen Befehl soll der Kommandeur der britischen Truppen im Kosovo, General Michael Jackson, mit den Worten verhindert haben: "I'm not going to start the Third World War for you." Nach anderer Darstellung kam es bloß deshalb nicht zum NATO-Angriff auf den Flughafen, weil das Transportflugzeug "Lockheed" C-130 HERCULES, das das SAS Kommando zu seinem Einsatz befördern sollte, kurz nach dem Start in Kukes (Albanien) abstürzte.

Im syrisch-irakischen Konfliktgebiet agieren viele Staaten im Hintergrund mit eigenen Interessen. Länder, die eigentlich "Bündnispartner" sind, gehören konfligierenden Allianzen an oder schädigen sich wechselseitig. Das erschwert zum einen eine friedliche Konfliktlösung, macht diese aber andererseits umso dringlicher. Aber bisher fehlt jegliches Konzept zur Zerschlagung des "Islamischen Staates" und dessen Politik zur Neuordnung des Nahen Ostens. Ein Gipfeltreffen zwischen Barack Obama und Wladimir Putin am 28. September 2015 brachte keine Annäherung. Im Oktober 2015 konstituiert sich eine internationale Kontaktgruppe, zu der neben den USA und Russland auch die Türkei, Ägypten, Saudi-Arabien und Iran gehören werden, um nach einem Ausweg zu suchen. Derweil stürmt die syrische Zivilbevölkerung weiterhin die deutschen Städte und deutsche Neonazis machen Flüchtlingsheime zu einem zweiten Kriegsschauplatz.