Syrien: Wer hat den Einfluss, die Kämpfe zu beenden?

Hilfskorridor (angeblich in Ostghouta oder doch Aleppo?). Bild: Propaganda/Twitter

"Feuerpause offenbar gebrochen". Vom Umgang der Milizen mit der Zivilbevölkerung und die Berichterstattung über Ostghouta

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Heute tagt der UN-Sicherheitsrat, um über die humanitäre Situation in Ost-Ghouta zu beraten. Erwartet wird ein Lageüberblick des britischen UN-Hilfskoordinators Mark Lowcock, dem Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten folgen werden, wie sie dessen Vorgänger bei OCHA, Stephen O’Brien, im Sommer 2016 beim Krieg um Aleppo erlebt hat.

Auch damals gab es große Uneinigkeit darüber, wer gegen die vereinbarte Waffenruhe verstößt, wer die humanitäre Versorgung verhindert und wie die bewaffneten Milizen einzuschätzen sind (vgl. Aleppo: Die Inszenierung von al-Qaida). Schaut man sich einen Tagesschau-Bericht zur aktuellen Lage an, so unterscheidet sich die aktuelle Situationsbeschreibung nicht viel von den Auseinandersetzungen in Aleppo.

Russland beschuldige "Rebellen", dass diese die Fluchtkorridore beschießen. "Oppositionsgruppen widersprachen den Berichten. Man habe den Fluchtkorridor nicht beschossen, erklärte die Islamistenmiliz Dschaisch al-Islam" , berichtet die Tagesschau, erwähnt wird, dass die syrische Luftwaffe Fassbomben abgeworfen habe.

Von Angriffen der "Aufständischen" ist nicht die Rede. Die Verantwortung für die Kämpfe liegt hauptsächlich bei der russischen Regierung, erfährt der Leser des Tageschau-Berichts, der vom ARD-Korrespondenten in Kairo verfasst wurde.

Die US-Regierung forderte Moskau auf, seinen Einfluss auf Syrien geltend zu machen und ein sofortiges Ende der syrischen Offensive durchzusetzen. "Russland hat den Einfluss, diese Operationen zu beenden", erklärte die Sprecherin des US-Außenministeriums, Heather Nauert.

Tagesschau

Große Teile des Bildes fehlen

Hier fehlt ein wesentlicher Teil zum vollständigen Bild. Wer sich die Entwicklungsgeschichte der Milizen anschaut, die in Ostghouta dominieren, Jaysh al-Islam (Islamische Armee), Failaq al-Rahman und Ahrar al-Sham, wird feststellen, dass die Jaysh al-Islam und Ahrar al-Sham kräftig von Staaten der US-geführten Koalition unterstützt wurden: Saudi-Arabien, die Türkei, Kuwait und Katar.

Man kann, ohne sich weit aus dem Fenster zu lehnen, annehmen, dass diese Unterstützung der US-Regierung nicht entgangen ist und mit ihrer Einwilligung, in einigen Fällen, wenn es um die CIA-Erlaubnis zur Waffenlieferung ging, mit ihrer Unterstützung geschah.

Der simpelste Schluss daraus, ohne auch nur auf die Verbindungen der Milizen zur al-Qaida einzugehen, ist: Dass sie nur mit Unterstützung der US-Verbündeten und der USA als bestimmende Macht im Rücken so stark wurden, dass sie den Krieg mit der syrischen Regierung aufnehmen konnten.

Die Verantwortung der USA

Zur "Verantwortung": Auch die USA hätten, wenn man das obige Zitat von Heather Nauert ernst nehmen wollte, den Einfluss, die Auseinandersetzungen so weit zu deeskalieren, dass eine landesweite Waffenruhe in Syrien kein Problem wäre.

Würden sie, wie es Präsident Trump zu Anfang seiner Amtszeit ankündigte, und wozu sämtliche UN-Sicherheitsratsresolutionen zu Syrien aufrufen, im Kampf gegen den IS und al-Qaida kooperieren, hätten Milizen, die in irgendeiner Verbindung zu den Dschihadisten stehen, wenig militärische Erfolgsaussichten.

Es sind politische und militärische Prioritäten, die eine solche Kooperation unmöglich und irreal erscheinen lassen. Für die USA geht es in Syrien um einen Krieg gegen Iran, gegen die syrische Regierung und um den Dominanzkonflikt mit Russland.

Das steht einer großen und wahrscheinlich erfolgreichen Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus entgegen und begründet zugleich die Unterstützung der USA und ihrer Verbündeten für Gruppen, die man in den eigenen Ländern nicht sehen will. So werden Mitglieder von Ahrar al-Sham von westlichen Gerichten als Terroristen behandelt.

Mit den Extremisten des IS z.B. in der Region Deir ez-Zor wird seit langem opportunistisch verfahren: Können sie strategisch wichtige Gebietsgewinne aufseiten der syrischen Armee und ihrer Verbündeten verhindern oder aufhalten und eigene Gebietsgewinne erleichtern, so wird ihnen auf unterschiedliche Weise Bewegungsfreiheit eingeräumt, indem man ihnen freien Abzug aus umkämpften Zonen gewährt oder sie trotz der Informationen der US-Aufklärung nicht unbedingt bekämpft.

Das ist der Rahmen, den wegzulassen, ein schiefes Bild der Kriegs-Verhältnisse in Syrien ergibt.

Streit über die Hilfskorridore

Jaysh al-Islam und der russische Außenminister Lawrow befinden sich momentan im Streit über die Hilfskorridore in Ostghouta. Der Anführer der "Islamischen Armee", Mohammed Alloush, besteht laut Informationen der Nachrichtenagentur TASS (und anderer Quellen) darauf, dass keine Zivilisten Ostghouta verlassen dürfen.

Der russische Außenamtschef verweist demgegenüber auf die am Samstag verabschiedete Resolution, deren Punkt 10 festlegt, dass sich Zivilisten frei bewegen dürfen. Die Formulierung im Originaltext zeigt an, worauf der russische UN-Botschafter bereits hingewiesen hatte: Die Resolution gibt viel Spielraum für Interpretationen. Die Beteiligten werden dies nutzen.

Die Milizen "im Einklang mit der Zivilbevölkerung"

Für die Miliz von Alloush besteht der Nutzen von Zivilisten in Ostghouta darin, dass sie die Brutalität der syrischen Regierung und ihrer russischen Verbündeten kenntlich machen. Opfer der Grausamkeiten sind in der politischen Botschaft von Jash al-Islam nicht nur die Zivilisten in Ostghouta, sondern auch die Miliz selbst. Das ist das Bild, das mit großer medialer Unterstützung bestärkt wird.

Die vergangenen Tage sorgten Bilder in den sozialen Netzwerken für Aufsehen, die zerbombte Häuser, Flammen und verletzte Kinder zeigten, aber gar nicht aus Ostghouta stammen, sondern aus Aleppo oder dem Gaza-Krieg.

In vielen Fällen ist das Überzeichnen, Verzeichnen und suggestivere Formen der Parteinahmen in der Darstellung des Konflikts, die das Mitgefühl mit der Zivilbevölkerung in Einklang bringen mit einer Sympathie für die Milizen, nicht so leicht auszumachen.

Das wäre aber nötig, um sich einen freien Blick auf die Interessenslagen der in den Krieg verwickelten Parteien zu machen. Beim Großteil der deutschen, britischen und französischen Berichterstattung geht es hier so vereinfachend und bieder zu wie in deutschen Heimatfilmen der fünfziger Jahre.

Der andere, skeptischere Blick hat nichts mit Verschwörungstheorien oder mit einer kitschigen Liebe zu Russland zu tun, worunter angeblich viele Deutsche leiden ("Euch stehen doch schon die Tränen in den Augen, wenn ihr einen Dokumentarfilm über Sibirien seht", sagte mir einmal eine französische Bekannte).

Zudringlichkeiten: Gute Verbindungen zu Medien und Regierungen

Schon bei der Lektüre von Jonathan Littells 2012 auf Deutsch erschienenem Buch "Notizen aus Homs", wo der französische Schriftsteller von seinen Erfahrungen berichtet, die er mit FSA-Kämpfern in Homs bei deren Kämpfen gegen die Regierung machte, wird dem Leser klar, wie sehr die oppositionellen Gruppen auf gute Verbindungen mit den westlichen Medien achteten. In Littells Buch ist die Aussage zu lesen, dass nach Ansicht mancher Gruppen schon viel zu viele Journalisten kamen.

Die guten Verbindungen, die Frankreichs Regierung zur Opposition pflegte, sind auffallend. Hollande wie Macron empfingen Mitglieder aus der Opposition, beide Präsidenten sprechen sich deutlich gegen Baschar al-Assad aus. Eine Zukunft mit ihm, dem Kriegsverbrecher, sei nicht vorstellbar. Frankreich gab finanzielle Unterstützung für Medienseiten, die während des Krieges um Aleppo die Brutalität der Angriffe der syrischen Armee und der russischen Luftwaffe skandalisierten.

Nun gibt es einen Medienauftritt zum Krieg in Ostghouta mit unübersehbaren Ähnlichkeiten zu Aleppo (auch die Rolle der kleinen Bania soll neu besetzt sein) . Die Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind entsetzlich ("Die Bombardements hörten eine Woche lang nicht auf",so die MSF), aber das Entsetzen über die Kriegshölle kann doch nicht nur für Opfer der "Fassbomben aus syrischen Hubschraubern" gelten, sondern auch für Bewohner in Damaskus, die Opfer von heimtückischen Granaten werden.

Die Erschütterung und das Entsetzen über die zivilen Opfer der Angriffe von syrischen und russischen Truppen auf Ostghouta wird politisch vereinnahmt, das ist die Zudringlichkeit, gegen die man sich wehren muss, um zu einem nüchterneren, sachlicheren Bild zu kommen. Hier unterstützen viele Medienberichte der Qualitätsmedien SZ, Zeit, Spiegel oder Tagesschau nicht bei der freien Meinungsbildung.

Der Kampf gegen "Terroristen"

Aber auch bei der Berichterstattung, die dann komplementär aufgesucht wird, bei der russischen Nachrichtenagentur Tass oder der syrischen Nachrichtenagentur Sana, gibt es interessensgeleitete Akzentuierungen und Schwerpunkte. So steht für die russische Regierung wie für die syrische ohne Zweifel fest, dass sie es bei der "Islamischen Armee" mit Terroristen zu tun haben, die von der Waffenruhe ausgeschlossen sind.

Das gilt auch für Ahrar Sham und Failaq Rahman: Enge Verbindungen zur al-Qaida werden statuiert, ohne jeden kritischen Zweifel und Relativierungen. Einzig gilt der Grundsatz: Beim Kampf gegen Terroristen ist brutale Gewalt erlaubt. Dass zum Beispiel Jaysh al-Islam, aber auch Ahrar al-Sham immer wieder in Kämpfen mit al-Nusra, bzw. deren Nachfolgeorganisationen geraten sind, wird nicht groß thematisiert.

Wozu auch?

Aus Sicht der Regierung in Damaskus, aus ihrem Überlebensinteresse heraus, ist die Gemeinsamkeit der Gruppen vordringlich: Sowohl Jaysh al-Islam wie Failaq Rahman und Ahrar al-Sham (und al-Nusra sowieso) haben, wie sie es ausreichend mindestens 5 Jahre lang in Ostghouta dokumentierten, zum Ziel, einen Scharia-Staat einzurichten.

Das große Ziel lautete die Regierung Baschar al-Assad abzulösen und diese Ziel wollten sie nicht mit politischen, sondern mit militärischen Mitteln erreichen, dabei nahmen sie keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, was als Terrorismus zu bezeichnen ist.

Umso mehr als diese Gruppen immer wieder klarmachten, wie sie mit ihren Gegnern umgehen: nämlich äußerst brutal. Hätten diese "Kämpfer" jemals Möglichkeiten gehabt, tatsächlich Damaskus zu erobern, hätten die Racheaktionen an den bisherigen Herrschern und den Alawiten wahrscheinlich grauenhafte Dimensionen angenommen.

Die Achtung der Milizen vor der Zivilbevölkerung

Anschaulich klar machte Jaysh al-Islam, wie groß ihr "Respekt und ihre Achtung" vor der Zivilbevölkerung in Ostghouta ist, als sie 2015 Zivilisten in Käfigen einsperrte und in Vororten von Damaskus paradieren ließ, um Luftangriffe zu verhindern. Angeblich waren es alawitische Familien.

Dass die Miliz Islamische Armee zwischen guter und schlechter Zivilbevölkerung unterscheidet, machte ihr inzwischen getöteter Führer Zahran Alloush unmissverständlich klar, als er von Schiiten in einer Weise sprach, die das Töten von Schiiten wenn nicht gar nahelegt, so doch erleichtert.

Alle drei Gruppen, Jaysh al-Islam, Failaq Rahman und Ahrar al-Sham, hatten zu Zeiten oder haben Bündnisse mit der al-Nusra-Front. Mitglieder von Ahrar al-Sham hatten direkten Kontakt zur al-Qaida. Der al-Qaida-Rekruteur Scheich al-Muhaysini feiert augenblicklich wieder den Dschihad in Ostghouta. Es ist nicht zu leugnen und unübersehbar: Es gibt viele Verbindungen und ideologische Gemeinsamkeiten der Milizen zu al-Nusrah/ al-Qaida.

Aber es gibt auch Unterschiede, wie es auch differenziertere Berichte über die Gruppen und ihr Konkurrenz-Verhältnis zueinander gibt, die unter den großen al-Qaida-Deckel schauen, sich damit nicht zufrieden geben. Im Gegensatz dazu bestimmt aber die politische Botschaft aus Damaskus und Moskau, dass mehr oder weniger "alles al-Qaida ist" ("al-Nusrah und die anderen ..."). Für die beiden Regierungen ist es der "Kampf gegen Terroristen" und "alle drei großen Milizen sind Terroristen" und also von der Waffenruhe ausgenommen.

Man könnte aber auch der Spur nachgehen, wonach hinter den kriegerischen Auseinandersetzungen in Ostghouta sozial brisante Verhältnisse stecken. Aber für diesen Blick ist die Zeit anscheinend noch nicht reif.

Auch dafür ist die Syrien-Politik der USA und ihrer Verbündeten mitverantwortlich.