Syriens traumatisierte Kinder

Syrische Schulkinder im Libanon, 2013. Bild: Russell Watkins/Department for International Development / CC BY 2.0

Die Kinderrechtsorganisation Save the Children zeigt in einer erschütternden Studie das Ausmaß der psychischen Schäden, die der jahrelange Krieg bei Kindern in Syrien verursacht hat

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Mindestens drei Millionen syrische Kinder unter sechs Jahren kennen nichts anderes als den Krieg. Millionen weitere Kinder wachsen in ständiger Angst auf. Freunde und Familienmitglieder wurden vor ihren Augen getötet oder unter einstürzenden Häusern verschüttet. Sie erlebten aus nächster Nähe, wie Schulen und Krankenhäuser zerstört wurden.

Zumeist fehlte es an Nahrung und ausreichender medizinischer Versorgung. Viele wurden auf der Flucht von Freunden und Familien getrennt. In den letzten sechs Jahren des Krieges wusste in den Konfliktzonen Syriens niemand, ob er den nächsten Tag erleben würde. Ängste und Unsicherheit darüber, ob und wie es weitergeht - all das hat nachhaltige psychologische Auswirkungen auf die betroffenen Menschen in den Krisengebieten.

An den Befragungen, die im Februar 2017 von Psychologen und Kinderschutzexperten im Auftrag von Save the children durchgeführt wurden, waren knapp 450 syrische Kinder, Jugendliche und Erwachsene beteiligt (siehe Invisible wounds oder Unsichtbare Wunden (Deutsche Teilübersetzung)).

Angst, Nervosität und Aggression

Zwei Drittel der Kinder haben Freunde und Verwandte verloren oder kriegsbedingte Verletzungen erlitten. 84 Prozent aller Erwachsenen und fast alle Kinder glauben, für den psychischen Stress der Kinder seien vor allem die Bombardierungen verantwortlich. Die meisten der Befragten befürchten, dass, je länger dieser Krieg dauert, das Verhalten der Kinder umso mehr von Angst und Nervosität geprägt sei.

Rund die Hälfte der Befragten gab an, Jugendliche würden Drogen konsumieren, um den Stress besser zu bewältigen. Fast die Hälfte der befragten Erwachsenen hat bei Kindern Sprachstörungen oder die Unfähigkeit zu sprechen beobachtet, ebenso viele beobachteten tiefe Trauer oder Traurigkeit bei den Kindern. Gleichzeitig sagte ein Viertel der befragten Kinder aus, sich selten oder nie an jemanden wenden zu können, wenn sie Angst haben oder traurig seien. Die Hälfte der Befragten hatte beobachtet, dass die häusliche Gewalt zugenommen habe.

Infolge der ständigen gewalttätigen Auseinandersetzungen sind Kinder und Jugendliche zunehmend aggressiver geworden. Bei vielen Kindern tritt gehäuftes Bettnässen auf, ein typisches Symptom von toxischem Stress und posttraumatischen Belastungsstörungen. Motorengeräusche von Flugzeugen reichen aus, um vor allem bei Kindern Angstzustände auszulösen.

Geräusche, die nicht mehr eingeordnet werden können, empfinden vor allem die Jüngsten als ständige Gefahr: So schrien die Fünf- bis Siebenjährigen während einer Gruppensitzung ängstlich auf, als der Wind eine Tür zufielen ließ. Der Bedarf an psychischer Betreuung ist enorm, die Hilfe gering: In manchen Regionen, mit mehr als einer Millionen Menschen steht nur ein professioneller Psychiater zur Verfügung.

In nahezu keinem anderem Land blicken Kinder dem Tod so früh ins Auge. So irrt eine unbekannte Anzahl von Waisen im Land umher. Manche haben einen, viele beide Elternteile verloren. Zwar werden die meisten von Verwandten - Großeltern, Tanten und Onkeln - aufgenommen. Etliche Kinder, die alle Verwandten verloren haben und keinerlei Unterstützung erhalten, schlagen sich alleine durch.

Sie arbeiten auf Bauernhöfen oder in Geschäften, als Taschendiebe oder gehen betteln. Rund 60 Prozent der befragten Erwachsenen wussten von Kindern und Jugendlichen, die von bewaffneten Gruppen rekrutiert wurden. Die Kinder schließen sich bewaffneten Gruppen wohl auch deshalb an, weil sie hier etwas zu essen bekommen.

Gewalterfahrungen erschweren das Lernen

Rund 1,7 Millionen Kinder ins Syrien besuchen derzeit keine Schule. Auch von den in die Nachbarländer Geflüchteten gehen nach Angaben von UNICEF rund 500.000 Mädchen und Jungen nicht zur Schule. Der Mangel an Schulbildung wirkt sich auch stark auf die Psyche der Kinder und auf ihr Leben aus. Doch damit Kinder überhaupt lernen können, braucht es erstmal einen sicheren Schutzraum.

Die Hälfte der befragten Kinder, die noch eine Schule besuchen, erklärte, sie fühlten sich dort nicht oder nur selten sicher. Entweder wurden die Schulen zerstört, es gibt nicht genügend Lehrer oder die Schulwege sind zu gefährlich. Oft werden die Jugendlichen aber auch früh verheiratet oder müssen arbeiten gehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Doch können Kinder, die mitten im Krieg aufwachsen, überhaupt noch unbeschwert lernen? Werden Kinder täglich mit traumatischen Erfahrungen konfrontiert, kann dies zu langfristigen mentalen Störungen wie Depressionen, Trennungsangst und Überängstlichkeit führen, erklärt Alexandra Chen von der Universität Harvard im Bericht von Save the Children.

Auch die Kombination von körperlichen und verbalen Übergriffen, Gewalt, Angst und täglichen Entbehrungen wie Armut, Hunger und Vernachlässigung könne zu so genannten toxischem Stress führen, weiß die Spezialistin für Kinderschutz und mentale Gesundheit. Der Stress werde ausgelöst, wenn Kinder über einen längeren Zeitraum hohen Belastungen ausgesetzt sind, ohne die nötige Unterstützung von Erwachsenen zu erhalten.

So kann eine dauerhafte Ausschüttung von Stresshormonen in der frühen Kindheit die Nervenverbindungen im Gehirnbereich reduzieren, die für das Lernen und die Vernunft zuständig sind. Die Entwicklung des Gehirns und anderer Organe ist gestört, das Risiko von stressbedingten Erkrankungen wie Herzkrankheiten und Diabetes erhöht.

Dies wiederum kann Störungen des Immunsystems und der Psyche bis ins Erwachsenenalter hinein verursachen. Eine Folge davon ist der Missbrauch von Drogen und Alkohol. Die Kinder können ihre Fähigkeiten nicht voll ausschöpfen - auch dann nicht, wenn die Gewaltsituation beendet ist. All diese Symptome, die auch nach dem Ende der gewaltsamen Konflikte andauern, werden unter dem Begriff Posttraumatische Belastungsstörungen zusammengefasst.

Nun sieht die Realität für Kinder in Syrien, auch für diejenigen, die sich auf der Flucht befinden, so aus, dass es einen "Post"-Zustand nicht gibt. Der Krieg geht immer weiter, er eskaliert mit ständig neuen Angriffen. Ein Ende ist nicht abzusehen. Und mit jedem weiteren Kriegsjahr erreicht die Gewalt gegen Kinder ein neues, unvorstellbares Ausmaß.

"Noch ist Zeit zu handeln"

Doch auch nach sechs Jahren Krieg mit all seinen katastrophalen Auswirkungen gibt es noch Grund zur Hoffnung. Bei Kindern, die schon früh eine gute Beziehung zu fürsorglichen Erwachsenen haben, könnten die schädlichen Konsequenzen noch umgekehrt werden. Zwar haben viele Kinder wichtige Entwicklungsphasen verpasst, so dass die langfristigen Schäden möglicherweise dauerhaft bestehen bleiben. Doch die Mehrheit der befragten Kinder und Jugendlichen können ihre Emotionen ausdrücken und sind fähig, sich mit Freunde und Verwandten auszutauschen.

Die meisten zeigen sich Gewalt gegenüber nicht abgestumpft. Dies zeige auch ihre Stärke und Resilienz. Der Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gebe, sein, so glauben die an der Studie beteiligten Experten und Psychologen, noch nicht überschritten. Der Herzenswunsch vieler der befragten Kinder sei es, einen Schulabschluss zu machen, woraus sich schließen lässt, dass sie noch Hoffnungen für die Zukunft haben.

In einer sicheren Umgebung, mit Hilfe von verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, könnten sich die Kinder von den traumatischen Erlebnissen erholen. Ohne Behandlung und psychosoziale Unterstützung allerdings würden die Traumata an die eigenen Kinder und zukünftige Generationen weitergegeben. Dieses Risiko wächst mit jeder Minute des Krieges. Deshalb müssen Kinder und die sie betreuenden Menschen sofort vor bewaffneten Auseinandersetzungen geschützt und darin unterstützt werden, ihr Leben neu aufzubauen.

Den Krieg schnell beenden

Raus aus dem Kriegsalltag, ein Stück Normalität erleben: Mit einem Appell wendet sich UNICEF an die Bundesregierung, damit syrische Kinder in Krisengebieten die Schule besuchen dürfen. Nicht zuletzt ist es auch ein wirtschaftlicher Schaden für das kriegserschütterte Land, wenn die Kinder der Schule fernbleiben: Die UN schätzt den Gesamtverlust wegen Schulabbruchs auf der Primar- und Sekundarebene bereits heute auf rund elf Milliarden US-Dollar.

Auch die seit 2013 bestehende Initiative No lost Generation, die mit vielen internationalen Organisationen zusammenarbeitet, will Kindern und Jugendlichen in den Krisengebieten mehr Schulbildung und Schutzmaßnahmen zukommen lassen. So sollen im laufenden Jahr über 100.000 Jungen und Mädchen mit strukturiertem, nachhaltigem Kinderschutz und psychosozialen Förderprogrammen erreicht werden.

Bombenangriffe, medizinischer Notstand, schwierige Versorgungslage - immer wieder weisen Organisationen wie Ärzte der Welt oder SOS Kinderdörfer, die elternlose Kinder vor Ort betreuen, auf die unzumutbaren Zustände hin.

So appellierten Ärzte im zerbombten Aleppo im August 2016 in ihrer Not an führende Weltpolitiker. Bisher scheinen alle Appelle und Petitionen nicht auszureichen, diesen Krieg, in dem viele Interessenskonflikte ausgetragen werden, abzumildern oder gar zu beenden. Nicht nur wir als Zuschauer in Europa dürften damit überfordert sein, das komplexe Kriegsgeschehen zu verstehen, das uns in den Nachrichten aufbereitet wird.

Ganz offensichtlich aber sind es immer die Erwachsenen, die Städte und Landstriche verwüsten, um ihre religiösen, ideologischen oder wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Opfer und Leidtragende sind vor allem die Kinder und Jugendlichen. "In zehn Jahren werden wir erkennen, dass eine ganze Generation wenig oder gar nicht gebildet ... und emotional zerstört ist", sagt ein Jugendbetreuer aus Idlib. Was Syrien brauche, sei eine Generation, die die das Land wiederaufbauen kann. Voraussetzung dafür wäre allerdings ein Ende des Krieges. Den jüngsten Angriffen nach zu urteilen, ist dieses Ende wohl noch nicht so bald in Sicht.