System- statt Klimawandel

Die Präsidenten Venezuelas und Boliviens fordern auf dem Klimagipfel in Kopenhagen ein radikales Umdenken. Ihr Auftritt spiegelt das neue Selbstbewusstsein Südamerikas wider

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Sie hätten den Klimagipfel zu einem Tribunal gegen den Kapitalismus gemacht, war in lateinamerikanischen Medien zu lesen. Tatsächlich haben die Präsidenten von Venezuela und Bolivien, Hugo Chávez und Evo Morales, in Kopenhagen harsche Kritik am global dominierenden Wirtschaftssystem geübt. Vor allem der Kapitalismus und die Ressourcenpolitik der Industriestaaten seien für die zunehmende Zerstörung der Umwelt sowie für die gefährliche Erwärmung des globalen Klimas verantwortlich, sagten Hugo Chávez und Evo Morales im Rahmen der Weltkonferenz.

Es sei "schon seltsam", wenn China und die USA in der Klimadebatte auf eine Stufe gestellt werden, sagte Chávez am Mittwoch in seiner Rede von Vertretern der 192 Mitgliedsstaaten der Organisation der Vereinten Nationen. "Die USA haben gerade einmal 300 Millionen Einwohner, in China leben fünf Mal mehr Menschen", so Chávez, der anfügte: "Die USA verbrauchen pro Tag rund 20 Millionen Barrel Erdöl, China kommt auf fünf oder sechs Millionen Barrel." Mit Blick auf die linksgerichteten Staaten Südamerikas sagte der Chávez, diese versuchten nicht das Klima zu ändern. Sein Appell: "Verändern wir das System, um diesen Planeten zu retten." Denn wenn das Klima eine kapitalistische Großbank wäre, "dann hätten die reichen Staaten es schon lange gerettet".

Eine ähnliche Systemkritik kam von Boliviens Staatschef Evo Morales. Es gehe bei den globalen Klimagesprächen darum, der "Kultur des Todes", die globale Ressourcen auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit verschwendet, eine "Kultur des Lebens" entgegenzusetzen. Bei seiner Rede am Donnerstag brachte Morales drei Hauptforderungen vor: Die Industriestaaten müssten gegenüber den Ländern des Südens ihre "Klimaschuld" begleichen. Zudem müsse die Erderwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts im Vergleich zur vorindustriellen Zeit auf maximal ein Grad Celsius beschränkt werden. Und schließlich müsse ein internationaler Gerichtshof für Klimarecht eingerichtet werden. Ein solches bei der UNO angesiedeltes Tribunal könne die Schuldigen für Umweltzerstörung zur Verantwortung ziehen, führte Morales aus.

Wenig Hoffnung auf Klimaabkommen

Das konzertierte Vorgehen der beiden südamerikanischen Staatschefs in Kopenhagen ist kein Zufall. Auf dem Gipfeltreffen der Bolivarischen Allianz für Amerika (ALBA) am vergangenen Wochenende haben Chávez, Morales und weitere lateinamerikanische sowie karibische Delegationen eine gemeinsame Position abgestimmt. Kubas Staats- und Regierungschef Raúl Castro prognostizierte dabei bereits das Scheitern des Weltklimagipfels. Die Verhandlungen in der dänischen Hauptstadt sollten "mit konkreten und überprüfbaren Resultaten zu Ende gehen", zitierte der dpa-Korrespondent Vicente Poveda aus der Rede. Es sei aber schon vorab klar, "dass es kein solches Abkommen geben wird", sagte Castro demnach.

In Kopenhagen nun kündigte Hugo Chávez einen möglichen Boykott der inzwischen neun ALBA-Staaten an. Nicht nur die linksgerichteten Regierungen des lateinamerikanischen Bündnisses, sondern auch die Schwellenstaaten wie Brasilien, China und Südafrika seien mit dem Verlauf der Verhandlungen äußerst unzufrieden. Im letzten Moment habe die dänische Präsidentschaft einen neuen Text "aus dem Ärmel gezaubert", der jüngste Eingaben mit berücksichtigt. Dieses unabgesprochene Vorgehen sei "undemokratisch", so Chávez. Die ALBA-Staaten erwägen deswegen, die Erklärung von Kopenhagen nicht zu unterzeichnen.

Die Bolivarische Allianz ist für fünf Jahren von Kuba und Venezuela als Gegenkonzept zum neoliberalen Freihandelsmodell der USA aus der Taufe gehoben worden. Die ALBA – und das ist die direkte Verbindung zur Klimadebatte in Kopenhagen – basiert auf dem Konzept eines begrenzten Wachstums. Eben das fordern Entwicklungs- und Schwellenstaaten nun in Kopenhagen.

Morales: Zuerst der Menschen und die Umwelt

In einem Interview erklärte Boliviens Präsident Evo Morales dieses Konzept seiner Regierung. Natürlich werde man künftig nicht partout Investitionen aus dem Ausland ablehnen, sagte der indigene Staatschef.

Vor allem anderen sind wir verpflichtet, an das Wohl des Menschen zu denken. Wir müssen versuchen, stets an unsere Heimat, an diesen Planeten Erde zu denken – und nicht nur an das Geld.

Evo Morales

Ausländische Investoren seien von diesem Konzept einer nachhaltig ökologischen Wirtschaftsentwicklung keinesfalls abgeschreckt, sagte Morales. Zwar gebe es mit den USA "einige Probleme". Aber gerade chinesische und europäische Unternehmen seien zunehmend in Bolivien präsent. Das Argument, nach dem der Abbau von emissionsintensiven Industrien die Arbeitsmärkte belastet, lässt Morales nicht gelten. "Ich bin kein Experte, aber ein Gegenbeispiel ist das Lithium", sagte er. Mit diesem Alkalimetall, dessen größte Vorräte in Bolivien zu finden sind, könne man "100-prozentig ökologische Automotoren" herstellen.

Die Entwicklung neuer Markt- und Produktionsmechanismen in Südamerika läuft aber nicht ohne Widersprüche ab. Auf dem jüngsten Gipfeltreffen der ALBA-Staaten in der kubanischen Hauptstadt Havanna warnten mehrere Präsidenten vor einer aggressiveren US-Politik. Zwischen Washington und den linksgerichteten Staaten des Kontinents "verschärft sich die Auseinandersetzung", sagte Kubas Staats- und Regierungschef Raúl Castro. Ähnlich äußerten sich der nicaraguanische Präsident Daniel Ortega und sein venezolanischer Amtskollege Chávez. Als Beleg führten die Gipfelgäste den Putsch in Honduras an, aber auch die Einrichtung von sieben neuen US-Militärbasen in Kolumbien. Es gebe "klare Zeichen für eine Offensive der USA", so Chávez.

Alternatives Integrationsmodell gewinnt an Boden

Ob dem nun so ist oder nicht: Die politische und wirtschaftliche Integration der anti-neoliberalen Staaten Lateinamerikas bedroht zunehmend die historische Dominanz der USA und der europäischen Industriestaaten, mitsamt deren Produktions- und Konsummodell. Auf dem ALBA-Gipfel in Havanna wurde unlängst nicht nur der Aufbau eines gemeinsamen Entwicklungsmodells beraten und durch zahlreiche Staatsverträge besiegelt.

Erstmals nannten die Mitglieder der alternativen Länderallianz einen Termin für den Start eines neuen regionalen Währungssystems. Das Vereinheitlichte Ausgleichssystem (Sistema Unitario de Compensación Regional, SUCRE) soll ab Anfang Januar 2010 zunächst als virtuelle Währung zwischen den Staaten des ALBA-Bündnisses etabliert werden. Vorbild der zwischenstaatlichen Währungseinheit ist der ECU, der in Europa zwischen 1979 und 1998 als Währungseinheit gehandelt wurde. Später wurde aus dem zunächst virtuellen ECU der reale Euro. Auch der Sucre könnte, so das Ziel, mittelfristig zu einer realen Regionalwährung werden.

Mit der Orientierung auf eine eigene, vom US-Dollar unabhängige Regionalwährung reagieren die linksgerichteten Staaten Lateinamerikas und der Karibik unmittelbar auf die Weltwirtschaftskrise. Niemand dürfe glauben, dass diese Krise bereits beendet sei, warnte Raúl Castro zu Beginn des ALBA-Gipfels in Havanna. Offenbar trifft er mit diesem Urteil über die linke Staatenallianz hinaus auf Zustimmung. Die Idee einer Regionalwährung stammt immerhin von dem Ökonomen und ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa. Dieser versucht seit geraumer Zeit, von dem im Jahr 2000 in seinem Land eingeführten US-Dollar loszukommen. Mit der Einführung der neuen Regionalwährung soll nun ein gemeinsamer Währungsrat geschaffen werden. Der Sucre dient zunächst als gemeinsame Verrechnungseinheit. Zudem ist ein Reservefonds für Handelstransaktionen geplant. Lateinamerika versucht sich – das wird klar – auf verschiedenen Ebenen von westlich geprägten Produktions- und Konsummodell zu lösen. Das selbstbewusste Auftreten in Kopenhagen, wo zwei exponierte Vertreter dieser progressiven Staatengruppe alternative Modelle vertreten, ist ein Ausdruck dieser Entwicklung.