TLDs für Städte und Regionen
Die in der vergangenen Woche in Sao Paulo zu Ende gegangene 28. ICANN-Tagung hat zwar keine wesentlichen Durchbrüche bei offenen Fragen wie neue Top Level Domains oder Datenschutz bei WHOIS gebracht, aber ICANN bewegt sich, wenngleich auch etwas langsam.
Zwei Wochen nachdem die ITU bei Ihrer Generalkonferenz im türkischen Antalya nicht unerhebliche Zuständigkeiten für Internet Domain Namen und IP-Adressen – darunter die ccTLDs und internationalisierte Domains (iDNSs) - reklamiert hat, hatte die private ”Internet Corporation for Assigned Names and Numbers” (ICANN) ihre 28. Tagung im brasilianischen Sao Paulo. Die ITU-Resolution 102, die man auch als Kampfansage an ICANN lesen kann, machte aber auf ICANN wenig Eindruck. Man muss erst abwarten, was dabei wirklich rauskommt, war die allgemeine Reaktion der ICANN Community. Und man ging zur Tagesordnung über.
ICANN fühlt sich gestärkt
ICANN sieht sich durch die jüngsten Entwicklungen nicht unerheblich gestärkt. Der UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) hat ICANN mehr oder minder formell anerkannt und das Mandat für das sogenannte Tagesgeschäft des Managements der Internet Root Server, Domainnamen, Internetprotokolle und IP-Adressen bekräfitgt. Die US-Regierung hat im September diesen Jahres mit dem neuen Joint Project Agreement (JPA) ICANN von der kurzen an eine lange Leine gelegt und signalisiert, auf diese Leine im Oktober 2009, d.h. ein Jahr nach den nächsten Präsidentenwahlen in den USA und ein Jahr vor der nächsten ITU-Generalversammlung, ganz zu verzichten.
Die stets die ICANN belastende Diskussion um politisch relevante Themen sind dank des WSIS-Kompromisses von Tunis quasi ausgesourcet worden und haben in dem neuen Internet Governance Forum (IGF) eine Heimstatt gefunden. Die innere Struktur von ICANN hat sich konsolidiert. Das Budget ist auf 36 Millionen US-Dollar angewachsen. Demnächst wird nach Brüssel in Sydney ein zweites regionales Büro eröffnet. ICANN kann sich also auf seine eigentlichen Kernaufgaben konzentieren.
Im Moment sind die Aufgaben vor allem
- die Einführung neuer Top Level Domains (TLD)
- die endgültige Klärung des Umgangs mit der WHOIS Datenbank und
- die Konsequenzen von internationalisierten Domain Namen, insbsondere auf der oberen Ebene, d.h. bei den TLDs.
Die Tagung in Sao Paulo hat zwar bei keiner dieser Fragen einen Durchbruch gebracht. Die Diskussion in den verschiedenen ICANN-Gremien lässt aber erwarten, dass zumindest für die Themen neue TLDs und WHOIS bis zum kommenden ICANN-Treffen im März 2007 in Lissabon die Würfel gefallen sind.
Neue TLDs
Bei den neuen TLDs wird es wahrscheinlich keine radikale Lösung in dem Sinne geben, dass man einfach nach dem “first come, first serve”-Prinzip jedem eine TLD gibt, der die erforderlichen technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zum Betrieb einer Registry dokumentieren kann. Man wird auch weiterhin versuchen den gTLD Namensraum übersichtlich zu halten und nur tröpfchenweise zu erweitern. Einen “Call for Proposals” wird es dennoch 2007 geben. Mit einer weiteren Lizenzierung von vielleicht bis zu maximal 20 TLDs wird dann ab Frühjahr 2008 gerechnet.
In der Schlange stehen dabei jetzt schon neben allen möglichen generischen Namen auch eine wachsende Zahl von TLD-Projekten für Städte und Regionen. Angestellt haben sich u.a. bereits .cym für Wales, .sco für Schottland, .nyc für New York, .gal für Galizien, .btn für die Bretagne und .berlin für Berlin.
ICANNs ”Beratender Regierungsausschuss” (Governmental Advisory Committee - GAC) hat sich in Sao Paulo mit dieser politisch nicht unbrisanten Frage beschäftigt, ist aber noch zu keiner abschließenden Empfehlung gelangt. Das ICANN-Direktorium hat sich gerade bei diesem Problem Zurückhaltung auferlegt und wird erst dann aktiv werden, wenn es nicht riskiert sich mit einer Regierung anzulegen. Im Fall .cat für Katalonien – der Präzedenzfall für die sogenannten GEO-TLDs – hatte die spanische Regierung keine Einwände. Das war das grüne Licht für ICANN, die katalanische TLD zu lizensieren (Nationalismus im Internet?).
Im GAC geht es nun einerseits darum, dass mit hoheitlich geschützten Namen für Städte und Regionen kein politisches Schindluder getrieben werden kann. Die Regierung der Volksrepublik China hätte sicher ein Problem, wenn das ICANN-Direktorium die Domain .tibet an eine private Gesellschaft vergeben würde. Andererseits aber wäre ein dirigistisches Ausbremsen der Option solcher GEO-TLDs weder wirtschaftlich noch kulturell sinnvoll. GEO-TLDs fördern den Wettbewerb, auch mit den nationalen ccTLD-Monopolen, geben Internetnutzern mehr Optionen und können nicht unerheblich dazu beitragen, Kultur und Sprache von Städten und Regionen weltweit bekannter zu machen.
Die Erfahrungen mit der .cat Domain zeigen, dass dies ein Stimulus für die Produktion von unzähligen Websites in katalanischer Sprache und mit auf Katalonien bezogenen Inhalten ist. Insbesondere Fremdenverkehrsverbände sehen darin auch eine großpe Chance, weltweit für den Tourismus zu werben. Es ist ja auch nicht ganz einzusehen, warum sich Los Angeles der ccTLD von Laos .la bedient oder der Freistaat Bayern der von Belarus .by, um im Cyberspace Profil zu zeigen.
Bald raus aus der Sackgasse WHOIS?
Die Endlos-Debatte zu WHOIS ist auch in Sao Paulo nicht wesentlich weiter gekommen. Seit Jahren stehen sich zwei verfeindete Flügel gegenüber. Die einen argumentieren, der freie Zugang zu den persönlichen Daten von Domainnamen-Holdern sei wichtig zur Lösung technischer Probleme, zur Verhütung von Missbrauch und zur Strafverfolgung. Die Position vertreten vorwiegend die US-Regierung und das Gros der Inhaber von geistigen Eigentumsrechten. Auf der anderen Seite stehen die Datenschützer, die Persönlichkeitsrechte reklamieren und den Zugang zu den Daten an ein rechtststaatliches Verfahren – d.h. die Vorlage von Beweisen für Missbrauch und die Entscheidung einer neutralen dritten Partei wie die eines Gerichts – vor den Datenzugang schalten wollen.
Die jahrelange Diskussion bei ICANN hat letztlich zu dem Schluss geführt, dass eine derart polarisierte Debatte keinen Bottom-up-Konsens hervorbringen kann und notwendigerweise eine Top-down-Entscheidung des ICANN-Direktoriums erforderlich ist. Und das Direktorium tendiert nun offensichtlich dazu, den gordischen Knoten zu zerschlagen. Gedacht ist an die Einführung eines mehrstufigen Verfahrens, das auf den konkreten Einzelfall abstellt und Zonen des leichten sowie solche des erschwerten Zugangs schafft. Bis Lissabon soll das vom Tisch sein.
Als ein hoffnungsfrohes Zeichen wurde von vielen in Sao Paulo auch die Feststellung von ICANNs CEO Paul Twomey gewertet, dass der Verweis auf die bestehenden WHOIS-Regelungen in dem neuen Vertrag (JPA) mit der US-Regierung ICANN nicht davon abhalten kann, in eigener Souveränität eine Entscheidung zu treffen, die von der bisherigen Praxis abweicht, d.h. mehr individuellen Datenschutz gewährt.
Eine neue Pandora-Dose: ccTLDs und iDNs
Kaum voran gekommen ist indes die Debatte um internationalisierte TLDs. Im Gegenteil, die iDNS scheinen eine Pandora-Dose geöffnet zu haben Immer länger wird die Liste der Probleme, sobald man sich mit den Details beschäftigt. Erstmals wurde in Sao Paulo tiefer in die IDN-Konsequenzen für die TLDs von Länderdomains geleuchtet. Chris Dispain, der Vorsitzende des für die ccTLD zuständigen CNSO-Rates, zuckte sichtlich zusammen, als die Liste der offenen Probleme zusammegestellt und immer länger wurde.
De facto ist ja jede Länderdomain in einem anderen als dem ASCII Script ein neues Root Zone File und damit potenziell eine neue Registry. Hat nun eine existierende Registry für eine Länderdomain automatisch den Anspruch auf den Betrieb aller Registries in allen Scripts der ISO 630-Liste, die Hunderte von verschiedenen Sprachen auflistet? Hat z. B. also DENIC, die die .de Registry betreibt, automatisch das Recht, .de in kyrillischen, arabischen oder chinesischen Buchstaben zu betreiben? Oder sollte zur Förderung des Wettbewerbs dies neu ausgeschrieben werden? Wie ist das mit der russischen ccTLD .ru? Wenn die Russen eine TLD mit .ru in kyrillisch haben wollen, was ihnen nicht zu verdenken ist, gehört dies automatisch dem bisherigen Betreiber von .ru oder gründet die russische Regierung eine neue staatliche Behörde, um alle unter .ru in kyrillisch registrierten Domainnamen besser kontrollieren zu können?
Und wie geht IANA mit dieser möglicherweise schnell anschwellenden Zahl neuer Root Zone Files im ccTLD-Bereich um? Wer autorisiert dann die letztendliche Publikation dieses Zone Files im Root? Bis 2009 offensichtlich die US-Regieurng. Und was dann? Kommt da doch noch die ITU zum Zuge?
ICANN war gut beraten, sich vor einem Jahr ein “Komitee für strategische Planungen” zu schaffen. Dieses Komitee, aus dem im übrigen Carl Bildt ausgeschieden ist, da er im Oktober 2006 schwedischer Außenminister wurde, wird die nächsten Jahre viel Arbeit bekommen.
ICANN-Modell Multistakeholderismus?
Zu den Herausforderungen des Strategiekomitees wird es auch gehören, den Modellcharakter ICANNs für eine Multistakeholder-Organisation weiter auszuprägen. Wenn es ICANN gelingt, glaubhaft und substantiell die Internetnutzer sowohl in die Entwicklung von Politiken als auch in die Fällung von Entscheidungen einzubinden, wäre das in der Tat eine Pionierleistung für die Globalpolitik.
Auf dieser Strecke brachte Sao Paulo einen nicht unerheblichen Fortschritt. Nach vierjähriger Diskussion in ICANNs Nutzerorganisation, dem ”At Large Advisory Committee” (ALAC) wurde die erste ”Regional At Large Organisation” (RALO) für die Karibik und Lateinamerika gegründet. Ihr gehören mehr als 30 sogenannte “At Large Structures” (ALS) aus fast allen Ländern der Region an. Auch individuelle Nutzer kønnen der RALO beitreten. Die Europäer wollen in Lissabon im März 2007 ihre EU-RALO gründen. Bislang sind knapp 20 europäische ALSs lizensiert. Fortgeschritten sind auch die regionalen Projekte in Asien und Afrika. Der Fortschritt geht nicht zuletzt auf den energischen Führungsstil der sei einem Jahr im Amt befindlichen neuen ALAC-Vorsitzenden, der deutschen Anette Mühlberg, zurück. Mühlberg war zuvor bei der Gewerkschaft ver.di für eGovernment zuständig.
Dass das Thema “Multistakeholderismus” immer bedeutender wird, hat auch die ITU erkannt. Sie hat aber in Antalya erst einmal einen Arbeitsgruppe gebildet, um die Konsequenzen dieses vom WSIS-Prozess eingeführten neuen Prinzips der Globaldiplomatie zu studieren. Das Kuriose an dem ITU-Beschluss ist, dass nur Regierungen eingeladen wurden, an diesem “Studium” teilzuhaben. Die Betroffenen und Beteiligten, d.h. die Privatwirtschaft und die Zivilgesellschaft, sind bei der ITU nach wie vor draußen vor der Tür, bei ICANN aber drinnen im Saal, ja sogar im Direktorium.
Man kann gespannt darauf sein, wohin dies in den nächsten Jahren hinführt. Bis zur nächsten ITU-Vollversammlung im Sommer 2010 in Mexico City ist ja noch viel Zeit.