Tagesschau: Unseriöse Berichterstattung und Dünkel

Seite 2: Chefredakteur Gniffke: Haben den "Sachstand abgebildet"

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Dem hält Chefredakteur Gniffke entgegen, dass die Tagesschau-Meldung den "Sachstand" abgebildet habe, "der sich zum Ausstrahlungszeitpunkt aus Agenturmaterial und den Informationen der Originalquellen (z.B. Vereinte Nationen) ergab".

Um den Qualitätsnachweis abzurunden, fügt der ARD-aktuell-Chefredakteur hinzu, dass bei der Nennung der Quelle "Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London" (SOHR) darauf geachtet wurde, ihr ein "oppositionsnah" voranzustellen. Dies würde sich mit der Einschätzung des ARD-Korrespondenten Volker Schwenck decken, auf dessen Expertise man vertraue und die er als maßgebend für die Berichterstattung erachte.

Den Vorwürfen der Kritiker, dass Schwenck, der Leiter des ARD-Büros in Kairo ist, nicht aus Aleppo berichtet, entgegnet Gniffke mit dem Einwand, dass Schwenck sich selbstredend nicht dauerhaft in Syrien aufhalten könne. Dass ARD-Korrespondenten aber immer wieder in Kriegsgebiete reisen würden, unter Einsatz ihres Lebens. An Mut fehlt es dem ARD-Mitarbeiter nicht. Aber an der Courage, unbequeme Meldungen zu verfassen? Mit unbequem ist gemeint, dass sie den Konsens bzw. das politische Playbook großer Medienhäuser infrage stellen.

Es kommt nicht von ungefähr, dass Gniffke aus dem Telepolis-Artikel, den Bräutigam und Klinkhammer an ihn geschickt hatten - Aleppo: Radikal-islamistische Milizen bereiten Offensive vor - eine Quelle gelten lässt: Dan Rivers, der auch bei einem Fernsehsender arbeitet, nämlich ITV.

Geht es um Abschottung oder um das ganze Bild?

Rivers sei "per se", also anders als Telepolis, "nicht anzuzweifeln". Aber "für uns nicht überprüfbar", wie Gniffke schreibt. Man arbeite in der Regel nicht mit Korrespondentinnen und Korrespondenten anderer Häuser zusammen. Was ist das für ein Arbeitsethos? Geht es darum herauszufinden, was an Orten, über die man berichtet, geschieht oder um Abschottung?

Es genügt weniger als eine Stunde, um im Netz etwas über Meldungen zu erfahren, die Agenturmeldungen ergänzen oder in einem anderen Licht darstellen. Dass große Sender keinen Wert auf professionelle Kontakte nach außen legen, um solchen Abweichungen nachzugehen, verblüfft. Umso mehr, als man bei der Quelle SOHR dann doch Meldungen übernimmt.

SOHR verbreitet Nachrichten aus einem größeren Netzwerk von Mitarbeitern, die der Öffentlichkeit völlig unbekannt sind. Unter den Meldungen finden sich manche nützliche Hinweise, allerdings müssen sie wegen der Nähe zur Opposition mit anderen verglichen werden. Behandelt wird SOHR allerdings oft wie eine Art Nachrichtenagentur, deren Mitteilungen lediglich umgeschrieben, aber nicht überprüft werden.

Der Unterschied zwischen Telepolis und der Tagesschau ist groß: Die Tagesschau hat einen Korrespondenten in Kairo. Wir gehen davon aus, dass er über seine Beobachtungen zur Situation in Syrien hinaus sich auch über Einschätzungen auf dem Laufenden hält, die al-Nusra in einem größeren Lagebild einordnen.

US-Regierung und Experten: Andere Einschätzung als die der Tagesschau

So machen sich US-Experten, die seriös genug sind, um in Fragen zur Einschätzung von al-Qaida vor Kongressausschüsse gebeten werden, seit langem keine Illusionen mehr darüber, dass der al-Qaida-Ableger al-Nusra-Front die Führungskraft der Milizen in Ost-Aleppo ist.

Zum Beispiel Thomas Joscelyn, der für das Long War Journal schreibt. Er warnt schon lange vor einer Unterschätzung dieser Gefahr. Zur Taktik von al-Qaida gehört, sich hinter anderen, lokalen Gruppen zu verbergen.

Erwähnt wird er als Beispiel, weil er nicht der Fraktion der "Putinversteher" angehört, was ihn als Quelle in den Augen der ARD diskreditieren könnte, sondern einem konservativen Think Tank. Bei Joscelyn wird man auch auf Eingeständnisse von US-General Allen stoßen, der auf dem Halifax-Forum, das vor ein paar Tagen stattfand, von einer längeren Fehleinschätzung der USA gegenüber al-Nusra berichtet hatte.

An der Dominanz der al-Nusra in Ost-Aleppo gibt es auch für das konservative Institut for the Studies of War (ISW) seit vielen Monaten keine Zweifel, wie ein ausführlicher Bericht darlegt. Man wird es schwer haben, Experten zu finden, die das Gegenteil behaupten. Selbst Publizisten, die sich als Unterstützer einer "moderaten Opposition" in Syrien ausgeben, wie der in meinem genannten Artikel angegebene britische Jihad-Experte Lister, leugnen dies nicht.

Die US-Regierung hat sich seit kurzem dazu entschlossen, das al-Qaida-Problem in Syrien ernsthafter anzugehen. Al-Nusra steht auf der Terrorliste, einzelne Personen, die mit dem Widerstand in Ost-Aleppo verflochten sind, wie auch Ideologe Scheich Muhaysini, wurden ebenfalls auf die Liste gesetzt.

Das sind deutliche Signale dafür, dass die al-Qaida-Präsenz in Aleppo als "seriös" eingestuft wird - und nicht erst seit gestern. Auch wenn der Zuschauer vieler Tagesschau-Berichte überrascht sein könnte, dass nun plötzlich die al-Qaida in Aleppo auftaucht.

Mit dem in dem Antwortschreiben auf die Kritiker demonstrierten Dünkel - der im Nachhinhein allerdings als bedauerliches Missverständnis ausgewiesen und korrigiert wurde - gegenüber anderen Publikationen, die sich die Arbeit machen, blinde Flecken in der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung kenntlich zu machen, tut sich die Tagesschau-Chefredaktion keinen Gefallen. Das Misstrauen gegenüber der Ausblendung bestimmter Realitäten in der 20-Uhr-Wirklichkeit ist ohnehin groß.