Taktierende Bundeskanzlerin wartet im Fall Nawalny das OPCW-Ergebnis ab
Es ist absehbar, dass die in ihrer Glaubwürdigkeit angeschlagene OPCW wie im Skripal-Fall irgendwie Nowitschok bestätigt, wovon auch Moskau ausgeht, aber es wird wie vieles anderes ungeklärt bleiben, woher es kommt. Nawalny: Putin steckt dahinter
Gestern griff Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Generaldebatte im Bundestag in ihrer Rede auch das Verhältnis zu Russland auf, wobei für sie der Fall Alexei Nawalny hier im Zentrum zu stehen scheint. Sie hatte vermutlich mitgeholfen, den russischen Oppositionspolitiker und Leiter der Korruptionsaufklärungsorganisation FBK zur Behandlung von Russland nach Berlin zu bringen und ihn in der Charité unter hohen Sicherheitsvorkehrungen behandeln zu lassen. Von Anfang an war klar, dass es sich nicht nur um eine humanitäre Aktion handelte, sondern um eine hochpolitische Angelegenheit, die das Verhältnis Deutschlands und der EU zu Moskau betrifft.
Merkel nährte mit anderen Mitgliedern der Bundesregierung in einer Regierungserklärung den Verdacht, dass hinter der mutmaßlichen Vergiftung staatliche russische Stellen stehen, die den Oppositionellen beseitigen wollten (aber so ungeschickt waren, dass die Piloten der russischen Maschine eine Notlandung machten und die russischen Ärzte im Omsker Notfallkrankenhaus offenbar das Richtige machten, um sein Leben zu retten, wofür sich schließlich selbst Nawalny bedankte: "Ihr seid gute Menschen.").
Dann stellte sich heraus, dass Merkel den Fall Nawalny so wichtig fand, dass sie ihm heimlich am Krankenbett einen Besuch abstattete. Auch wenn sie ihren Regierungssprecher betonen ließ - und auch Nawalny die Formulierung vorgab -, dass es kein geheimer, sondern nur ein privater Besuch gewesen sei, ist dies schon sehr außergewöhnlich. Nach dem Spiegel ließ sie sich auch täglich über das Befinden von Nawalny informieren. Der russische Oppositionelle, gerne als der gefährlichste Gegner von Wladimir Putin aufgebaut, war zu einer Art Staatsgast geworden, mit dem politische Reaktionen gegenüber Moskau verbunden waren.
Bekanntlich hatte das - bei der OPCW zertifizierte - Bundeswehrlabor in München sowie zwei weitere Militärlabore in Schweden und Frankreich das Gift als Substanz aus der Nowitschok-Gruppe bestimmt. Es wurde aber nicht weiter mitgeteilt, um welche Nowotschok-Substanz es sich handeln soll, also auch nicht, ob es eine Verbindung ist, die nach der auch durch russische Vorschläge erweiterten OPCW-Liste, die gerade erst im Juni in Kraft getreten ist, ausdrücklich verboten ist. Es ist die Rede davon, dass es sich um eine neue Nowitschok-Verbindung handelt, die langsamer wirkt. Wenn es wirklich eine neue sein sollte, dann würde sie vielleicht nicht auf der OPCW-Liste stehen.
Unklar ist bislang, ob eine vom Nawalny-Team nach Deutschland mitgebrachte Wasserflasche Spuren von Nowitschok auf sich trug und damit half, die Substanz auch in Körperproben nachzuweisen. Problematisch ist, dass durch die Durchsuchung des Hotelzimmers, in dem angeblich die Flasche gefunden worden sein soll, eine Beweissicherung nicht mehr möglich ist (Nach seinem Team wurde Nawalny im Hotel in Tomsk vergiftet).
Überdies dürfte das Video inszeniert sein, zumindest scheint die vorgegebene Aufnahmezeit nicht zu stimmen. Das belegt offenbar auch das Team von Boris Titow, dem Vorsitzenden der russischen Wachstumspartei. Er checkte mit seinem Team danach am 20. August um neun Uhr im Hotel Xander ein, wo sich die beiden Teams begegneten. Um 9:30 verließ Titow wegen eines Termins beim Gouverneur das Hotel. Das stimmt mit der Zeit der Armbanduhren der Nawalny-Leute im Video überein, aber nicht mit der Uhrzeit des Weckers, der gezeigt wurde, um den Zeitpunkt der Suche zu belegen.
Verwirrend wiederum ist, dass nach diesem Bericht bereits der Kollaps von Nawalny bekannt war, was über die Piloten oder durch Internet an Bord der Maschine möglich wäre, und dass auch schon Polizisten im Haus waren. Warum dann das Nawalny-Team noch das Hotelzimmer betreten konnte, ist offen. Allerdings haben Nawalnys Leute bereits wieder umgeschaltet. Zunächst wurde Gift im Tee vermutet, den Nawalny am Flugplatz trank, dann kam Wochen später die Wasserflasche ins Spiel, um dann durch ein möglicherweise vergiftetes Kleidungsstück im Hotel ersetzt zu werden.
Mit der Erklärung vom 2. September machte die Bundesregierung klar, dass man zwar Nawalny unterstützt hat, aber den Fall als Thema der gesamten EU sieht, es sei keine bilaterale Angelegenheit, wegen des Verstoßes gegen das Chemiewaffenverbotsabkommen sei es auch eine internationale Aufgabe. Überdies schob man die Aufgabe Moskau zu, den Anschlag transparent und vollständig aufzuklären, während man gleichzeitig Rechtshilfeersuchen Russlands blockierte, womit sich Moskau und Berlin dann wechselseitig die Schuld zuschieben konnten, an einer Aufklärung nicht interessiert zu sein. Das Spiel wiederholte Merkel jetzt auch wieder im Bundestag.
Obgleich der Nachweis "zweifelsfrei" sei, bat die Bundesregierung die OPCW um technische Hilfe, d.h. um eine Bestätigung des Nachweises für Nowitschok. Die OPCW bestätigte schließlich, Inspektoren in die Charité geschickt zu haben, die von Nawalny Proben nahmen. Gestern sagte Merkel, man wolle die Ergebnisse der OPCW noch abwarten, um dann "im europäischen Kreis über notwendige Reaktionen zu diskutieren".
Was wird man von der OPCW erwarten können?
Moskau weiß schon bzw. erwartet, dass die OPCW Nowitschok in den Proben finden wird, "die vom Technischen Sekretariat in einer verdeckten Operation, die von allen Beteiligten sorgfältig vor uns verborgen wurde". Tatsächlich hatte es erst einmal einige Unstimmigkeiten in den Berichten über die technische Hilfe der OPCW gegeben, bis die Organisation dies bestätigte.
Beklagt wird erneut, dass Berlin den Ansuchen der russischen Generalstaatsanwaltschaft nach den Belegen, dass ein Verbrechen begangen wurde, nicht nachgekommen sei. Deutschland habe auf die OPCW verwiesen, die wiederum Berlin als Adressat nannte. Überdies wurden die Proben ohne russische Genehmigung entnommen, obgleich die Vergiftung in Russland stattgefunden habe. Eine Genehmigung sei aber nach dem OPCW Confidentiality Annex der Chemiewaffenkonvention erforderlich. Soweit ich das verstehe, aber nicht für die Entnahme von Proben, sondern nur für die Veröffentlichung von Informationen, die einen Mitgliedsstaat betreffen (Any information may be released with the express consent of the State Party to which the information refers). Das dürfte allerdings erst einmal Deutschland als Antragsteller und nicht Russland sein.
Wenn die OPCW ähnlich wie im Skripal-Fall lediglich den Nachweis einer toxischen Chemikalie bestätigt, die in diesem Fall das Bundeswehrlabor identifiziert hat, ist man auch nicht weiter. Es dürfte auch dieses Mal nicht bewiesen werden können, woher das Nowitschok stammt. Das hatte im Skripal-Fall auch der Direktor des britischen Militärlabors in Porton Down klar gestellt. Dazu kommt, dass die OPCW mit dem Bericht über den angeblichen Giftgasangriff im syrischen Duma Vertrauen verspielt hat, eine unabhängige und neurale Instanz zu sein, weil die Leitung offenbar Ergebnisse der Inspektoren so zurechtgebogen hat, dass Russland und Damaskus belastet und die vom Westen gerne als "Rebellen" bezeichneten Islamisten entlastet wurden (Der OPCW-Abschlussbericht und der angebliche Giftgasangriff in Duma und Giftgas in Syrien: Warum sich die OPCW weiter unglaubwürdig macht).
Verfolgt Merkel eine Strategie?
Man wird also nur weiter mit dem Finger auf Russland zeigen können, weil es vor Jahrzehnten in der Sowjetunion im alten Kalten Krieg entwickelt worden war, wenn man davon absieht, dass es in vielen Labors hergestellt und erforscht wurde. Entwendet worden könnte es von Mitarbeitern, die es verkaufen, wie das Anfang der 1990er Jahre in Russland geschehen ist, um einen Banker zu töten. Ähnlich scheint eine Probe aus sowjetischen oder russischen Labors durch einen "Überläufer" in die Hände des BND gekommen zu sein, der sie weiter gegeben hat - nach Schweden, in dem ein Militärlabor Nawalny-Proben identifiziert haben soll. Der BND verweigert Auskunft, wo die Proben verblieben sind und ob sie auch nach Deutschland zurückgekommen sind - vielleicht zum Bundeswehrlabor, das so Nowitschok erst identifizieren kann.
Denkbar wäre, dass Merkel Russland mit Nawalny unter Druck setzen will, um anderes als neue Sanktionen durchzusetzen, beispielsweise eine Lösung des Ukraine-Konflikts und/oder neue Wahlen in Belarus. Wenn sie dann an Nordstream 2 festhält und sich dem Druck der USA nicht beugt, aber gleichzeitig eine friedliche Entwicklung in der Ukraine oder in Belarus bewirkt, indem Moskau einlenkt, hätte sie zum Ende ihrer Kanzlerschaft einen größeren außenpolitischen Erfolg erzielt.
Update: Nawalny hat dem Spiegel ein Interview gegeben. Dort erklärt er: "Ich behaupte, dass hinter der Tat Putin steht, und andere Versionen des Tathergangs habe ich nicht." Noch einmal beteuert er, nach Russland zurückzukehren: "Meine Aufgabe ist jetzt, der Typ zu bleiben, der keine Angst hat. Und ich habe keine Angst!"