Taliban: Die Entstehung einer sozialen Bewegung

Bewaffneter Transport in von den Taliban kontrolliertem Kabul, 17. August 2021. Bild: VOA, gemeinfrei

Die westliche Besatzung ab 2001 hat die Taliban von einer Ordnungsmacht zu einer antikolonialen Kraft gemacht. Ein Rückblick (Teil 1)

Seit Wochen kursieren Schockmeldungen westlicher Medien über die rasante und selbstverständliche Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Als gesellschaftlicher Gegenentwurf zur Korruption und Brutalität der Warlords im Bürgerkrieg feierten die Taliban ab Mitte der 1990er-Jahre einen Siegeszug als bemerkenswert erfolgreiche soziale Bewegung.

Mit der militärischen Besatzung ab 2001 wurde nur mehr eine neue Phase des seit 1978 andauernden kriegerischen Widerstandes paschtunischer ruraler Eliten eingeläutet. Die Taliban, die anfangs von vielen als eine funktionierende Ordnungsmacht wahrgenommen wurden, ergänzten seither ihr Selbstverständnis: als antikoloniale Kraft gegen die westlichen Invasoren.

Betrachtet man den Wandel von Identitätsentwürfen und Religion im Kriegsgeschehen, können die aktuellen Entwicklungen kaum überraschen.

Paschtunen, Taliban und wahrhaftige Gläubige

Nachdem Pakistans Hoffnungen auf Handelsbeziehungen zu den neuen mittelasiatischen Staaten aufgrund der instabilen Sicherheitslage im afghanischen Transit enttäuscht worden waren, unterstützte die pakistanische Regierung ab Anfang 1994 afghanische Religionsschüler, die sich zu organisieren begannen.

Das gesellschaftliche Stigma der Verwaisung verbunden mit der Hoffnung auf eine Zukunft als Religionsgelehrte, war ein häufiges Motiv von Jungen, während des Krieges eine Ausbildung in einer Medresse (Religionsschule) zu absolvieren.

Der Rückhalt der Taliban bestand aus einem Netz aus Medressen und Religionsgelehrten (Ulama), das sich fast mit den ethnischen Grenzen der Paschtunen Pakistans und Afghanistans deckte.

Im günstigen Fall, so das pakistanische Kalkül, würden die Religionsschüler die Kämpfe um die Vorherrschaft in Afghanistan beilegen, und ansonsten zumindest den Südwesten des Landes kontrollieren, was Pakistan eine sichere Handelsroute nach Zentralasien garantierte. Zudem mehrten sich Befürchtungen in Karachi, dass das Chaos im Nachbarland über die eigenen Grenzen greifen könnte.1

Im Oktober 1994 traten die Taliban als eine weitere militärische Kraft in Erscheinung.2 Ihr erklärtes Ziel war die Beendigung des Bürgerkrieges und die Errichtung einer "reinen und wahrhaftig islamischen" Gesellschaft.3

Mullah Mohammad Omar, ihr nomineller Anführer, erklärte: "Wir griffen zu den Waffen, um das Ziel des afghanischen Dschihad zu erreichen und unser Volk vor weiterem Leid aus den Händen der sogenannten Mudschaheddin zu bewahren".4

Zu dem Zeitpunkt war jeder sechste Afghane kriegsversehrt, die Lebenserwartung weltweit am niedrigsten und die Kindersterblichkeit weltweit auf zweitem Rang.

Das Wegfallen ausländischer Unterstützung nach dem Ende des Kalten Krieges und die lange zuvor zum Erliegen gekommene Landwirtschaft hatten eine Bürgerkriegsökonomie befördert.

Binnen weniger Wochen hatten sich etwa 12.000 Koranschüler den Taliban in Kandahar angeschlossen, denen bald tausende weitere afghanische Paschtunen folgten.

Die meisten waren jung - zwischen 14 und 24 Jahre alt - und hatten noch nie gekämpft. Vor neuen Offensiven leisteten pakistanische Medressenschüler für kurze Zeiträume Militärdienst - diese akut-Hilfskräfte stellten etwa 30 Prozent der militärischen Stärke der Taliban.

Die willkürlichen Einberufungen ähnelten denen der Erzwingungsstäbe der paschtunischen Stammesmilizen (Lashkar).5

Indem die Religionsschüler durch ihre spartanische Lebensführung den eigenen islamischen Anspruch glaubhaft demonstrierten, bekamen sie rasch die Unterstützung der Bevölkerung und konnten den Süden und Osten Afghanistans kampflos einnehmen.

Die Taliban entmachteten lokale Befehlshaber, die einflussreichen Khane und deren Milizen: In den von ihnen kontrollierten Provinzen entwaffneten sie die Bevölkerung, bauten informelle Zollstationen ab und unterbanden damit das Erheben willkürlicher "Steuern".

Sie sicherten die Handelsrouten, was eine unverzügliche Senkung der Lebensmittelpreise zur Folge hatte. Diese Ordnung stiftenden Maßnahmen fanden sowohl bei der leidgeprüften Bevölkerung wie auch bei Händlern große Zustimmung: Auf der Straße zwischen Kabul und Dschalalabad gab es zuvor mindestens fünf Straßensperren, die von unterschiedlichen Stämmen, Parteien und Warlords kontrolliert wurden.6

Die Anzahl an Gewalttaten sank unter den Taliban drastisch. Sie konnten zwar den Bürgerkrieg nicht vollständig beenden, aber dennoch expandieren und bis 1996 ihre Autorität über die paschtunischen Provinzen konsolidieren.

Aufgrund ihrer Popularität konnten sie sich bald der Kontrolle ihrer pakistanischen Mentoren entziehen, ohne auf deren materielle, politische und ideologische Unterstützung verzichten zu müssen.7

Pakistan blieb das einzige Land, das die Taliban unterstützte, weshalb andere Staaten in der Region dem Militärregime zunehmend feindselig gegenüberstanden. Die höchste Entscheidungsinstanz der Taliban war die Schura in Kandahar, die der konsensbildenden paschtunischen Dschirga, einem Rat, an dem alle Stammesführer teilnehmen, ähnelte.

Die meisten Entscheidungen und Dekrete kamen aus der relativ unsichtbaren Shura in Kandahar. Selbst der von den Anwesenden der Schura legitimierte Anführer inszenierte sich kaum: Mullah Omar trat nur selten öffentlich in Erscheinung. Seine Macht wurde der Öffentlichkeit durch seine Vertreter, die Taliban selbst, vermittelt, die auf den Straßen und über Radio Scharia allgegenwärtig waren.8

Der Gründungsmythos der Taliban liest sich wie folgt: Im Frühjahr 1994 kamen Nachbarn Mullah Omars zu ihm, um zu berichten, dass ein Befehlshaber zwei junge Mädchen entführt und wiederholt sexuell missbraucht hatte.

Einige Taliban befreiten die Mädchen, richteten den Befehlshaber hin und konfiszierten Waffen und Munition.9

Ob sie wahr ist oder nicht; diese Geschichte war für viele Afghanen angesichts der Erfahrungen, die sie selbst nach dem sowjetischen Abzug gemacht hatten, glaubhaft. Deshalb fanden die Taliban als Ordungsstifter zunächst Zustimmung in der Bevölkerung.

Durch ihre performativen Äußerungen und Handlungen, nicht durch Programmatik, schufen sie eine Wertordnung. Mit der Gründung einer weiteren Partei, gleichgültig welcher Ausrichtung, hätten sie kaum Zustimmung gefunden; die Formierung als religiöse Bewegung war hingegen Erfolg versprechend.

Die Taliban repräsentierten eine anticharismatische Bewegung, deren Schwerpunkt nicht auf Persönlichkeiten und Anführern oder deren Versprechen lag, sondern in der Bewegung selbst.10

Politische Inszenierung religiöser Deutungshoheit

Am 4. April 1996 erschien Mullah Omar auf dem Dach eines Gebäudes im Stadtzentrum Kandahars mit einem Umhang des Propheten Mohammed über den Schultern, der zum ersten Mal seit 60 Jahren seinem Schrein, der beliebtesten Pilgerstätte der Afghanen, entnommen worden war.

Die anwesende Menge spendete stürmischen Beifall und rief: Amir-ul momineen! - Anführer der Gläubigen.11

Dieser islamische Titel erhob Omar zum unumstrittenen Führer des Dschihad und zum Emir von Afghanistan. Die Inszenierung war ein politisches Meisterstück, denn Mullah Omar hatte nun seinen Machtanspruch geltend gemacht, nicht nur alle Afghanen, sondern auch alle Muslime anzuführen.

Die Veranstaltung endete mit einer Erklärung des Dschihad gegen das Regime des Tadschiken Rabbani - und damit gegen die eigenen Landsleute.12

Für viele gläubige Afghanen war es ein ernster Affront, was sich dieser mittellose Dorfmullah ohne jede Schulbildung, ohne Stammesadel oder Verwandtschaft mit der Familie des Propheten anmaßte.

Überdies verdrehte Mullah Omar allseits anerkannte Machtverhältnisse: Die Dorfgeistlichen (Mullahs) wurden notabene von den Dorfbewohnern angestellt; sie erhielten einen Anteil an der Ernte und an dem Viehbestand, so dass ihr Einkommen von der ökonomischen Situation des Dorfes abhing.

Mullahs wurden üblicherweise von der Dorfbevölkerung als Klienten des Kollektivs betrachtet, die in einem Abhängigkeitsverhältnis standen.

Der Titel Amir-ul momineen verlieh Omar die dringend benötigte Legitimität, die kein Mudschaheddin-Führer während des Krieges hatte erwerben können. Er erlaubte ihm, sich von der alltäglichen Politik zu distanzieren, keine ausländischen Diplomaten zu treffen, und gestattete ihm, in politischen Fragen unflexibel zu sein.

Omar konnte es jetzt ablehnen, mit Oppositionsführern auf gleicher Ebene zu verhandeln.13 Jeden Minister, der politisch zu mächtig wurde, schickte Mullah Omar sofort zurück an die Front, um persönliche Bereicherung, Klientelbeziehungen und damit eine konkurrierende Machtbasis zu verhindern.14

Ein Resultat war, dass die Durchsetzung ihrer Dekrete wegen uneindeutiger Befehlshierarchien von einer Region zur nächsten variierte. In ruralen paschtunischen Gegenden verursachten die Restriktionen anfangs zwar relativ wenig Probleme; weil jedoch die Taliban in den Dörfern wie Besatzer auftraten, wuchs die Skepsis der Bevölkerung.15

Die offensichtliche administrative und wirtschaftliche Unfähigkeit, die mangelnde soziale Verantwortung und Zweifel an ihrer religiösen Kompetenz führten 1997 zu mehreren Revolten der paschtunischen Bevölkerung.16

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