Taliban: Erst Frieden feiern mit der Bevölkerung, später angreifen?
Der Angriff auf die ostafghanische Provinzhauptstadt Ghasni, Propaganda und Infiltration
Afghanistan verstehen? Die Taliban überfielen in der Nacht auf den heutigen Freitag die ostafghanische Provinzhauptstadt Ghasni. Dabei kam es zu über hundert Toten. Aber neulich gab es noch ganz andere Szenen: Es wurde gefeiert.
Während der drei Tage der Eid-al-Fitr-Feiern (vom 15. Bis 17.Juni, Einf. d. A.) war Ghasni Gastgeber für Dutzende von Taliban-Kämpfer, die in die Stadt gekommen waren, um die Feiertage mit ihren Familien zu zelebrieren. Sie flanierten frei in der Öffentlichkeit und fraternisierten mit Mitgliedern der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF).
Afghanistan Analyst Network
Wer an Bilder dieser Feierlichkeiten denkt, wie sie an dieser Stelle von Emran Feroz geschildert wurden (Afghanistan: Superlative des "failed state"?) - "mitten im Kabuler Stadtteil Kote Sangi hissten Taliban-Kämpfer ihre Flagge und wurden von Sicherheitskräften mit Freude empfangen. Man umarmte sich, machte Selfies und trank gemeinsam Tee" -, der fragt sich, ob die Fraternisierungsszenen in Ghasni ganz ähnlich abliefen und wie denn dann der Hintergrund zum oben genannten mörderischen Angriff der Taliban auf Ghasni aussieht.
Im Bericht der New York Times zum Taliban-Angriff auf die "afghanische Schlüsselstadt" ist der Vorwurf zu lesen, dass sich Taliban-Kämpfer schon seit Monaten in der Umgebung und in der Stadt aufgehalten und angesammelt hätten und trotz der Warnungen nichts unternommen wurde. Der Vorwurf stammt von einem Parlamentarier, der ihn damit ergänzt, dass es vor allem die Polizeikräfte seien, die den überwiegenden Teil der Kämpfe schultern.
Bereits den eingangs genannten erstaunlichen Feierlichkeiten gingen andere Verhaltensweisen voraus: Zusätzlich zu ihren Angriffen in der Umgebung und ganz besonders auf Verkehrsverbindungen "schufen die Taliban Probleme für die Bewohner der Stadt Ghasni, indem sie Menschen gezielt erschossen und Steuern erhoben". Diese Beschreibung findet sich in einer lesenswerten, weil ausführlichen und erhellenden Situationsbeschreibung des Afghanistan Analysts Network vom 25. Juli dieses Jahres.
Dem ist zu entnehmen, dass die Taliban in der Provinz Ghasni militärisch einige Eroberungen gemacht haben. Dass sie strategisch sehr gezielt vorgehen, sich ihre Ziele, militärisch wichtige Stellen, aber auch Medien und für Steuereinkünfte wesentliche Adressen mit Planung und Bedacht aussuchen - und die Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte dieser vielstufigen, auf mehreren räumlichen und zeitlichen Ebenen angelegten Eroberung wenig entgegenzusetzen haben. Sie sind personell und materiell überfordert.
Auch in der US-Publikation Long War Journal muss man nicht lange nach Taliban-Eroberungserfolgen in Ghasni, die dann auch propagandistisch ausgebeutet werden, suchen. Das hat dazu geführt, dass die Taliban die Provinz Ghasni "militärisch dominieren", wie das heute in deutschsprachigen Nachrichten zum aktuellen Überfall auf die Stadt ausgedrückt wird. Die Tagesschau erklärt dazu die strategische Relevanz der Stadt:
Die Stadt mit 150.000 Einwohnern liegt an der wichtigsten Straße zwischen Kabul und dem südlichen Kandahar und ist daher von strategischer Bedeutung. Lokalen Medienberichten zufolge wurde der Verkehr auf der Route eingestellt. Sollten die Taliban Ghasni erobern, hätten sie praktisch den Norden vom Süden abgeschnitten.
Tagesschau
Nach aktuellen Lageeinschätzungen von Korrespondenten am Freitagnachmittag haben die Taliban die Stadt nicht erobert, gleichwohl dauerten die Kämpfe noch an und die "Säuberung" der Stadt von Talibankämpfern wird anhand der geschilderten schon länger währenden Infiltration als ziemlich schwierig bewertet.
Dass die Taliban gezielt Sprengsätze auf den Zufahrtsstraßen gelegt haben und nahe daran waren, Ämter, Behörden und das Polizeihauptquartier in Gefahr und möglicherweise unter ihre Kontrolle zu bringen. Dass Telekommunikationssignale ausgeschaltet wurden und die Verstärkung der afghanischen Sicherheitskräfte offensichtlich Mühe haben, ihren bedrängten Kollegen zu Hilfe zu kommen, bestärkt den Eindruck eines durchdachten Vorgehens, das die Regierungskräfte und ihre US-amerikanischen Verbündeten in arge Schwierigkeiten bringen kann.
US-Militärvertreter wiegeln allerdings ab. Geht es nach ihren Statements, wie sie zum Beispiel vom Guardian wiedergegeben werden, so ist von eigenen Verlusten nicht die Rede. Die Situation war demnach seit dem frühen Vormittag unter Kontrolle (der Angriff - an mehren Stellen der Stadt gleichzeitig - begann etwa um Mitternacht, manche Quellen nennen 2 Uhr) und laut Lt. Col. Martin L. O’Donnell, dem Sprecher des amerikanischen Militärs in Afghanistan, war der ganze Vorgang ein gescheiterter Versuch der Taliban, nützlich nur zu Propagandazwecken.
Militärisch-strategisch sei das vereitelte Unterfangen ohne Konsequenzen, wird O'Donnell von der New York Times wiedergeben. Unterstrichen wird das mit good news in den sozialen Netzwerken, die den Eindruck bestärken, dass alles unter Kontrolle ist und es keinen Grund zur Beunruhigung gibt.
Angesichts dessen, wie die Taliban in die Stadt an der Hauptverbindung zwischen Kandahar und Kabul gekommen sind und dies nicht erst seit gestern Mitternacht, und angesichts dessen, wie die US-amerikanischen Verfehlungen bei der afghanischen Bevölkerung seit vielen Jahren ablaufen, gibt es allerdings auch wenig Grund zur Beunruhigung für die Taliban.