Talkshow-Kritik: Völlige Einseitigkeit und ein nationaler Wir-Diskurs

Medienwissenschaftler Matthias Thiele über die Talkshows zur Griechenlandkrise

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Gleichklang, hoch problematische Sprachbilder, anstelle von Unparteilichkeit ein Schulterschluss mit Gästen und Titel, in denen eine imaginäre Bedrohung zum Vorschein kommt: Die Medienwissenschaftler Matthias Thiele und Rainer Vowe haben die großen politischen Talkshows im deutschen Fernsehen zum Thema Griechenland analysiert und dabei gewaltige Schlagseiten festgestellt, die dem Selbstverständnis dieser Formate nicht gerecht werden. Im Interview mit Telepolis stellt Thiele die Analyseergebnisse vor.

Herr Thiele, Sie und Rainer Vowe haben sich die großen politischen Talkshows im deutschen Fernsehen zum Thema Griechenland angeschaut. Warum haben Sie diese Sendungen analysiert?
Matthias Thiele: Als Ende Januar diesen Jahres große Teile der griechischen Bevölkerung der Empfehlung der deutschen Kanzlerin, "nicht falsch zu wählen", nicht folgten und das linke Bündnis Syriza und ein Ende der oktroyierten Austeritätspolitik wählten, ließ sich aufgrund der vorherigen deutschen Medienberichterstattung zu Griechenland und zur dortigen Wahl relativ leicht antizipieren und vorhersagen, dass man gegen die demokratische Bewegung in Griechenland in Politik und Medien in Deutschland mobilisieren und Sturm laufen würde.
Schon ab 2010, mit dem "Focus"-Titel "Betrüger in der Euro-Familie" vom 22. Februar 2010 und dem an den griechischen Ministerpräsidenten gerichteten Brief der "Bild"-Zeitung am 5. März 2010, in dem kulturrassistische Bilder vom "faulen und maßlosen Griechen" und "fleißigen, maßhaltenden Deutschen" gezeichnet wurden, tendierte die deutsche Medienberichterstattung zum griechischen Schuldenstaat zunehmend zu einer Berichterstattung gegen Griechenland. In der deutschen Berichterstattung zur griechischen Parlamentswahl wurde darüber hinaus die Wahloption Syriza von vornherein als "linkspopulistisch" oder "linksextrem" und damit als "Anormalität" und "große Gefahr" eingestuft. Entsprechend konnte davon ausgegangen werden, dass sich nach einem Wahlsieg von Tsipras linkem Bündnis die Aus- und Stoßrichtung der deutschen Medienberichterstattung weiter verschärft und die antigriechische Haltung eskaliert.
Warum nun eine Analyse der Talkshows?
Matthias Thiele: Auf die Talkshows konzentrierten wir uns, weil diese neben den Nachrichtensendungen einen besonders privilegierten Ort für die von Medien aufgegriffene politische Aktualität darstellen. Als Teil der Massenmedien stellen die sogenannten politischen Talkshows Wissen über unsere Gesellschaft her. Sie präsentieren und bieten den Zuschauer und Bürger Orientierungswissen über die Welt, in der wir leben. Dabei geht es aber nicht um bloßes Faktenwissen, sondern vielmehr um Interpretation, also darum, was überhaupt als relevant gilt und wie Geschehnisse und Entwicklungen, die als "relevant" gesetzt sind, wahrgenommen und eingeordnet werden sollen. Insofern sind die Talkshows ein gewichtiges Medienritual im gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kampf um die Deutungs- und Definitionsmacht über soziale Ereignisse und Realitäten.
Anhand dieser Kämpfe um, wie Sie sagen, Deutungs- und Definitionsmacht, die sich eben auch in Talkshows widerspiegeln, müssten Sie einiges, was für Ihre Analysen von Interesse ist, ablesen können.
Matthias Thiele: Talkshows sind für uns als Analysegegenstand deshalb so wichtig, weil sich an ihnen insbesondere die Dominanz von Aussagen ablesen lässt, also die sich durchsetzende Hegemonie von bestimmten politischen Vorstellungen und Ansichten. Anders gesagt: Wir können anhand der von den Talkshows rituell organisierten und inszenierten Debatten feststellen, was im politischen Diskurs sagbar ist, also was angesprochen und artikuliert werden kann, wie zu einer Sache argumentiert und formuliert werden darf und was überhaupt als Argument akzeptiert wird.
Die Talkshows zu Griechenland wurden nun, wie wir vorab vermutet und befürchtet hatten, vor allem von Polemiken, Ressentiments und einer arroganten Haltung gegenüber der neuen griechischen Regierung und den Griechen dominiert. Allerdings überraschte uns dann doch ein wenig, dass dies so vehement und flächendeckend ausfiel und vorzufinden war. Erstaunt waren wir vor allem über den Gleichklang der Talkshows. Die Sichtungen und Analysen der Sendungen ließen für uns nur einen Schluss zu: Talkshow heute schlägt alles mit Ähnlichkeit.
Uns überraschte und verwunderte vor allem, dass die Talkshowmacher offenbar weder über die Vehemenz noch über den Gleichklang der Talkshows überrascht und verwundert waren. Sie reproduzierten und schrieben die Ressentiments, Aversionen und Diffamierungen einfach munter fort, so als wäre dies das Normalste und Selbstverständlichste der Welt.
Indem alle vier großen Talkshows - "Maybrit Illner" (ZDF), "Anne Will" (ARD), "Günther Jauch" (ARD), "Hart aber fair" (ARD) - und auch die etwas kleineren Sendungen, wie "phoenix Runde" (ARD/ZDF), "Unter den Linden" (ARD/ZDF) und "Presseclub" (ARD), Griechenland in beispielloser Art und Weise zum Dauerthema erhoben, signalisierten die Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens bereits rein quantitativ, dass der Erfolg von Syriza und der Versuch, einen Politikwechsel in der Euro-Zone anzustoßen, als "nicht normal" und als Denormalisierung anzusehen und einzustufen sei.
Können Sie uns mehr über den Gleichklang in den Talkshows sagen?
Matthias Thiele: Ja, operiert wurde in den Sendungen fast durchgehend mit der symbolischen Frontstellung von "Wir" versus "die Anderen", wobei das "Wir" durchaus wechselte.
Was heißt das?
Matthias Thiele: Das heißt, das der nationale "Wir"-Diskurs vorherrschend war, also die symbolische Front "Wir Deutschen" versus "die Griechen". Nicht selten lautete die Frontstellung aber auch "Wir Europäer" versus "die Griechen".
Die Griechen kamen dabei nicht gut weg.
Matthias Thiele: Sie kamen überhaupt nicht gut weg. In dieser Gegenüberstellung wurden die Griechen stets als "Gefahr", als "Bedrohung" und als "Angreifer" kodiert.
Also ist eine Produktion von stereotypen Aussagen festzustellen.
Matthias Thiele: Absolut. Vielleicht sollte man sogar von einer Hyperproduktion sprechen. Trotz verschiedener Talkgäste und wechselnder Stimmen setzten sich folgende stereotypen Aussagen durch und kehrten fast durchweg in allen Sendungen wieder: "Bei der neuen griechischen Regierung handelt es sich um Anfänger, die das Regieren erst noch lernen müssen." "Es fehlt ihr an Expertise und Regierungsfähigkeit." "Weder macht sie ihre Hausaufgaben, noch liefert sie." "Stattdessen taktiert und pokert die Regierung, bewegt sich nicht, droht und verspielt das Vertrauen." "Sie will sich nicht an die Regeln halten, stellt sich gegen die Troika beziehungsweise die Institutionen und ist gegen Europa." "Sie weist die Schuld der Schulden von sich, will keine Verantwortung übernehmen und erhebt sogar Ansprüche." "Obwohl Deutschland Griechenland bereits Milliarden gegeben hat, stellt die griechische Regierung Forderungen, statt dankbar zu sein." "Mit ihrer Haltung und ihren Forderungen belastet sie die EU-Länder, die noch ärmer sind als Griechenland." Kurzum: "Die neue griechische Regierung ist unerfahren, inkompetent, unprofessionell und uneinsichtig bezüglich der Alternativlosigkeit und Notwendigkeiten."
Durch die Auswahl und Zusammensetzung der Gäste wurde oftmals das symbolische Szenario "Athen gegen alle" inszeniert, das einer "Maybrit Illner"-Sendung sogar als Titel diente: "Athen gegen alle - Scheitert der Euro?" Die Gäste aus Griechenland wie auch die wenigen deutschen Gäste, die um Verständnis für die Politik der griechischen Regierung warben, fanden sich in den Talkrunden nicht selten isoliert und waren insofern allein auf sich gestellt. Eine Konstellation, die dazu führte, dass sie mit einer Häufung von Gegenreden und verbalen Attacken konfrontiert waren. Dies widerspricht durchaus dem Selbstverständnis der Talkshows. Ginge man allerdings vom Selbstverständnis der Talkshows aus, dann müsste man festhalten, dass dieses in den Talkshows zu Griechenland in keiner Weise eingelöst wurde.

Meinungsvielfalt und Multiperspektivität wurde in der Vielzahl von Sendungen so gut wie nicht aufgeboten

Welches Selbstverständnis haben denn die Talkshows?
Matthias Thiele: Die politischen Talkshows verstehen sich in der Regel als ein Forum der öffentlichen Meinungsvielfalt, das dazu dient, gesellschaftspolitische Themen aufzugreifen und widerstreitende Parteien zur Diskussion zu laden, während derer die teilnehmenden Gäste die Möglichkeit erhalten, ihre konträren Positionen und Argumente wechselseitig auszutauschen.
Dabei haben doch die Moderatoren auch einen speziellen Part.
Matthias Thiele: Sicher, im Selbstverständnis der Talkshows begreifen sich die Moderatoren als überparteiliche und unparteiische Instanzen, die objektiv und fair über Redeanteile und Sprecherwechsel wachen, den Schlagabtausch von Argumenten und Gegenargumenten zu klären und abzuwägen sowie zwischen den verschiedenen Haltungen und Positionen zu vermitteln versuchen. Nicht von ungefähr heißt eine der Talkshows ja "Hart aber fair". Die organisierten Debatten und kultivierten Streitgespräche sollen dem Publikum, gerade auch durch die Haltung und spezifischen Leistungen der Moderation, dann dazu dienen, sich über das Problem und den Konflikt zu informieren und sich ein eigenes Urteil zu bilden.
Hört sich gut an.
Matthias Thiele: Das hört sich gut an, aber das Bild, das die Talkshows in den letzten fünf Monaten darboten, sah anders aus: Die Moderatoren bezogen in allen Sendungen deutlich Position, verorteten sich in der symbolischen Frontstellung immer wieder auf Seiten des "Wir" und sprachen als Repräsentanten des deutschen "Wir". Sie übten regelmäßig den Schulterschluss mit den Gästen, die antigriechische Positionen und Ressentiments artikulierten.
Kritische und ungläubige Nachfragen, die angesichts der Vielzahl von Irrtümern, Fehlinformationen, Missverständnissen, Demütigungen und Überheblichkeiten von Seiten der deutschen Griechenlandgegner höchst geboten gewesen wären, erfolgten selten und dann meist ungleich verteilt, nämlich meist in Richtung der griechischen Gäste oder deutschen Griechenland-Fürsprecher.
Meinungsvielfalt und Multiperspektivität wurde in der Vielzahl von Sendungen so gut wie nicht aufgeboten, so dass sie selbst die schlichtesten Regeln, die einem erlauben, sich als demokratisch und europäisch zu verstehen und zu bezeichnen, missachteten. Die Talkshows erwiesen sich im Ganzen als äußerst einseitig. Erschreckend ist, dass es so gut wie keine Sendung gab, die man als Gegenbeispiel hätte anführen können. Auf die Produktion solcher Sendungen wird eigentlich nicht verzichtet, da sie als Gegenbeispiel die Unangreifbarkeit der Sendereihe und des Senders absichern.
Wie ist all das zu erklären?
Matthias Thiele: Zwei Erklärungen bieten sich an und liegen zunächst einmal nahe. Die eine lautet, dass die Talkshows ein Format sind, das für die Komplexität der Griechenlandkrise ungeeignet ist. Die Talkshows sind überfordert mit dem Thema, das nun einmal nicht in einem 45-minütigen Schlagabtausch, in dem es vor allem um einen Kampf um Image-Gewinn geht, behandelt werden kann. Die andere führt die Uniformität und "Einäugigkeit" der Talkshows auf einen Prozess der Gleichschaltung zurück. Beide Erklärungen greifen aber nicht.
Von einer Überforderung kann nicht die Rede sein. Dafür ist die Investition der Talkshows viel zu hoch. Täglich wird die Presseschau ausgewertet. Die möglichen Gäste und gewünschten Diskurspositionen werden diskutiert und selektiert. An- und Zwischenmoderationen werden konzipiert und geschrieben, Redaktionsbeiträge, die televisuell durchaus anspruchsvoll gestaltetet sind und sowohl Infografiken als auch ausgeklügelte Soundbite-Montagen präsentieren, werden zur Einspielung in die Sendung hergestellt. Das heißt, es gibt einen eingespielten Apparat mit bewährten Prozeduren und routinierten multimedialen Zeichenoperationen.
Von Gleichschaltung kann jedoch ebenfalls nur schwerlich die Rede sein. Die Talkshows sind gewiss Serienformate, die im wöchentlichen Rhythmus produziert und ausgestrahlt werden und sich deshalb an ein Schema und an Bewährtes halten müssen. Dies führt aber nicht automatisch zu einer Wiederkehr des Immergleichen. In ihrer Serialität können sie nur überzeugen, wenn sie auf Variation und Abwechslung setzen. Das erwarten die Zuschauer und müssen die Talkshows bedienen. Insofern werden auch die stereotypen Aussagen und ihre Verkettungen variationsreich auf ganz unterschiedliche Art und Weise präsentiert.

Die Talkshows dienen dazu, am und für das Phantasma des "Wir" zu arbeiten

Können Sie Beispiele anführen?
Matthias Thiele: Ein Themenkomplex waren zum Beispiel die "Drohungen der Griechen" beziehungsweise der "Linksregierung in Athen", die den Deutschen und Europäern mit Neuwahlen oder einem Referendum, mit Flüchtlingsströmen, mit Reparationsforderungen, der Enteignung deutschen Eigentums, mit der Forderung von Ausgleichszahlungen für die Russland-Sanktionen und durch die Koalitionsbildung mit der ANEL drohten. Das Bedrohungsszenario der griechischen Drohungen wurde nun keineswegs überall gleichlautend wiederholt. Vielmehr tauchte es in den Sendungen variationsreich auf: mal durch einen spontanen Redebeitrag, mal durch eine konzeptuell durchgearbeitete Anmoderation, mal durch einen eingespielten filmischen Redaktionsbeitrag.
Ein anderes Beispiel: Die Koalition mit der ANEL wurde in einer Sendung in einem relativ langen Streitgespräch zwischen Armin Laschet und Alexis Passadakis thematisiert, in einer weiteren Sendung wurde sie von Thomas Oppermann dazu genutzt, um von Katja Kipping eine moralische Distanzierung der Linken von der Schwesterpartei Syriza zu fordern, und in einer dritten Sendung wurde auf die Koalition von Dorothea Siems, der Chefkorrespondentin "Der Welt", dadurch angespielt, dass sie die griechische Regierung einfach und unwidersprochen als "rechts-links-radikale" Regierung bezeichnete. Die beiden Beispiele verdeutlichen zweierlei, erstens die Variation und dass zweitens in den Talkshowgesprächen stets unterschiedliche Taktiken und Kräftelinien zusammenwirken. Insofern lässt sich kaum von einer Gleichschaltung sprechen.
Eine alternative Erklärung könnte lauten, dass die Talkshows allesamt vor allem dazu dienen, am und für das Phantasma des "Wir" zu arbeiten. Da diese kontinuierliche Arbeit im Fall der Griechenland-Talkshows dominant über die Front "Wir Deutschen und Europäer" versus "die Griechen" verlief, setzten sich als Effekt der symbolischen Frontbildung Affekte wie Antipathie, Gegenidentifikation und entschlossene Ablehnung in den Talkshowproduktionen breitenwirksam durch. Mit dem negativen Charakterbild der griechischen Regierung und der Griechen wurde implizit immer auch zugleich ein phantasmatisches Idealbild des "deutschen und europäischen Wir" evoziert: Im Gegensatz zu den Griechen sind wir eben "erfahren", "kompetent", "professionell", "vertrauens- und glaubwürdig", "regierungsfähig", "bereit Verantwortung zu übernehmen", "realistisch" und "fleißig" - mit einem Wort: "realpolitisch."
In Ihrer Untersuchung führen Sie an, dass bereits an den Titeln der jeweiligen Talkshows abgelesen werden kann, wie groß die inhaltliche Schlagseite der Sendung sein würde. Sie haben bereits einige Titel angesprochen, aber nochmal: Welche Titel sind Ihnen denn besonders negativ aufgefallen?
Matthias Thiele: Wie schon gesagt, meist war bereits in den Titeln die Frontenbildung von "Wir" versus "die Anderen" eingeschrieben, die die Marschrichtung der Talkshowdiskussion vorgab. Sie schuf für den griechischen Gast oder den deutschen Vertreter und Fürsprecher der griechischen Haltung eine äußerst ungünstige Ausgangsposition. Darüber hinaus entwarfen die Sendungstitel imaginäre Bedrohungssituationen für die Deutschen und Europa und spielten ein negatives Charakterbild von den Griechen und der griechischen Regierung an und aus. Dabei stehen sich die Titel der Sendungen in nichts nach. Um nun einige zu nennen:
  • "Nach der Kampfansage aus Athen - Ist Merkels Europa noch zu retten?"
  • "Athen gegen Europa - Sind die Griechen noch zu retten?"
  • "Griechen auf Werbetour - Wie hoch pokert Tsipras?"
  • "Griechenlands Schuldenpoker - Zieht uns der Süden über den Tisch?"
  • "Griechen-Poker im Bürgercheck - Ist das unser Europa?"
  • "Unbeirrt oder unverschämt? - Athen auf Kollisionskurs"
  • "Geduld am Ende - Großer Knall um Griechenland"
  • "Der Euro-Schreck stellt sich - Varoufakis bei Günther Jauch"
  • "Griechenland am Abgrund - Stolpert die Regierung Tsipras einen Schritt nach vorn?"
  • "Pleite, Beleidigt, und Dreist - Müssen wir diese Griechen retten?"
  • "Putin, NATO, Griechenland - Wer spaltet Europa?"
In ihrer Übertreibung und Bildlichkeit, ihren zugespitzten Szenarien und negativen Schreckfiguren unterscheiden sich die Titel kaum voneinander.
Nehmen wir die Titel "Pleite, Beleidigt, und Dreist - Müssen wir diese Griechen retten?" und "Unbeirrt oder unverschämt? - Athen auf Kollisionskurs." Was konkret stört Sie daran?
Matthias Thiele: Beide arbeiten, wie all die anderen Titel auch, mit Zuspitzungen. Dadurch sollen die Titel eine spezifische Funktion erfüllen. Es geht nicht alleine um die Themenankündigung, sondern vor allem setzen die Titel auf Provokation, um das Programm der Talkshows einzulösen, nämlich eine Debatte anzuheizen und eine kontroverse Diskussion zu garantieren. Das ist ein Aspekt, der des Aufhebens nicht Wert ist. Die Übertreibungen sind aber zu einem hohen Grad ernst gemeint.
Die Titel und die sie begleitende Moderation werden dramatisierend, alarmistisch und moralisierend intoniert und vorgetragen. Der "Kollisionskurs" im zweiten Titel zählt zu dem Mechanismus, ein Denormalisierung- und Bedrohungsszenario an die Wand zu malen. Beide Titel sind, nüchtern betrachtet, Einladung und Legitimation zur Beleidigung, Diffamierung, Beschimpfung und Hetze. Viele Titel sind diesbezüglich skrupellos, können aber jederzeit als harmlos verteidigt werden, weil sie ja ganz offensichtlich lediglich zur Unterhaltungsdimension der Talkshow gehören.
Manchmal packt die Talkshowmacher und Fernsehverantwortlichen dann aber doch offenbar der Skrupel. Der "Hart aber fair"-Titel "Pleite, Beleidigt, und Dreist - Müssen wir diese Griechen retten?" fand sich so nämlich nur in den Programmzeitschriften abgedruckt. Ausgestrahlt wurde die Sendung dagegen mit dem Titel "Pleite, Beleidigt, und Dreist - Hat Griechenland dieses Image verdient?" Die erste Version des Titels, die dem Diskussionsverlauf der Sendung leider viel gerechter geworden wäre, ist die Front bildende Binäropposition "Wir" versus "die Griechen" deutlich eingeschrieben.
Was können Sie noch zu den Titeln sagen?
Matthias Thiele: Auffällig sind die Fragezeichen, die in zwei Richtungen funktionieren. Manche Fragen evozieren eine knappe "Ja"- oder "Nein"-Antwort. Andere wiederum verlangen erst gar keine Antwort, weil das Fragezeichen rhetorischen Status hat, um mit der Frage eine indirekte Behauptung zu setzen.
Insofern sind die aufgelisteten Titel eigentlich so zu lesen: "Die Griechen sind nicht zu retten", "Tsipras pokert hoch", "Der Süden zieht uns über den Tisch", "Nein, das ist nicht unser Europa", "Die Griechen sind unverschämt", "Griechenland stürzt in den Abgrund", "Nein, diese Griechen müssen wir nicht retten", "Griechenland spaltet Europa". Solche thematischen Setzungen und Wertungen erschweren es selbstverständlich ungemein, innerhalb des Fernsehtalks Raum für andere Perspektiven auf das Thema zu schaffen.

Varoufakis und Jauch: Wie die mediale Verarbeitung von Realität sich vorrangig durch Medienanschauung vollzieht

Sie haben sich auch mit der Jauch-Sendung auseinandergesetzt, die den Mittelfinger von Varoufakis in den Mittelpunkt rückte.
Matthias Thiele: Wir haben uns die Sendung mehrfach angeschaut, um uns die Frage zu beantworten, wie der diffamierende, jegliches Vertrauen in die deutschen Medien verspielende Mediencoup der Jauch-Sendung möglich wurde. Unseres Erachtens konnte Jauch den griechischen Finanzminister nur aufgrund eines spezifischen Mediatisierungsprozesses derart vorführen.
Was heißt "Mediatisierungsprozess"?
Matthias Thiele: Alles, was in den Massenmedien und damit auch in den Talkshows zum Thema wird, wird nicht einfach abgebildet und widergespiegelt, sondern journalistisch und medial bearbeitet. Alle Vorkommnisse, die von den Medien für die Berichterstattung selektiert werden, müssen zu Geschichten, Erzählungen und Bildern verarbeitet werden. Dies ist alleine schon deshalb notwendig, um ein Geschehen anschaulich, verständlich und sinnhaft vermitteln zu können.
Diese Verarbeitung zu Geschichten, Erzählungen und Bildern gilt auch für Personen, oder?
Matthias Thiele: Ja, auch Personen und Funktionsträger werden in und durch die Medien zu bestimmten Figuren und Charakteren, Images und Typen stilisiert. Dies findet prozesshaft, also kontinuierlich statt, wobei die Medienberichterstattung dann auf die bereits in den Medien vorhandenen Geschichten, Bilder und Charaktere zurückgreift.
Der Mediatisierungsprozess lässt sich sehr gut an der "Günther Jauch"-Sendung mit Yanis Varoufakis veranschaulichen: Erstens war Varoufakis nicht persönlich im Studio zugegen. Stattdessen war er nur medial vermittelt präsent, da er in die Talkrunde nur auf einem Fernsehmonitor live zugeschaltet wurde.
Zweitens begann die Sendung mit eingespielten Bildern, die zeigten, wie Varoufakis im griechischen Fernsehstudio ankam und für den Fernsehauftritt geschminkt wurde. Auch das Schminken gehört zur medialen Bearbeitung. Die Fernsehbilder von Varoufakis in der "Maske" erzeugten vor allem das Konnotat des Medienstars, das durch Jauchs Voice-Over noch verstärkt wurde, in dem eine Analogie zu dem bekannten Hollywood-Star Bruce Willis gezogen wurde: "Die einen sehen in ihm den italienischen [Anmerkung Thiele: Günther Jauch meinte gewiss "griechischen", hatte sich aber, was in Live-Sendungen hin und wieder passiert, versprochen.] Bruce Willis. Die bewundern ihn, weil er wie ein Löwe für Griechenland kämpft gegen die seiner Ansicht nach ebenso ungerechten wie nutzlosen Sparauflagen durch die europäischen Nachbarn insbesondere durch uns, die Deutschen. Die anderen nervt er mit seinen ständigen Provokationen, den mehr als selbstbewussten Forderungen, aber auch mit seiner unkonventionellen Art - Griechenlands Finanzminister Yanis Varoufakis. Zum ersten Mal stellt er sich einer Gesprächsrunde im deutschen Fernsehen."
Durch die Anmoderation wurde erneut die Gegenüberstellung "Wir Deutschen" versus "die Griechen" etabliert. Mit der Formulierung "sich stellen" wurde zudem die Vorstellung, also das Bild eines "Schuldigen vor Gericht" aufgerufen und nahegelegt.
An diesem Beispiel lässt sich doch auch sehr schön ablesen, wie Medien "Wirklichkeiten" erschaffen. Varoufakis wird auf eine ganz bestimmte Weise in Szene gesetzt und präsentiert, er wird mit Bildern, die voll von konnotativen Zuschreibungen sind, belegt. Und schon ist eine mediale Wirklichkeit entstanden, die wohl vor allem die Weltanschauungen derjenigen widerspiegelt, die sie erschaffen haben.
Matthias Thiele: Ja, wir haben es mit der Realität der Massenmedien zu tun. Und das im doppelten Sinne: die Jauch-Sendung konstruiert notwendigerweise eine Geschichte mit bestimmten Figuren, Protagonisten und Antagonisten. Ihre Geschichte lautet, dass sich Varoufakis den deutschen Medien stellt.
In die Geschichte ist zugleich die zweite Realität der Massenmedien, nämlich der technische Apparat, der notwendig ist, um eine solche Geschichte zu konstruieren und zu erzählen, mit eingelassen, also das Studio, das Schminken usw. Dass sich die Geschichte vor allem an der Realität der Massenmedien, also an den bereits vorhandene Geschichten und Figuren ausrichtet, belegt am schönsten die Analogie mit dem Hollywoodstar Bruce Willis.
Vielleicht sollte man statt von Weltanschauung besser von Medienanschauung sprechen. Die mediale Verarbeitung von Realität vollzieht sich vorrangig durch Medienanschauung. Gewiss sind dabei aber auch Ideologien im Spiel, also bestimmte Vorstellungen und Verkennungen, wie der nationale "Wir"-Diskurs.
Jauch präsentierte sich ja bereits in der Anmoderation mit Nachdruck auf Seiten des "deutschen Wir" und sprach im weiteren Verlauf der Sendung gehäuft als Deutscher und im Namen Deutschlands. So lautete beispielsweise seine Anmoderation des zweiten filmischen Redaktionsbeitrags: "Kein Land hat ja mehr Milliarden an Griechenland gegeben als Deutschland. Aber umso mehr sind die Deutschen zuweilen irritiert, in welcher Art gerade Sie [gemeint ist Varoufakis] auch gegenüber unserem Land aufgetreten sind."
Der darauf eingespielte Redaktionsbeitrag stellte den griechischen Gast vor und griff dazu - das wäre der dritte Aspekt der Mediatisierung - auf die Charaktermerkmale und Bilder zurück, die in der deutschen Medienberichterstattung etabliert und bestimmend waren.
Von welchen Bildern sprechen Sie?
Matthias Thiele: Schon am Tag des Amtsantritts berichtete zum Beispiel die "Tagesschau", dass Varoufakis Wirtschaftswissenschaftler und Spieltheoretiker ist. Letzteres verleitete die "Tagesschau" dazu, den neuen griechischen Finanzminister als "Zocker auf hohem Niveau" zu bezeichnen.
Das kurze Filmportrait zu Varoufakis in der "Günther Jauch"-Sendung skizzierte folgendes Bild von ihm: Er sei "smart", "unangepasst", "streitlustig", "eigensinnig", "uneinsichtig" und ein "Provokateur", der auf "Kampfansagen" setze, "konfrontativ auftrete" und "polarisiere". Zur Verstärkung dieser Charakterzeichnung wurden die gängigen Pressefotos eingeblendet, die Varoufakis mit Lederjacke, Sturzhelm und seinem Motorrad zeigten und ihm dadurch das Image des "rebellischen und risikofreudigen Halbstarken" anhefteten und zuschrieben.
Erst diese journalistische und visuelle Mediatisierung von Varoufakis ermöglichte der Jauch-Sendung letztlich erst, dass sie das Mitte Februar 2015 auf YouTube hochgeladene Video von einer Rede, die Varoufakis im Mai 2013 auf dem Subversive Festival in Zagreb gehalten hatte, zeigen konnten, um den griechischen Finanzminister bloßzustellen. Der satirische Beitrag von Jan Böhmermann, der auf diese eigentlich unmögliche Jauch-Sendung reagierte, war unter anderem auch deshalb so gut, weil er nicht nur die Bloßstellung attackierte und Jauch ganz zu Recht als beleidigten und dreisten deutschen Moderator vorführte, sondern darüber hinaus gewitzt und spielerisch ebenfalls einige Aspekte der Mediatisierung thematisierte.

Was in der klassischen Rhetorik noch als Beiwerk galt, gehört in den Talkshows zum Kern der Argumente

Worauf haben Sie bei Ihren Analysen noch geachtet?
Matthias Thiele: Wir haben uns darüber hinaus mit der Art der Argumente beschäftigt. Also nicht so sehr mit den einzelnen konkreten Behauptungen und daran gebundenen Begründungen und auch nicht so sehr mit dem Austausch von Argumenten und Gegenargumenten. Vielmehr haben wir uns gefragt, ob wir es in den Talkshows zu Griechenland überhaupt vorzugsweise mit rational argumentierenden Redebeiträgen zu tun haben.
Und, ist dem so?
Wir haben festgestellt, dass sich die Mehrzahl der Argumente auf Sprachbilder stützt und sich auf griffige Symbole reduziert. Dass also das, was in der klassischen Rhetorik noch als Beiwerk und Ausschmückung galt, in den Talkshows nun zum Kern der Argumente gehört.
Die regelmäßig wiederkehrende Äußerung und appellierende Rede, dass die griechische Regierung doch ihre Hausaufgaben machen solle, gehört beispielsweise dem Symbolkomplex der Schule an, durch den die Griechen sinnbildlich zu "Schülern" degradiert und die Deutschen zu "Oberlehrern" stilisiert wurden. Wie bedeutend und zentral für die Talkshows Symbole und Sprachbilder sind, veranschaulichen ja bereits die aufgeführten Titel der Sendungen. In diesen werden Bildlichkeiten aufgerufen wie "Kampf", "Poker", "Abgrund", "Stolpern", "Kollisionskurs", "großer Knall" und "Spaltung".
Auch der Schlagabtausch der Argumente stellte sich uns immer wieder vor allem als ein Kampf um Sprachbilder, um die Bedeutung, Sinnhaftigkeit und Auslegung von Symbolen dar. Während einer Pressekonferenz verwendete Varoufakis zur Darstellung der Verhandlungen in Brüssel und des Konflikt zwischen Griechenland und den Institutionen folgende Bildlichkeit: "Die Kuh, die Milch geben soll, darf nicht geschlagen werden." In der "Maybritt Illner"-Sendung vom 4. April 2015 wurde der Satz sofort in einem Redaktionsbeitrag durch einen Ausschnitt aus der Pressekonferenz aufgegriffen und eingespielt. In seinem ersten Redebeitrag nahm dann Martin Schulz direkt Bezug darauf, in dem er sagte, dass niemand die Kuh melken wolle.
Im ARD-"Presseclub" vom 14. Juni 2015 wiederum wurde in einem Redaktionsbeitrag folgendes Symbol-Statement von Jean-Claude Junker zu den zähen Verhandlungen in Brüssel einmontiert: "Die Kuh muss vom Eis, aber sie rutscht dauernd aus und wir versuchen, sie heute wieder anzuschieben." Der Moderator Volker Herres griff zum Auftakt der Diskussion das Bild von Juncker erneut auf: "Wo steht die Kuh denn heute oder ist sie vielleicht schon tot?" Der "Presseclub"-Talkgast Rolf-Dieter Krause reagierte geradezu dankbar auf den zugespielten Ball und erwiderte: "Das Bild von Juncker stimmt nicht. Die Kuh legt sich dauernd hin, die stolpert nicht, die will nicht laufen. Das ist das Problem."
Es gäbe zahllose weitere Beispiele. Diese beiden sollen aber hier genügen. Wir sind hierdurch auf jeden Fall zu dem Schluss gekommen, dass Symbole die "heilige Kuh" der Talkshow-Streitkultur sind, da mit ihnen komplexe Sachverhalte und politische Prozesse anschaulich und komplexitätsreduzierend behandeln werden können und sich mit ihnen offenbar trefflich streiten lässt.
Die Taktfrequenz der Polit-Talkshows zum Thema Griechenland war ziemlich hoch. Sehen Sie darin auch Probleme?
Matthias Thiele: Dass die Griechenlandkrise über mehrere Monate hinweg zum Dauerthema fast aller Talkshows wurde, ist zunächst einmal ein Indiz dafür, dass wir es mit einem gravierenden Einschnitt in der europäischen Politik zu tun hatten und haben. Deutschland hat sich vor allem unter Federführung von Schäuble in den fünf Monaten nach der Griechenlandwahl als der andere Euroländer deklassierende Hegemon Europas durchgesetzt.
Dabei wurde ein neues Konzept und Bild von Europa verfestigt und diktiert, nämlich ein Europa ohne Gleichheit und mit höchst unterschiedlichen Freiheiten, ein Drei-Klassen-Europa, in dem Deutschland mit seiner "schwarzen Null" die erste Normalitätsklasse anführt, während Griechenland mit seinem riesigen Staatsdefizit nun abgestraft wurde, indem es in die dritte Normalitätsklasse heruntergestuft wurde.
In den Talkshows wurde das serielle Dauerthema Griechenland allerdings anders verarbeitet, perspektiviert und interpretiert: Dass sich die Sendungen fortlaufend in hoher Frequenz der Griechenlandkrise widmen mussten, wurde durchaus als Denormalität registriert, die jedoch von allen Talkshows alleine den Griechen und ihrer Unfähigkeit zugeschrieben wurde. Nach wenigen Monaten begannen sich die ModeratorInnen in den Talkshows für jede weitere Sendung zum Thema Griechenland bei ihren ZuschauerInnen geradezu zu entschuldigen. Die Entschuldigungen vielen dabei immer emotionaler aus. Eingestanden wurde, dass die Geduld am Ende sei, dass es langsam reiche und man genug von dem "Theater", dem "Zirkus" und der "Politshow" in Brüssel und der Griechen habe. Auch hier zeigten sich wieder die völlige Einseitigkeit und der in den Talkshows vorherrschende nationale "Wir"-Diskurs.
Aus Ihrer Sicht: Wie müsste eine ihrem Selbstanspruch gerecht werdende Qualitätspresse mit einem Thema wie Griechenland umgehen?
Matthias Thiele: In erster Linie europäisch, das heißt nicht national und einseitig, sondern multiperspektivisch, differenziert und vielstimmig. Dass dies gerade auch im Fernsehen durchaus möglich war, bewiesen immer wieder verschiedenste Sendungen von Euronews, BBC, CNN oder France24. Hier gab es weit mehr Einblicke und Berichte zu der sozialen Verelendung, den Konsequenzen der rigiden Staatsbudgetkürzungen und der Privatisierungsgewinne auf Kosten Griechenlands.
Zudem kamen auch Wirtschaftsexperten zu Wort, die die deutsche Austeritätspolitik problematisierten und kritisch sahen. Vor allem war der Ton dieser Sendungen und Sender weniger stark von Ressentiments gegen die neue griechische Regierung gekennzeichnet. Der Ton war sachlicher und es wurde mehr berichtet. Berücksichtig man das Internet, das eben nicht nur aus einer Unkultur der Kommentare besteht, sondern auch aus Internetforen, die sich europäisch vernetzen und um vielseitige Information bemühen, dann hätten die Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens entweder sich mehr um die gründliche Recherche von Fakten und Information bemühen müssen oder sie hätten Sendungen produzieren müssen über ihre Schwierigkeiten und Unmöglichkeit, fakten- und informationsbasiert eine Sendung zu Griechenland zu machen. Dies hätte aber einen anderen gravierenden Einschnitt dargestellt.
Was halten Sie von dem Spiegel-Cover, das die Karikatur eines Deutschen und Griechen zusammen beim Tanzen zeigt - und der Reaktion von Titanic? Ist das Spiegel-Cover ein gelungenes satirisches Titelbild?
Matthias Thiele: Das Spiegel-Cover arbeitet mit Klischees und Nationalstereotypen. Um Stereotypen kommen die Medien insbesondere bei kleinen und ikonischen Formaten, die es mit einem Blick zu erfassen gilt, gar nicht herum. Gewiss können Stereotypen auch so verwendet und überzeichnet werden, dass sie als Stereotypen geradezu ausgestellt werden. Dies ist bei der Karikatur des Spiegel-Covers allerdings kaum der Fall.
Problematisch ist vor allem der Zeitpunkt des Covers. Dies ist aber nicht moralisch gemeint, sondern ganz und gar politisch. Dass sich Humor in Krisenzeiten verbiete, ist meines Erachtens völliger Unsinn. Sieht man sich das Cover genau an, sieht man einen Griechen und Deutschen Sirtaki tanzen. Da es sich um einen griechischen Tanz handelt, gibt offenbar der Grieche den Rhythmus und den Ton an. Der Grieche strahlt Lebensfreude aus und scheint sorgenfrei und unbekümmert den Augenblick zu genießen, da er raucht und ein Glas Ouzo in der Hand hält.
Beide Figuren tanzen Arm in Arm am äußersten Rand einer Klippe. Der Deutsche, der ängstlich seine reichlich gefüllte Geldbörse an die Brust drückt, verfügt im Gegensatz zum Griechen offenbar über keinen sicheren Tritt. Vielmehr legt die Körperhaltung nahe, dass er in den Abgrund zu stürzen droht, wenn er nicht aufpasst oder den tanzenden Griechen nicht loslässt. Das Cover erschien am 11. Juli 2015, sechs Tage nach dem die griechische Bevölkerung sich beim Referendum mehrheitlich für ein "Oxi", ein "Nein", ausgesprochen hatte, weil die untere Hälfte der Bevölkerung sowie zahlreiche junge Griechen und auch griechische Rentner bereits in eine extreme Denormalisierung abgestürzt waren, während Schäuble weiter den Ton angab und mit dem Grexit drohte. Das Cover ist also völlig inadäquat und schreibt den unsäglichen nationalen "Wir"-Diskurs der Talkshows fort.
Durch die Analogie mit antisemitischen Stereotypen gelingt es dem Titanic-Cover die gegen die Griechen gerichtete Stereotypie des Spiegel-Covers auszustellen und bloßzulegen.
Auf eine Differenz sollte allerdings hingewiesen werden. Das Ressentiment des Antisemitismus richtete sich gegen die Existenz aller Juden. Das antigriechische Ressentiment dagegen richtete sich insbesondere gegen die neue, demokratisch gewählte griechische Regierung, deren Existenz übel genommen wurde. Die Aversion richtete sich also vor allem stets gegen das linke Bündnis Syriza, während den Griechen im Ganzen nicht durchgehend und nicht in breiter Front verübelt wurde, dass sie existieren.