Tanzen gegen den Corona-Blues
Seite 3: Wenn der Lockdown vorerst den Höhepunkt der Karriere kostet
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"Giselle" ist die Geschichte einer jungen Frau, die sich in einen sozial über ihr stehenden Mann verliebt, der sie schwer enttäuscht. Seine Reue kommt zu spät. Aber nach ihrem Tod erscheint sie als Geist und rettet ihm das Leben. Ein romantisch-feministischer Aspekt steckt auch im Stück, das einst Heinrich Heine angeregt hatte: Andere betrogene junge Damen verwandeln sich im Libretto in schaurig-schöne Rachegeister. 1841 erlebte dieses Ballett in Paris seine Uraufführung, seine Faszination hält weltweit bis heute.
Die Rolle der "Giselle" zu tanzen, bedeutet für jede Primaballerina einen Höhepunkt ihrer Karriere. Just jetzt, im Mai 2021 hätte Evelina Godunova beim Staatsballett Berlin diesen Erfolg haben sollen. Die Schließung der Opernhäuser hat das verhindert. Besonders schade für Godunova: "Giselle" steht in absehbarer Zeit nicht mehr auf dem Berliner Spielplan, auch wenn es ab Mitte Juni 2021 wieder Vorstellungen geben soll. Evelina hofft jetzt auf die Chance, einen Auszug aus "Giselle" auf einer Gala oder in einem Video zu tanzen.
Das Staatsballett Berlin studiert derweil ein neues Stück des Choreografen David Dawson ein. Das nach ihm benannte Programm "Dawson" soll im November 2021 premieren. Bisher lieferte Dawson etliche Hochkaräter ab, war aber noch nie abendfüllend in Berlin zu sehen - man darf also gespannt sein, zumal sich mit "Voices" zur Musik von Max Richter eine Uraufführung ergibt. Ob der Abend in der Gunst der Fans mit "Giselle" konkurrieren kann, wird sich zeigen.
Glück mit "Giselle" hatte die Münchner Sensationsballerina Laurretta Summerscales. Sie konnte im September 2020 die begehrte Rolle vor Publikum im Münchner Nationaltheater tanzen. Mit wehendem Tutu - so nennt man den mehrlagigen Tüllrock, der zum klassischen Ballett ebenso gehört wie die Spitzenschuhe - sauste Laurretta über die Bühne, litt als brillant-graziöse Verliebte mit ihrem Bühnenpartner Dmitrii Vyskubenko. Die Version, die getanzt wurde, war vom Ballettmeister Thomas Mayr speziell für die Corona-Auflagen modifiziert worden. So standen weniger Ballerinen auf der Bühne, saßen weniger Musiker im Orchestergraben und insgesamt gab es Kürzungen.
Und es waren fantastische Aufführungen, die das mit Masken, Visieren und Abständen im Opernhaus sitzende Publikum weidlich genoss. Wie auch Startänzerin Laurretta Summerscales: "Ich hatte die Bühne und das Publikum so vermisst! Nichts fühlt sich so an wie das Tanzen auf der Bühne. Man ist in einer anderen Welt." Bis das Bayerische Staatsballett im Oktober 20 in die Quarantäne ging. Der November-Lockdown schloss sich nahtlos an und wurde bis Mai 21 verlängert. Die Bühne wurde eine Erinnerung.
Manche hofften, zu Weihnachten tanzen zu können. Aber bundesweit gab es kein einziges Weihnachtsballett vor Publikum. Es war schlicht verboten. Auch in Dresden, wo sonst rund 25 "Nussknacker"-Vorstellungen im Winter stattfinden. Und auch beim Hamburg Ballett, wo der Ballettintendant John Neumeier zunächst eine Neueröffnung für den 22. Dezember 20 plante. Mittlerweile bereitet sein Ensemble eine Uraufführung fürs kommende Wochenende vor: Neumeiers "Beethoven-Projekt II" soll die Ballett-Spielzeit in Hamburg neu eröffnen.
Für zwei Gruppen von Tänzer:innen ist "das verlorene Jahr" besonders tragisch: Für jene, die altersbedingt ans Aufhören denken und darum jede Vorstellung als besonders empfinden - und für jene, die neu im Beruf sind und dringend Erfahrung sammeln wollen. Der Körper diktiert beim Profi-Tanz die Regeln. Nur ein junger Körper kann das lernen, was er braucht, um ein exquisites Instrument zu werden. Der alternde Körper hingegen verliert an Sprung- und Spannkraft, an Schnelligkeit und Flexibilität, und es kostet viel Kraft, dagegen mit Training und Proben anzukämpfen.
Training mit FFP2-Masken kaum praktikabel
Für den Choreografen David Dawson hat hingegen der Hochbetrieb wieder begonnen. Nicht nur in Berlin, auch in Dresden beim Semperoper Ballett ist der Brite tätig. In Dresden ist er sogar "Associate Choreographer", eine Art Chefchoreograf, und studiert gerade mit zwei männlichen Tänzern seinen Pas de deux, also Paartanz, namens "Faun(e)" ein. Das Ballett in Dresden hat eine besonders harte Zeit hinter sich, denn das örtlich zuständige Gesundheitsamt verlangte zunächst Masken beim Training, also bei schwerer körperlicher Arbeit.
Das war vor allem mit den FFP2-Masken ein wirkliches Problem. Man bekommt damit beim Tanzen kaum genügend Frischluft. Außerdem tränkt der Schweiß den Zellstoff - Ballett ist anstrengender als die meisten Sportarten. Schließlich gab das Gesundheitsamt nach und erlaubte Trainings ohne Masken. Seither kämpft Dresdens Ballettdirektor Aaron S. Watkin um die Möglichkeit, sein Ensemble vor Publikum auftreten zu lassen. Bisher erhielt er allerdings nur Körbe für diese Saison - es wird wohl nächste Spielzeit werden.
Ganz anders ist es in München. Dort gibt es seit kurzem wieder bejubelte Vorstellungen. Laurretta Summerscales gehört zu den Glücklichen, die im Programm "Paradigma" große Auftritte hatten. Die erste Aufführung nach der letzten Zwangspause am 19. Mai 2021 wird wohl niemand vergessen, der dabei war: Das maskierte Publikum, aus knapp 700 Zuschauer:innen bestehend, trappelte vor Begeisterung mit den Füßen. Der Freude des Wiedersehens steht nur eine leise Befürchtung entgegen. Denn schon mehrfach wurden in der Corona-Zeit Opernhäuser geöffnet, um dann doch wieder zu schließen. Laurretta sagt darum: "Was ich wirklich gelernt habe in dieser schwierigen Zeit, ist: jeden Tag jeden Schritt ganz bewusst zu machen."
Das Heimtraining fiel der Engländerin zunächst schwer. Sie war froh, ihren Ehemann Yonah Acosta, der aus Kuba über London nach München kam, hilfreich zur Seite zu haben. Auch Yonah tanzt als Erster Solist beim Bayerischen Staatsballett. Er hat seine Gattin nun erstmals gecoacht. Andere Ballettpaare setzten ihre Familienplanung um: Überdurchschnittlich viele Ballerinen wurden im Lockdown schwanger. Das klingt aufmunternd, aber manchmal steckt auch ein Stück Resignation dahinter. Jede Frau weiß, dass ein Kind Kraft kostet - und es ist immer ein Risiko, einen anspruchsvollen Beruf und die Mutterrolle zusammenzubringen.
Noch befinden sich die meisten Compagnien in Kurzarbeit. Da bleibt Zeit, sich für das Leben nach der Bühnenkarriere zu interessieren. Spätestens mit 42 Jahren hören Tänzer:innen auf - Ausnahmen sind selten - und für die meisten endet die Bühnenlaufbahn deutlich früher. Corona hat nochmals Druck gemacht. Manche begannen nebenberuflich ein Fernstudium, andere knüpfen über die sozialen Medien Kontakte für die Zukunft. Aber insgesamt sind Ballettleute ein zähes Völkchen, das sich die Lust am Tanzen gegen den Corona-Blues nicht nehmen lässt. Was Yonah Acosta sagt, würden die meisten unterschreiben: "Alles was wir tun können, ist zu hoffen und hart zu arbeiten."
Gisela Sonnenburg gründete 2014 das Online-Portal www.ballett-journal.de und ist auch selbst als Choreografin tätig.
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