Terror hat immer auch soziale Ursachen

Seite 3: Vom Untergang des Abendlandes

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Seit einigen Jahren protestieren besorgte Bürgerinnen und Bürger gegen den von ihnen befürchteten Untergang des Abendlands. Es gibt auch viel, worüber man sich Sorgen machen sollte, wenn man eben nicht nur die aufgehübschten Pressemitteilungen und Nachrichten der Mainstream-Medien liest.

Ich sage aber: Das Abendland ist schon längst untergegangen, wenn wir uns nicht mehr auf die Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit als Grundvoraussetzung für alle einigen können und einander nur noch mit Verunglimpfung und Hass begegnen.

Diejenigen, die sich in der Mehrheit und damit auf der sicheren Seite wähnen, sollten sich aber darüber im Klaren sein, dass sich Grenzen ganz schnell verschieben. Wer heute drinnen ist, kann schon morgen herausfallen. Erst in jüngerer Zeit dürfte es wohl eine kleine Freude gewesen sein, als wegen Terrorverdachts Verurteilte in der Türkei Monate später auch diejenigen im Gefängnis sahen, die vorher gegen sie ermittelt und sie verurteilt hatten.

Entscheidend ist nicht, die "richtige" Grenze zwischen uns und denen zu ziehen, sondern gar keine, außer der der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.

Vergessen wir nie, dass die Nationalsozialisten erst Millionen von Juden und Osteuropäern in Vernichtungskriegen und -Lagern ermorden konnten, nachdem sie kritische Denker und Künstler, Philosophen, Kommunisten und Sozialdemokraten - eben mitunter unangenehme Zeitgenossen, weil sie uns den Spiegel vorhalten - ins Konzentrationslager gesteckt hatten. Selbst ein Reichskanzler - der letzte vor Hitler - und Generäle wie Kurt von Schleicher (1882-1934) waren nach der Machtergreifung nicht vor der Ermordung durch Nazis sicher.

Für die Sicherheit

Unsere Sicherheitsbehörden arbeiten Tag und Nacht sehr hart dafür, dass wir weiterhin in Freiheit und Frieden leben können. Ich habe selbst in meinem Leben ein paar Polizistinnen und Polizisten kennengelernt, die inspirierende Persönlichkeiten sind und sich ebenso wie viele Ärzte für das Wohlergehen anderer einsetzen und oft genug gar aufopfern. Auch Gespräche mit einigen Staatsanwälten und Richtern waren für mich von großer Bedeutung.

Es ist aber doch kein gutes Zeugnis für den deutschen Rechtsstaat und untergräbt den Gedanken der Volkssouveränität, wenn in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (etwa zum NSU oder dem Anschlag am Breitscheidplatz) Lügen und Manipulationen von Polizisten und Staatsbeamten ans Tageslicht kommen; und wenn die Exekutive sich im Namen der "nationalen Sicherheit" mit Händen und Füßen dagegen stemmt, solchen Ausschüssen unverzügliche und vollständige Akteneinsicht zu gewähren.

So entstehen rechtsfreie Räume. Gerade die konservativen Politiker werden im Wahlkampf doch nicht müde, gegen solche gefährlichen Räume zu wettern! Dass nicht alle Staatsgeheimnisse in der Tageszeitung abgedruckt werden sollen, ist klar. Wessen "nationale Sicherheit" gilt es aber noch zu schützen, wenn nicht einmal die gewählten Repräsentanten des Souveräns in diesem Land zu sehen bekommen, was die Behörden in ihren Akten stehen haben? Alle Behörden!

Berichte wie die des seit vielen Jahren unermüdlich recherchierenden Thomas Mosers machen leider deutlich, wie der Staat mit seinen Vertuschungsaktionen zum Teil selbst die demokratische Sicherheit untergräbt. Den nachrangigen Beamten, die sich bisweilen gegen ihre Vorgesetzten und wohl auch gegen die Hoffnung auf Karrierefortschritte stellen und in den parlamentarischen Ausschüssen unangenehme Fakten ans Tageslicht bringen, kann man als besorgter Bürger nur danken.

Das Fundament steht

Die gute Nachricht aber ist: Das demokratische und rechtsstaatliche Fundament steht, auch wenn es ein paar Risse bekommen hat. Jedes Verhalten ist auch ein Ausdruck sozialer Umstände - und diese kann man ändern; jede falsche Identifikation mit einem Missverständnis von "nationaler Sicherheit" oder einer Hassideologie ist ein psychologischer Prozess - und auf diese kann man einwirken.

Und damit spiele ich nicht auf Medikamente, Hormone oder gar Hirnschrittmacher an, wie sie das Menschenbild der Biomedizin und Hirnforschung nahelegen. Sondern auf: gute Argumente!

Wir Menschen haben das Fundament von Demokratie und Rechtsstaat selbst gebaut. Genauso, wie wir ihm Risse beigebracht haben, können wir diese auch wieder dichtkitten und das Fundament sogar verstärken. Angst ist dabei aber ein schlechter Ratgeber. Und Hass wird die Risse nur weiter verstärken. Auch sind die helfenden Ideen aus Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften nur aus dem Mainstream verdrängt, jedoch nicht tot.

Der soziale Kontext

In seinem Abschlussstatement aus einem Bericht über die "Neurobiologie der Aggression" im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums aus dem Jahr 2013 folgert der Generalleutnant Robert E. Schmidle - von der akademischen Ausbildung her übrigens Moralphilosoph und Sozialpsychologe:

Wir sollten im Kopf behalten, dass die Biologie nur ein Teil dessen ist, was unser menschliches Selbstverständnis ausmacht und uns als Personen definiert, die in einer bestimmten Gesellschaft und Kultur leben. … Wenn wir über das Verhalten von Terroristen nachdenken, dann müssen wir nicht nur die Faktoren begreifen, die sie zu Terroristen gemacht haben, sondern auch diejenigen Faktoren, die uns dazu bringen, sie so zu nennen…

Menschen werden nicht schlicht wegen eines chemischen Ungleichgewichts in ihrem Gehirn zu Terroristen; sie werden wegen der Entscheidungen zu Terroristen, die zur Entwicklung ihres Selbstverständnisses als Terroristen beitrugen. Diese Entwicklung geschah in dem primär sprachlichen Austausch mit anderen Terroristen und nicht wegen des Feuerns bestimmter Synapsen im Gehirn …

Jeder Versuch, terroristisches Verhalten zu verstehen, ohne den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext miteinzubeziehen, in dem sich das terroristische Selbstverständnis entwickelt, ist bestenfalls unvollständig und schlimmstenfalls vollständig falsch.

Generalleutnant Robert E. Schmidle Jr., 2013, S. 85f.; dt. Übers. S. Schleim

Also packen wir's an! Beispielsweise indem wir das ökonomische, dehumanisierende, den Menschen auf einen biologischen Mechanismus und seine Produktivität reduzierende Denken, in dem sozialdarwinistisch alle gegen alle kämpfen, wieder zurückdrängen und stattdessen eine tolerante und inklusive Gesellschaft für alle Menschen aufbauen.