Terror hat immer auch soziale Ursachen
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Ein Aufruf an die Gesellschaft in Reaktion auf die Morde in Hanau
Terror hat immer auch soziale Ursachen. Kein Mensch wird als Mörder geboren. Keiner als Links- oder Rechtsterrorist, Dschihadist oder Islamist. Auch "Verschwörungstheorien" sind den Menschen nicht angeboren (aber sprachliche Mittel, Menschen mit unangenehmen Meinungen auszugrenzen). Solche Extremfälle menschlichen Verhaltens sind immer eine Konsequenz zahlreicher Begegnungen mit anderen Menschen und Institutionen. Darum - und nicht nur wegen ihrer erschreckenden Folgen - geht es uns alle etwas an.
Wie viele Mordanschläge wie die des Nationalsozialistischen Untergrunds, auf dem Berliner Breitscheidplatz, gegen den CDU-Politiker Walter Lübcke oder vor Kurzem in Halle gegen Juden und andere Mitbürger Deutschlands und jetzt in Hanau muss es noch geben, bis die Menschen und vor allem die regierenden Politiker verstehen, dass auch die soundsovielste Verschärfung von Sicherheitsvorkehrungen und Polizeigesetzen keine Sicherheit garantiert?
Die deutsche Gesellschaft integriert nicht mehr. Sie grenzt aus: Seien es Arme, Einwanderer, Gemeinden und Städte in entlegenen Gebieten oder auch nur Mitbürger mit einer anderen Meinung oder anderem Aussehen. Hierzu haben auch die regierenden Politiker beigetragen, indem sie seit Jahrzehnten versprechen: Wenn es nur der Wirtschaft gut geht, dann geht es allen gut. Dem wurde in der "marktkonformen Demokratie" (Angela Merkel) - und nicht dem "demokratiekonformen Markt", wie es eigentlich heißen müsste - alles untergeordnet: Bildung, Gesundheit, Kommunikation und Verwaltung; große Teile des Lebens an sich.
Die führenden Politikerinnen und Politiker interessieren sich vor allem für Projekte, die schöne Fotos für Pressemitteilungen hergeben; das tägliche Schicksal von "Durchschnittsmenschen" kann da kaum mithalten. Auch und gerade junge Menschen, die erst in unsere Gesellschaft hereinwachsen, oder unangepasste wie ich, können die heute alltäglich gewordene Doppelmoral kaum noch aushalten: Alles ist gut, wenn nur der äußere Schein gut ist.
Menschen, die ausgegrenzt sind oder sich auch nur so erfahren, werden aber anfällig für Radikalisierung. So haben wir dann im 21. Jahrhundert auch schon "Dschihadisten", die in unserem Land aufgewachsen sind, und ihr Leben für religiös verklärten Hass herzugeben bereit sind. Oder eben rechtsterroristischen Hass.
Wir definieren uns gesellschaftliche Probleme wie Arbeitslosigkeit, Armut, Gleichberechtigung, Integration oder Kriminalität so zurecht, wie es den regierenden Politikern gerade opportun erscheint. Ein Zeitzeuge aus der DDR sagte einmal: "Es war wie ein Theaterstück. Und alle spielten mit." Ich frage: In wie vielen Teilen unserer Gesellschaft ist es nicht längst auch so geworden? (Ich frage insbesondere meine Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft: Spielen wir nicht auch längst Theater, um dem von Wissenschaftspolitikern oktroyierten Wettbewerbsmodell zu huldigen?)
Männliche Täter - und Opfer
Warum werden solche Taten immer so gut wie immer nur von Männern begangen? Auch Männer werden nicht als Mörder oder Terroristen geboren. Und die allermeisten von ihnen sind friedlich. Dass Gewalt - und vor allem schwere bis schwerste Körperverletzungen - aber nicht nur auf der Täterseite, sondern auch bei den Opfern hauptsächlich ein Männerproblem ist, das ist ein blinder Fleck, den unsere Gesellschaft nicht wahrhaben will.
So wachsen aber Männer mit der Erfahrung auf, dass Gewalt eine Lösungsstrategie ist und sich doch keiner für sie interessiert, wenn sie Opfer werden. Also: Lieber Täter als Opfer sein, denn als Opfer existierst du nicht!
Es ist schon lange deutlich, dass Männer am häufigsten die Schule abbrechen oder herausfliegen. Interessiert das jemanden? Dass sie am häufigsten alkohol- und drogenabhängig sind. Interessiert das jemanden? Dass sie am häufigsten obdachlos sind. Interessiert das jemanden? Dass sie am häufigsten im Gefängnis sitzen. Interessiert das jemanden? Dass sie am häufigsten in Kriegen gefoltert werden oder sterben - und keine Staatsanwaltschaften ermitteln, denn es sind ja nur "Soldaten", "Rebellen" oder "Terroristen". Interessiert das jemanden?
Dass sie selbst in einem reichen Land wie Deutschland Jahre früher sterben als andere Geschlechtsgruppen. Interessiert das jemanden? Mann ergänze zu dem Faktor "männlich" noch Attribute wie "aus armen Verhältnissen", "aus einem bildungsfernen Elternhaus", "nicht-weiße Hautfarbe", "Moslem" oder vieles andere mehr und die Unterschiede werden noch krasser. Interessiert das jemanden?
Ich schrieb schon vor Jahren darüber, dass die typischen Opfer von Gewaltverbrechen junge Männer sind (Wer ist hier eigentlich das typische Opfer?) - und erntete dafür viel Häme oder den Vorwurf, ich wolle Gewalt gegen Frauen relativieren. Ja, so huldigt man den blinden Flecken - oder anders gesagt: den Vorurteilen - unserer Gesellschaft.
Schon ein entsprechender Kommentar auf die polizeiliche Kriminalstatistik in den Diskussionsforen unserer schönen Presse konnte zur Löschung führen mit dem Hinweis, ich möge doch auf stereotypisierende Bemerkungen verzichten. (Weil ich eben statistisch nachwies, dass die meisten Opfer von Gewaltverbrechen, vor allem den schweren und schwersten Taten unter ihnen, das sind: Männer.)
Prekäre Wissenschaften
Von den meisten Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftlern brauchen wir keine Hilfe zu erwarten. Die rennen im Hamsterrad, um die von oben bestimmten Zielvorgaben zu erfüllen: Das sind vor allem eingeworbene Forschungsmittel und Veröffentlichungen in Fachzeitschriften, die mit der wirklichen Welt nichts mehr zu tun haben.
Und man investiert, investiert und investiert in Technologie und Wirtschaftswissenschaften - denn das ist immerhin gut für die Wirtschaft. Für Investitionen in die Menschen und die Verbesserung der Lebensumstände, in denen sie leben, bleiben allenfalls Brotkrümel übrig.
Die prekären Folgen betreffen insbesondere die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, die sich gerade mit dem Menschen in einem reicheren Sinne und nicht nur als Produktivkraft oder Biomechanismus beschäftigen. Also gerade die Disziplinen, die erklären könnten, wieso jemand zum Täter oder gar zum Terroristen wird - oder die sich traditionell eher mit den Minderheiten und Randgruppen in der Gesellschaft beschäftigen -, wurden und werden selbst an den Rand gedrängt.
Den Kolleginnen und Kollegen aus meinem eigenen Fach, den Psychologen, geht es vielleicht noch etwas besser, weil sie immerhin in der klinischen Praxis verankert sind und für die Arbeitswelt Modelle liefern, mit denen sich "Humanressourcen" (damit sind wir gemeint: Sie und ich) optimieren lassen.
Aber die Mehrheit richtet ihr Fähnchen nach dem Wind, der aus den USA herüber bläst, und erzählt dann schöne Geschichtchen vom Menschen in den Medien oder peppigen TED-Talks. Dabei bräuchte man gerade ihre Expertise als Verbindungsglieder zwischen Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften auf der einen Seite und den Lebens- und Naturwissenschaften auf der anderen.