The Kids are back
Hotline erfindet das Internet neu
Bin ich wie das letzte Kid im Block, das seinen Hotline-Server bekommt und startet? Es sieht offenbar so aus. Seit ich mich 1988 das erste Mal in das Internet einloggte und auf die bereits belebten Chat-Räume, Bulletin Boards und Hackergruppen traf, war ich niemals wieder so fasziniert von der Schnelligkeit, in der eine Gemeinschaft zu einer ganzen Welt heranwachsen kann, ohne daß jemand in der alltäglichen Wirklichkeit dies jemals bemerken würde.
Ein Teenager aus Australien mit dem Namen Adam Hinckley sprach für dieses gedeihende Netzwerk aus Netzwerken das erforderliche "Es werde Licht!" aus, damit es wirklich wurde. Hinckley versuchte, ermüdet von der Weise, wie Web-Browser zum allgemeinen Standard für die Navigation im Internet, für das Austauschen von Dateien und sogar für Chats geworden sind, neue Werkzeuge zu schaffen, um die nicht mit dem Browsen zusammenhängenden Funktionen des Internet auszuführen. Und es stimmt, daß es neben dem Sich-Durchklicken durch Webseiten eine Menge da draußen zu tun gibt.
In den "guten, alten Tagen" holten wir uns und sandten uns Dateien mit dem Protokoll FTP zu, sprachen wir miteinander in Echtzeit mit dem Protokoll IRC und posteten wir Mitteilungen an die Newsgroups des NEWSNET. Dann kamen Mosaic, Netscape und das World Wide Web, die in Wirklichkeit nur eine Art der Navigation durch unterschiedliche Sites darstellen, auf denen Dateien abgespeichert sind, und die meisten der interaktiveren Funktionen des Internet schienen beiseitegedrängt zu sein. Die Funktionen, die wiederhergestellt wurden, rangieren heute an der Spitze des schwerfälligen und leistungsschwachen World Wide Web.
Hinkley schrieb eine Reihe von extrem leistungsstarken kleinen Programmen und band sie zu einem größeren Programm mit dem Namen Hotline zusammen, das weniger als 1 MB auf dem Festspeicher belegt. Mit dem einfachen Interface kann ich von Server zu Server springen, Dateien herunterladen, mich an Chats beteiligen, Mitteilungen an Diskussionsgruppen posten und Dateien anbieten, die ich andere geben möchte. Aber halt! Das ist nicht das Internet. Oder doch? Und wessen Server sind das überhaupt?
Das ist je nach Perspektive die Innovation oder die schreckliche Gefahr. Hotline läßt den mit dem Internet verbundenen Computer von jedem - von dir und mir und dem Kid einen Stock höher - zu einem voll funktionsfähigen Server werden. Wenn der Computer eingeschaltet ist und läuft, wird das einer - oder auch mehrere - der vielen "Tracker" feststellen und den Server für andere mit einer kurzen Beschreibung, was es dort gibt - Diskussionen, Software-Betaversionen, illegal reproduzierte Dateien von Musik-CDs, Pornographie ... - auflisten, damit andere ihn finden können. Das ist wirklich das gute, alte Internet.
Die jungen Menschen, die Hotline schaffen und gebrauchen, werden sozusagen nicht beaufsichtigt und entwickeln ein Universum von Dateien zum Austauschen, das Eltern oder Vorgesetzte schaudern lassen würde. (Passen Sie auf den Schwall von demnächst erscheinenden Artikeln darüber auf, wie man diesen illegalen Ring von gefährlichen Verbrechern zerschlagen muß.) Das ist ein Ort wie das Internet, bevor es zum Massenmedium wurde, an dem man fast alles - und das normalerweise kostenlos - finden kann.
Hotline ermöglicht es auch, die Server vor den Polizeibehörden oder einer unerwünschten Überprüfung zu schützen. Die Benutzer müssen zum richtigen Tracker gelangen, um einen Server zu finden, und manche dieser Tracker verlangen Passwörter oder Adressen, die man finden muß. Auf den Server zu kommen, auf den man will, kann genauso schwierig (und letztlich zufriedenstellend) sein, wie wenn man zu einer Untergrundparty durch die Adressen auf einem Flyer gelangt.
Wenn man sich jedoch einmal zurechtgefunden hat, wird man sich auf einige wenige Tracker genauso wie auf einige Programme verlassen, die ähnlich wie eine Suchmaschine arbeiten. Noch besser freilich ist, wenn man dort draußen Freunde findet, die nichts dagegen haben, einem alles zu zeigen. Das nämlich ist eine Voraussetzung, denn wenn man auf einem Server landet, dann taucht man im Computer eines wirklichen Menschen auf.
Im Unterschied zum übrigen Internet, in dem sich alle Benutzer in große instituionelle Computer mit Serverprogrammen einloggen, besteht das Hotline-Universum aus den Computern wirklicher Menschen. Man loggt sich auf den PC eines anderen Menschen ein, und dieser Mensch sieht einen dann dort. Man führt einen Chat mit dem Host oder anderen, die sich gemeinsam mit einem eingeloggt haben, sucht nach Dateien, die man gerne hätte, hinterläßt selbst eine Mitteilung oder eine Datei und verschwindet dann wieder.
Weil so viele der Besucher selbst ein Host sind, lernt jeder, wie er sich verhalten sollte. Es ist beispielsweise eine große Unverschämtheit, zur selben Zeit viele Dateien zu verlangen, weil das die Leistung des Computers beeinträchtigt. Doch gelegentliche Abstürze und vorübergehende Probleme sind ein Bestandteil des Vergnügens, und sie geschehen weit weniger häufig als im Web.
Es ist schön, sich ein paar Zips mit seiner Lieblingsmusik kostenlos zu holen, und es ist schön, so chatten zu können, daß man dabei nicht warten muß, bis sich wieder eine Werbung oben im Browserfenster hochgeladen hat.
Dennoch liegt das wirkliche Vergnügen an Hotline eine Ebene tiefer. Es ist die Lust, Teil eines Netzwerkes von Computern zu sein, das nicht von einem Unternehmen, einer Regierung oder einer Organisation kontrolliert wird, die Freiheit zu haben, alles ohne Furcht vor Zensur sagen oder austauschen zu können, und die eigene, einfach Technologie als eine Möglichkeit zu erfahren, sich auf dem Spielfeld der Medien zu bewegen.
Ja, das ist das Internet.
Copyright 1998 by Douglas Rushkoff
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Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer